C. Heß: The Medieval Archive of Antisemitism in Nineteenth-Century Sweden

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Title
The Medieval Archive of Antisemitism in Nineteenth-Century Sweden.


Author(s)
Heß, Cordelia
Series
Religious Minorities in the North (3)
Published
Berlin 2022: de Gruyter
Extent
VIII, 194 S.
Price
€ 84,95
Reviewed for H-Soz-Kult by
Hans-Joachim Hahn, Zentrum für Jüdische Studien, Universität Basel / Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft, RWTH Aachen

Die auf Englisch verfasste Monografie der Greifswalder Nordeuropahistorikerin Cordelia Heß ist das Ergebnis eines vom schwedischen Wissenschaftsrat (Vetenskapsrådet) geförderten Projekts unter dem Titel The Archives of Antisemitism in Scandinavia: Knowledge Production and Stereotyping in a Long-term Historical Perspective und erschien als dritter Band der von der Autorin mitbetreuten Reihe Religious Minorities in the North: History, Politics, and Culture. Untersuchungsgegenstand der Studie ist ein Korpus von Texten, die zwischen 1800 und 1900 in Schweden erschienen, überwiegend von nichtjüdischen Autor:innen verfasst wurden, zum Teil Übersetzungen aus anderen europäischen Ländern sind und Vorstellungen von Jüdinnen und Juden bzw. vom Judentum verbreiten. So wurden beispielsweise alleine während dieses Zeitraums an diversen Orten des Landes 26 Auflagen der mittelalterlichen Legende vom ‚wandernden Juden‘ Ahasver verlegt.

Die Studie geht von der Beobachtung aus, dass während des gesamten 19. Jahrhunderts mittelalterliche antijüdische Legenden in Schweden nicht nur weiterhin verständlich blieben, sondern ebenso weite Verbreitung fanden, wie sie leidenschaftlich diskutiert und manchmal zurückgewiesen wurden.1 In diesen Texten fänden sich religiöse Motive des Judenhasses wie der Vorwurf des Gottesmords oder Aspekte der christlichen Substitutionslehre, die auf der Vorstellung beruht, Gott habe das Volk Israel verworfen und gestraft, oder die Unterstellung von Blutrünstigkeit und eines schlechten Charakters. Zugleich aber enthielten diese Texte auch essenzialisierende und rassistische Vorstellungen, die den Juden eine abstoßende „jüdische Physiognomie“ sowie eine unveränderliche kollektive Identität zuschrieben. Solche mittelalterlichen Ideen, schreibt Heß in ihrer Einleitung, blieben ergänzend zu zeitgenössischen Vorstellungen über Juden und Judentum, die im Verhältnis zum Status der jüdischen Minderheit diskutiert und entwickelt wurden, Teil des „collective ‚knowledge‘ about Jews as an imagined collectivity“, wie sie in Anspielung auf Benedict Andersons einflussreiches Konzept von der Nation als einer „imagined community“ formuliert (S. 1). Zwei Fragen interessieren sie vor allem: Welche Bedeutung hat dies für die Entwicklung eines modernen Antisemitismus in Schweden? Und warum waren diese mittelalterlichen Texte so populär?

Der theoretische Zugriff der Studie kreist um das mehrdeutige Konzept des Archivs als eines Ortes dynamischer Wissensproduktion. Schon 1969 hatte der französische Diskurstheoretiker Michel Foucault in seiner Studie Archäologie des Wissens das Archiv als systematisches, analytisches Konzept eingeführt und eng mit gesellschaftlicher Wissensproduktion verbunden.2 Daran knüpft Heß in ihrer Studie an, wenn sie auf ihn, Jacques Derrida und die von den Arbeiten der beiden französischen Theoretiker beeinflussten Studien Aleida Assmanns hinweist, die alle die statische Auffassung vom Archiv als einem Ort, wo Wissen gespeichert werde, hin zu einem, wo es entstehe, verschoben hätten (S. 13). Dabei unterschlägt die Autorin keinesfalls, dass es im historischen Kontext schwierig sei, den Begriff „Archiv“ genau zu fassen, und schlägt selbst vor, ihn als Metapher zu begreifen, für „collective memory, knowledge, and the subconscious“ (S. 13f.). Wenn sie in ihrem Fazit zu der Einschätzung gelangt, der Archivbegriff sei „a relatively new and seldom-tested concept“ im weiten Feld der Forschungen zum kulturellen und kollektiven Gedächtnis (S. 147), vermag das allerdings etwas zu überraschen. Einleuchtend dagegen ist ihre Schlussfolgerung, das Konzept des Archivs sei „not been widely used to examine the dissemination and development of anti-Jewish notions in the North“ (S. 14). So oder so kann die Studie selbst als überzeugender Beleg für die Produktivität einer Anwendung des Archivbegriffs auf die Entstehung und Verbreitung antijüdischen Wissens gelten.

Um ihre Fragen beantworten zu können, skizziert Heß in ihrer Einleitung zunächst kurz die historische Situation jüdischer Ansiedlung in Schweden um 1800, die sich deutlich von der in anderen europäischen Ländern unterscheidet, um dann auf die „Grevesmöhlen-Boije-Stabeck-Påhlmann“-Kontroverse aus dem Jahr 1815 einzugehen. Erst seit 1782 war es Jüdinnen und Juden auf der Grundlage eines königlichen Erlasses, dem judereglemente, überhaupt erlaubt, sich in Schweden niederzulassen. Im Unterschied zu der Lage auf dem Kontinent waren diese Einwanderer relativ wohlhabend, sprachen Deutsch und führten gemeinsam Geschäftsunternehmen. Schon 1806 schränkte der schwedische König Gustav IV. Adolf die garantierten Freiheiten wieder ein, wobei sein Erlass, der sich gegen eine weitere jüdische Einwanderung richtete, mehrere Auflagen erlebte und eine entsprechende Verbreitung fand. Im Jahr des Wiener Kongresses wurden im Riksdag zwei Vorschläge eingebracht, die vorsahen, die Rechte von Jüdinnen und Juden noch weiter zu beschränken. Nachdem sich Vertreter:innen der jüdischen Minderheit in Reaktion darauf an einen Sonderausschuss („special committee“, S. 2) des Riksdags wandten, wurden alle für eine Einschränkung jüdischer Rechte votierenden Vorschläge abgelehnt. Das wiederum provozierte eine Anzahl heftiger Schmähreden gegen Juden im Allgemeinen und gegen Juden in Schweden im Besonderen.

Im engeren Kontext dieser Debatte, zu der der „author and agitator Carl Gustav Grevesmöhlen“ (S. 4) allein im selben Jahr 60 Texte beisteuerte, wurden mehr als 150 Beiträge veröffentlicht, was dieser Kontroverse einiges Gewicht verleiht. Während die ältere Forschung zu diesen judefejden des Jahres 1815, in deren Folge es zu keinen Gewaltausbrüchen kam (im Unterschied zu den sogenannten Hep-Hep-Unruhen in Preußen und einigen anderen deutschen Staaten vier Jahre später), die Akteure und Motive als isoliertes historisches Phänomen betrachtete, vollzieht Heß einen entscheidenden Blickwechsel, der sich auf die Frage richtet, woher die Akteure höchstwahrscheinlich ihre Argumente bezogen und wozu deren Leser:innen Zugang gehabt hätten. In den Printveröffentlichungen dieses Jahres hätte sich eine spezifisch schwedische Kombination von „religious, economic, cultural, and political arguments“ gezeigt, aus denen sich eine „distinctively racist and determinist form of Christian antisemitism“ (S. 2) entwickelt hätte. Und diese Beobachtung ist zentral, denn sie lässt erkennen, wie sich in einem spezifischen historischen Moment Elemente aus dem Archiv antijüdischer Wissensproduktion kontextuell aktualisieren und transformieren. Während vieles für die Annahme eines seit der Ausbreitung des Christentums und insbesondere während des Mittelalters entwickelten „‚ewige[n]‘ Ressentiment[s] gegen die Daseinsweise der Juden als Weltvolk“ spricht, wie von Gerd Koenen einmal formuliert3, transformiert sich dieser toxische Archivbestand jedoch zu unterschiedlichen Zeiten, in diversen Konstellationen und mit wechselnden Akteur:innen auf je eigene Weise.

In sechs Kapiteln und einem Fazit gelangt die Autorin zu einer Reihe interessanter Einsichten. Vor allem kann sie aufzeigen, dass das bis heute wirkmächtige und für das Selbstverständnis der jüdischen Minderheit wichtige, von Hugo Valentin (1888–1963), dem ersten und zugleich einflussreichsten Historiker der schwedischen jüdischen Geschichte entworfene Narrativ vom 19. Jahrhundert als einer Erfolgsgeschichte jüdischer Emanzipation, eine Analyse der Entwicklung des modernen schwedischen Antisemitismus verstellt. Denn im Lichte des von ihr untersuchten Textkorpus stößt sie eher auf Kontinuitäten denn auf Veränderung: „continuity of religious narratives and their popularity, continuity of certain legends, motifs, and figures, and continuity of literary traditions“ (S. 12). Fortdauernde, stabile Stereotype waren viel verbreiteter in Schweden als etwa Informationen über die tatsächliche jüdische Minderheit in Schweden oder den Nachbarländern. Die ausgezeichnete Studie umfasst zudem einen nützlichen Appendix, in dem sämtliche 156 Titel des ausgewerteten Textkorpus aufgelistet sind, und eine chronologische Auflistung aller Debatten über Jüdinnen und Juden im Schwedischen Parlament zwischen 1800 und 1900.

Anmerkungen:
1 Siehe dazu auch Olaf Gloeckner, Rezension zu: Busch, Michael: Juden in Schweden. 1685 bis 1838, Hannover 2020. In: H-Soz-Kult, 13.10.2021, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-97094 (25.11.2022).
2 Michel Foucault, Archäologie des Wissens, 4. Aufl., Frankfurt am Main 1990 (Übersetzung des französischen Originals von 1969 durch Ulrich Köppen).
3 Gerd Koenen, Mythen des 19., 20. und 21. Jahrhunderts, in: Christian Heilbronn / Doron Rabinovici / Natan Sznaider (Hrsg.), Neuer Antisemitismus? Fortsetzung einer globalen Debatte, Berlin 2019, S. 290–127, bes. S. 116.

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