Martin Rohde untersucht ausgehend von der Ševšenko-Gesellschaft der Wissenschaften (Naukove Tovarystvo im. Ševšenka, NTŠ) ukrainische Wissensproduktionen in Österreich-Ungarn und dem Russländischen Reich. In seiner in überarbeiteter Fassung veröffentlichten Dissertation geht Rohde der Frage nach, „inwiefern soziale und kulturelle Räume eine nicht-dominante Wissenskultur in imperialen Kontexten und darauf aufbauend Forschungen und Kommunikationsstrategien prägten“ (S. 13). Zentrale Hypothese seiner mikroperspektivisch angelegten Untersuchung ist, dass die im NTŠ geprägte „nationale Wissenschaft“ im Kern eine frontier-Wissenschaft gewesen sei. Als frontier definiert der Verfasser den Verein umgebende Staaten und Bewegungen sowie deren transnationale Kontaktzonen. Ihre community sei dabei entscheidend an der Mitkonstruktion einer ukrainischen Nation beteiligt gewesen.
Das umfangreiche Buch ist nach der Einleitung in drei thematische und zugleich weitgehend chronologische Teile gegliedert. Das erste Kapitel, das die Hälfte des Textes einnimmt, betrachtet die Genese des Vereins und seine Agenda. Dessen wissenschaftlicher Ausrichtung war seit 1873 eine literarische Gesellschaft vorausgegangen, die ruthenische Literatur durch eine eigene Druckerei förderte. Ihre Mitgliedschaft rekrutierte sich in erster Linie aus der ruthenisch-ukrainischen Mittelschicht, vor allem den ukrainophilen narodovci. Die sog. Nova era der 1890er-Jahre, also die Kooperation der narodovci im galizischen Landtag mit polnischen Konservativen, leitete einen Umschwung in der NTŠ ein. Der Verein betrieb nun Wissenschaft in fachlichen Sektionen und veröffentlichte diese in eigenen Zeitschriften.
Mit Oleksandr Barvins´kyj wurde 1893 ein Vereinsreformer als Vorsitzender gewählt, dem es durch Loyalitätsbekenntnisse zum österreichischen Staat gelang, die Finanzierung durch Subventionen abzusichern und die Anzahl der Mitglieder fast zu verdreifachen. Hierdurch wurden international bekannte Wissenschaftler:innen und Angehörige der Kiewer ukrainischen Intelligenz Teil des Vereins. Der Inhaber des ersten ukrainischen Lehrstuhls an der Lemberger Universität, der Kiewer Geschichtsprofessor Mychajlo Hruševs´kyj, engagierte sich in der NTŠ und verantwortete die Zeitschrift Zapysky, die sich unter ihm zum „wissenschaftlichen Leitmedium“ in ukrainischer Sprache entwickelte (S. 87). Bereits 1897 wurde er Vorsitzender und leitete, trotz interner Opposition, weitere Reformen ein. Unter ihm bildete sich die – von Hruševs´kyj erstmals 1904 als Ukrajinoznavstvo umschriebene – Agenda einer „nationalen Wissenschaft“ heraus, in denen insbesondere den Geisteswissenschaften eine wichtige Aufgabe in der „ukrainebezogene[n] Wissensproduktion von Akteuren der russländischen Ukraine“ (S. 173) zukam.
Die NTŠ bildete, so Rohde, den Schnittpunkt einer Verflechtung von Wissenschaft, politischen Parteien und Studierenden: Die Gesellschaft vergab Stipendien, betrieb ein Akademičnyj dim, in dem ab 1906 Studierende beherbergt wurden und eröffnete 1907 ein Museum mit vereinseigenen Sammlungen. In den jeweiligen wissenschaftlichen Kommissionen konnten jedoch nur „wirkliche Mitglieder“, die von der historisch-philosophischen, philologischen oder mathematisch-naturwissenschaftlich-ärztlichen Sektion innerhalb des Vereins gewählt wurden, Forschung im Rahmen des Vereins betreiben. Zeitgenössisch wurde diese Mitgliedschaft mit der in einer Akademie der Wissenschaften verglichen. Allerdings blieben Mitglieder außerhalb Galiziens, aber auch Frauen, die die akademischen Exzellenzkriterien durch fehlende universitäre und gesellschaftliche Strukturen kaum erfüllen konnten, marginalisiert. Nachgewiesenermaßen beteiligte sich lediglich die Ärztin Sofija Moračevs´ka-Okunevs´ka als eine der wenigen Frauen innerhalb des Vereines an der lokalen Kommissionsarbeit.
Im zweiten Teil diskutiert der Verfasser die inhaltliche Arbeit des Vereins im Sinne der Genese nationaler Wissenschaften. Wie er zeigen kann, basierten die Forschungen zum „ethnologischen Territorium“ der ukrainischen Nation in Ethnographie, Anthropologie und Statistik auf transnationalen Kooperationen zwischen den Wissenschaftler:innen und lokalen Wissensträger:innen. Die vereinseigene Produktion von Bibliographien, Karten und Enzyklopädien versteht Rohde dementsprechend als gemeinschaftliche wissenschaftliche Synthesen. Besondere Aufmerksamkeit der „nationalen Wissenschaft“ erfuhren die Ostkarpaten. Die Sommeraufenthalte des Ethnologen Volodymyr Hnatjuk und seines Netzwerkes, so die These des Verfassers, trugen erheblich zur „Erfindung“ huzulischer Kultur bei. Das zwischen Galizien, der Bukowina und Ungarn geteilte „Huzulenland“ sei aufgrund der imperialen und nationalen Lage als frontier zu verstehen, die nationalisierende Wissenschaft demnach als frontier science.
Am Beispiel des Dorfes Kryvorivnja zeigt Rohde, wie sich Bewohner:innen und Besucher:innen im Zuge der Forschungen wechselseitig beeinflussten: So gründete etwa der Dramaturg Hnat Chotkevyč eine tourendes Huzulentheater und habe damit nicht nur lokale Traditionen begründet, sondern zugleich für eine „Theatralisierung des kulturellen Essentialismus“ gesorgt (S. 241). Der besondere Fokus Rohdes auf die Vernetzung seiner Akteur:innen führt allerdings bisweilen dazu, dass zwar deren Rezeption rassistischer Vorstellungen von „Menschenrassen“ in den zeitgenössischen Diskurs der physischen Anthropologie eingeordnet, aber die rassistischen Grundannahmen nicht explizit herausgestellt werden. Dies betrifft insbesondere die Ausführungen über den in Paris ansässigen Anthropologen Fedir Vovk, der mit seinem Team Galizien bereiste und dort Messungen insbesondere an Huzul:innen und Bojk:innen vornahm. Im Bestreben, die ukrainische Ethnologie und Anthropologie von Grund auf zu erneuern und eindeutige Zuordnungen ethnisch-sprachlich definierter Gruppen zu anthropologischen Typen vorzunehmen, wollte er einen ukrainischen „Ur-Typ“ der „dinarischen Rasse“ in Abgrenzung zu polnischen und russischen „Typen“ legitimieren. Rohde macht am Beispiel Vovks deutlich, dass dieser durch seine Position als transimperial anerkannter Wissenschaftler die Vereinsarbeit und ihre Agenda in der westlichen wissenschaftlichen Debatte legitimierte und diese Forschung die Idee des „ur-ukrainischen“ Territoriums der Karpaten stützte.
Einen weiteren Schwerpunkt setzt Rohde bei der Betrachtung der statistischen Kommission der NTŠ, die in Antizipation der Volkszählung 1910 vier Jahre zuvor gegründet wurde und als „kommunikative, organisatorische und wissenschaftlich-ideologische Schnittstelle“ (S. 294) partielle nicht-staatliche Zählungen durchführte, da sie den offiziellen, meist polnischen Zählkommissaren misstraute. Die national indifferenten Einwohner:innen, latynnky genannt, wurden laut Rohde erst durch diesen „statistischen Blickwinkel“ als Gruppe für die ukrainische Nationalbewegung konstruiert (S. 305). Das in Galizien durch die NTŠ produzierte und zirkulierte Wissen, etwa Erkenntnisse der statistischen und ethnographischen Kommissionen, wurde in kartographischer oder bibliographischer Form transimperial gebunden und visualisiert. Der von Rohde als „Nachwuchsgeograph“ betitelte Stepan Rudnyc’kyj avancierte durch das Synthetisieren von im Verein gewonnenen Forschungen zum „Nationalgeographen“ und hatte großen Anteil an der Formulierung territorialer Konzepte.
Der dritte Teil ist dem Aktionismus der NTŠ-Mitglieder im Weltkrieg gewidmet. Die „nationale Wissenschaft“ verlagerte sich nun nach Wien, wo Männer wie Rudnyc´kyj und Tomašivs´kyj wissenschaftliche Erkenntnisse für „politisch-territoriale Wünsche und Ambitionen“ um einen ukrainischen Nationalstaat nutzbar machten und enge Verbindungen zu politischen Vertretungen hielten. Die aus der Arbeit im NTŠ-Umfeld gewonnenen Synthesen wie Rudnyc‘kyjs „Ukraina und die Ukraine“ zirkulierten erfolgreich im deutschsprachigen Raum und erfuhren so Aufmerksamkeit. Nach dem Krieg konnte die NTŠ im nun polnischen Lwów nicht mehr zu ihrer früheren Funktion als nationales Wissenszentrum zurückkehren. Obwohl keine ukrainischen Lehrstühle in Lwów etabliert wurden, blieb die Stadt aber weiterhin ein wichtiger Ort für den regionalen Wissenschaftsaustausch.
Im Sinne einer kritischen Wissenschaftsgeschichte, so resümiert der Verfasser, zeige die NTŠ keine klassische Nationalgeschichte auf. Eine sich „nationalisierende Gruppe von Wissenschaftlern“ habe vielmehr in zahlreichen Räumen und Netzwerken agiert. Parallel zum wissenschaftlichen Professionalisierungsprozess schrieb der Verein das Grundverständnis eines ukrainischen Territoriums, dessen Raum deckungsgleich mit den ukrainischen Siedlungsgrenzen wurde, in die nationale Wissenskultur ein und beteiligte sich damit aktiv an der Anerkennung der Ukrainer:innen im imperialen Gefüge.
Mit seiner minutiös geschriebenen Mikrostudie der Ševšenko-Gesellschaft hat Martin Rohde weit mehr als Grundlagenforschung zu diesem Verein vorgelegt. Indem er am Beispiel der NTŠ transnationalen Wissenschaftsnetzwerken nachgeht und die Zirkulation von Wissen vor allem im Habsburgerreich und Zarenreich aufzeigt, schreibt er die ukrainische Wissenschaftsgeschichte erstmals stringent in die europäische ein. Dies gelingt Rohde, indem er akribisch die Vereinsunterlagen zur NTŠ auswertet. Zwar wirkt seine sehr dichte Beschreibung des Vereinsgeschehens trotz der klaren Gliederung stellenweise etwas unübersichtlich. Dennoch zeichnet er gewinnbringend das Bild eines heterogenen Vereins auf, der inmitten von Kontroversen, Animositäten und Konkurrenzen weitreichende wissenschaftliche Erkenntnisse hervorbrachte. Im Sinne einer kritischen Wissenschaftsgeschichte stellt Rohde nicht einzelne Koryphäen in den Vordergrund, sondern differenziert ihre Forschungsleistung im Kontext eines transimperialen Netzwerkes, in dem der NTŠ einen Knotenpunkt darstellte. Das Buch ist somit empfehlenswert für diejenigen, die sich für europäische Vereinsgeschichte, die Genese ukrainischer Wissenschaften aber auch allgemeiner für transnationale Formen der Wissenszirkulation interessieren.