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Titel
Marienthal. Das Dorf - Die Arbeitslosen - Die Studie


Autor(en)
Müller, Reinhard
Erschienen
Innsbruck u.a. 2008: StudienVerlag
Anzahl Seiten
423 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Surman, Universität Wien

„Marienthal ist ein kleines Fabrikdorf an der Fischa-Dagnitz im Steinfeld.“1 Mit diesen Worten begann die längst zum Klassiker avancierte, 1933 veröffentlichte soziologische Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ von Paul Lazarsfeld, Marie Jahoda und Hans Zeisl (später Zeisel). Mit erfindungsreichen sozialwissenschaftlich-empirischen Erhebungstechniken wurden darin die Auswirkungen der dauerhaften Massenarbeitslosigkeit auf die Bevölkerung eines kleinen Ortes untersucht, und die damit verbundenen psychischen Konsequenzen, wie die wachsende Apathie der Menschen, zum ersten Mal ausführlich wissenschaftlich beschrieben. Seither erreichte die kleine Arbeitersiedlung nahe Wien, in der Gemeinde Gramatneusiedl gelegen, internationale Berühmtheit. Doch beschränkte sich das Wissen um die alte Arbeiterkolonie bislang auf die „Arbeitslosen“ – andere Sichtweisen auf die Ortschaft bietet die Monographie Reinhard Müllers vom „Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich“, die mit der dazugehörigen Internet-Seite2 das umfassendste Kompendium zur Dorfgeschichte Marienthals sowie zur Studiengeschichte zu bieten versucht.3

Das Buch setzt sich aus zwei Teilen zusammen – in dem ersten (S. 18–237) wird der Leser in die Geschichte Marienthals bzw. Gramatneusiedls, von den Anfängen um 1120 bis zur heutigen Zeit eingeführt, wobei das Hauptaugenmerk auf Bevölkerung und Industrie gelegt wird. Ursprünglich ein unbedeutendes Dorf, erhielt Gramatneusiedl seine strategische Bedeutung durch seine Rolle als Vorposten Wiens und wurde daher durch politisch-militärische Entwicklungen, von den Türkenbelagerungen bis zum Zweiten Weltkrieg, geprägt. Die Entwicklung der Gemeinde steht aber in untrennbarem Zusammenhang mit der Entwicklung der Textilindustrie und der damit einhergehenden Arbeiterkolonie Marienthal ab den 1820er-Jahren. Nach wirtschaftlich erfolgreichen und weniger erfolgreichen Jahren, wurde die Fabrik 1930 fast zur Gänze stillgelegt, was zu Massenarbeitslosigkeit führte, die das Interesse der Forscher der „Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle“ auf sich zog. Die horizontale Perspektive der Marienthal-Studie geht aber einher mit zeitlichen Veränderungen, etwa der Entwicklung der sozialdemokratischen Bewegung in Gramatneusiedl, die das Leben der Gemeinde Anfang des 19. Jahrhunderts prägte. Somit bietet Reinhard Müller in diesem Teil eine historische Studie, die eine Ergänzung der soziologisch-psychologischen darstellt.

Verständlich geschrieben, mit zahlreichen Dokumenten und Bildern illustriert, bietet der dorfgeschichtliche Abschnitt nicht nur einen Überblick über jene Entwicklungen, die zur 1933 beschriebenen Situation geführt haben, sondern stellt durch die Weiterführung bis zum heutigen Tag auch eine anregende Dorf-Modernisierungsstudie dar, die eine Ergänzung der sozio-ökonomischen Studien zu Wien4 darstellt. Durch eine Verortung im politischen und sozialen Kontext Österreichs bzw. des Großraums Wien positioniert sich die Studie in dem bisher vernachlässigten Themenbereich der Gemeindegeschichte. Die Geschichte der Textilfabrik Marienthal und deren Inhabern (Familie Todesco, Mautner etc.) skizziert ein Bild wirtschaftlicher Eliten und deren Handlungsweisen. Zudem werden amtliche Statistiken angeführt sowie das soziale Leben der Marienthaler – etwa die Vereins- und Parteienlandschaft – beschrieben, was als Hintergrundwissen zum besseren Verständnis der Marienthal-Studie beiträgt. Eine detaillierte Behandlung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Arbeiterkolonie berichtigt und erweitert zudem die Informationen aus der Marienthal-Studie selbst – z.B. die Angaben zum Kaufmann Treer, dessen Geschäft, in der Studie als ein Kaufhaus beschrieben5, sich hier als Alkoholausschank „entpuppt“ (S. 100). Die chronologische Erzählweise macht für den nur an der Marienthal-Studie interessierten Leser die Lektüre des ganzen Buches unumgänglich. Die inkludierte Vorstudie von Ludwig Wagner6 (S. 156-162), der nur als Fragment erhaltene Bericht von Marie Jahoda (S. 173–176), die in der Arbeitersiedlung im Jahr 1934 ihren Freiwilligen Arbeitsdienst absolvierte, sowie Informationen zu Nachfolgestudien und -projekten – etwa Karin Brandauers Film „Einstweilen wird es Mittag“ – runden den Teil ab.

Der zweite, kürzere Teil (S. 259–347) behandelt die Studie selbst. Im Vordergrund stehen bisher unbekannte Informationen zu Projektteam und Durchführung. Angesprochen werden unter anderem die Fragen der Autorenschaft (S. 275f.) oder die bisher unterschätzte Rolle der Feldforscher wie Lotte Schenk-Danziger (S. 262). Die detaillierten Biographien von 15 Projektteilnehmern bieten zudem einen Einblick in die Situation der politisch links-orientierten Forscher in der Zwischenkriegszeit und im späteren Exil. Dieser Teil bietet zwar ergänzende Auskünfte zur Entstehung und Rezeption der Studie, aufgrund des Fehlens von Informationen zur Entwicklung der in der Marienthal-Studie im Vordergrund stehenden Erhebungstechniken, ist er aber eher als Ergänzung bisheriger Publikation und weniger als eigenständige analytische Arbeit zur Geschichte empirischer Sozialforschung zu betrachten.

Ergänzt werden beide Teile durch eine Auswahlbibliographie (auch mit Titeln in „exotischen“ Sprachen wie Koreanisch), deren beachtenswerte Vollversion die erwähnte Internet-Plattform bietet.

Die Monographie entbehrt analytischer Teile, die die Entstehung und die Ergebnisse der Marienthal-Studie wissenschaftsgeschichtlich kontextualisieren würden. Dem kulturgeschichtlich interessanten Teil zur Dorfgeschichte fehlt leider beinahe gänzlich ein Anmerkungsapparat, was die Nachverfolgung einzelner Fragestellungen, die künftige Forscher interessieren könnten, erschwert. Die Personalbiographien präsentieren sich zudem in kurzer Form, die in der Ausfertigung an einen Ausstellungskatalog erinnert. Die rhetorischen Qualitäten Reinhard Müllers und dessen akribische Genauigkeit der Datenerfassung machen das Buch dennoch zu einer anregenden und spannenden Lektüre, die sich nicht so sehr an Soziologiehistoriker, als vielmehr an ein breiteres Publikum richtet.

Anmerkungen:
1 Lazarsfeld, Paul; Jahoda, Marie; Zeisl, Hans, Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langdauernder Arbeitslosigkeit. Mit einem Anhang: Zur Geschichte der Soziographie. Bearbeitet und herausgegeben von der Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle, Leipzig 1933, S. 10.
2 Siehe: <http://agso.uni-graz.at/marienthal/index.htm>.
3 Unter anderen deutschsprachigen Studien zu diesem Thema siehe: Blaha, Peter (Hrsg.), Paul-Lazarsfeld-Gesellschaft für Sozialforschung: 60 Jahre nach Marienthal: Aufbruch in Osteuropa: Sozialforscher berichten, Wien 1992; Fleck, Christian, Rund um „Marienthal“. Von den Anfängen der Soziologie in Österreich bis zu ihrer Vertreibung, Wien 1990; sowie die Internet-Seite vom Psychologischen Institut der Universität Hannover <http://www.sozpsy.uni-hannover.de/marienthal/>. Zur weiteren Bibliographie im rezensierten Werk, vor allem S. 347–354.
4 Etwa Eder, Franz X. u.a., Wien im 20. Jahrhundert. Wirtschaft – Bevölkerung – Konsum, Innsbruck u.a. 2004.
5 Lazarsfeld; Jahoda; Zeisl, Die Arbeitslosen (wie Anm.1), S. 61.
6 Wagner, Ludwig, Ruhende Webstühle – feiernde Arbeiter. Eine Gemeinde, die von der Arbeitslosenunterstützung lebt, in: Das Kleine Blatt (Wien) 4/46 (1930), S. 4–5.; ders., Alle Räder, alle Spindeln stehen still. Ein Tag im arbeitslosen Gramatneusiedl. Die Einkaufstasche des Arbeitslosen, in: Das Kleine Blatt (Wien) 4/48 (1930), S. 5.

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