F. Janzen: Flucht und Vertreibung im literarischen Diskurs der BRD

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Titel
Flucht und Vertreibung im literarischen Diskurs der BRD. Rhetoriken der Opferkonstruktion


Autor(en)
Janzen, Frauke
Reihe
Formen der Erinnerung (73)
Erschienen
Göttingen 2021: V&R unipress
Anzahl Seiten
345 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Friederike Eigler, Department of German, Georgetown University, Washington, D.C.

Literarische Auseinandersetzungen mit „Flucht und Vertreibung“, d.h. mit den traumatischen Erfahrungen von Millionen geflüchteter oder vertriebener Deutscher, setzten kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein und wurden in den späteren Jahrzehnten fortgeführt. Dazu gehören Romane von Autor:innen der ersten Generation (Ruth Hoffmann, Günter Grass, Siegfried Lenz, Horst Bienek, Ilse Tielsch, Arno Surminski u.a.), aber auch der zweiten und dritten Generation (Reinhard Jirgl, Tanja Dückers, Sabrina Janesch, Ulrike Draesner u.a.). Vor diesem Hintergrund überrascht es, dass eine umfassende literaturwissenschaftliche Forschung erst in den 1990er-Jahren begann. Das komplexe Verhältnis von Täter- und Opferdiskursen hinsichtlich der Erinnerung an den Nationalsozialismus und seine Folgen hat maßgeblich zu dieser Verzögerung beigetragen; die Forschungsgeschichte ist damit auch als Symptom der stark politisierten Diskursgeschichte von „Flucht und Vertreibung“ zu sehen.1

Louis Ferdinand Helbig (1988/96) und Axel Dornemann (2005) leisteten wichtige Grundlagenarbeit, indem sie die große Anzahl relevanter Texte zusammengetragen und vorgestellt haben.2 Neben zahlreichen Einzelanalysen zu ausgewählten Texten und Regionen sind die ersten Monographien, die sich umfassend mit literarischen Repräsentationen von Flucht und Vertreibung befassen, im anglo-amerikanischen Raum erschienen und auch dort in erster Linie rezipiert worden.3 Mit Frauke Janzens Buch Flucht und Vertreibung im literarischen Diskurs der BRD, das auf ihrer Freiburger Dissertation basiert, liegt nun eine weitreichende Studie auch im deutschsprachigen Kontext vor. Von den insgesamt neun Kapiteln befassen sich fünf mit Romanen der letzten 75 Jahre. Dieser Hauptteil des Buches wird in drei kürzeren Kapiteln mit theoretischen und methodologischen Überlegungen eingeführt; eine „Schlussbetrachtung“ fasst die Ergebnisse konzise zusammen und umreißt einige Forschungsdesiderata. Indem Janzen die vielfältigen Verbindungen zwischen literarischen und außerliterarischen Diskursen untersucht, gelingt es ihr, ein differenziertes Bild von den Veränderungen und dem Zusammenspiel solcher Diskurse seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu zeichnen. Dabei unterstreicht die Autorin die prominente Rolle fiktionaler Bearbeitungen dieser historischen Thematik, insbesondere seit der deutschen Einheit und der Wende zum 21. Jahrhundert.

Zu den innovativen Aspekten von Janzens Forschungsbeitrag gehört ihr an Foucault orientierter diskursanalytischer Ansatz (S. 34f.). Im Gegensatz zu einer textimmanenten motivgeschichtlichen Analyse geht es um die Untersuchung von Topoi und rhetorischen Mustern (z.B. des Verlusts, der Ungerechtigkeit und der Sprachlosigkeit) quer durch unterschiedliche Diskurse zu Flucht und Vertreibung. Angesichts des großen Zeitrahmens von mehr als sieben Jahrzehnten ist die Berücksichtigung außerliterarischer Diskurse allerdings nur selektiv möglich: Janzen behandelt Aspekte der Publizistik, der Politik und der audiovisuellen Medien, wobei die Auswahlkriterien nicht immer deutlich werden. Über den diskursanalytischen Ansatz erhalte man Einblick in Identitäts- und Vergangenheitskonstruktionen; eine Vorgabe der Autorin, die stark von der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung geprägt ist (S. 40) und zudem gut in die Buchreihe „Formen der Erinnerung“ passt. Die synchrone Perspektive, die unterschiedliche Diskurse zu einem bestimmten Zeitpunkt betrachtet, wird durch eine diachrone Perspektive ergänzt: Janzen bestimmt aufgrund des sich verändernden Verhältnisses von literarischen und außerliterarischen Diskursen zu Flucht und Vertreibung fünf Zeitphasen, die jeweils durch bestimmte „diskursive Ereignisse“ markiert seien.

Dieser Ansatz ist insofern innovativ, als er über die in den Literaturwissenschaften verbreitete zeithistorische Kontextualisierung von literarischen Texten hinausgeht und dem fiktionalen Diskurs zudem weitgehende Wirkungsmöglichkeiten einräumt. Dennoch erscheinen mir die von Janzen identifizierten „diskursiven Ereignisse“ nicht in jedem Fall plausibel. Zu diesen zählt sie die Publikation der Blechtrommel (1959), die Ostverträge (ab 1970), „Wende und Wiedervereinigung“ (1989/90) sowie die Debatte um die Novelle Im Krebsgang (2001). Auch wenn man die gesellschaftliche Wirkung literarischer Phänomene als „diskursive Ereignisse“ ernstnimmt, stellt sich die Frage, ob einzelne belletristische Werke – hier gleich zwei von Günter Grass – in ihrer Bedeutung tatsächlich vergleichbar sind mit weitreichenden zeitgeschichtlichen Ereignissen wie den Ostverträgen oder dem Systemwechsel in der DDR.

Dennoch gelingt Janzen mit ihrem Zugang eine insgesamt plausible Periodisierung, die eine differenzierte Analyse diskursiver Verschiebungen und jeweils dominanter „diskursiver Topoi“ ermöglicht. Hier können die von ihr herausgearbeiteten Phasen und diskursiven Relationen nur knapp skizziert werden (vgl. dazu die Tabelle, S. 315): Die durch Opfer-Topoi wie Ungerechtigkeit, Schicksal und Verlust gekennzeichnete früheste Phase literarischer Produktionen (1945–1958) bezeichnet Janzen als „Gegendiskurs“ zu politischen Leitdiskursen, die eine erfolgreiche gesellschaftliche Integration der Vertriebenen propagierten. In der Phase, die mit der Publikation der Blechtrommel einsetzt (1959–1968), identifiziert Janzen konträre literarische Entwicklungen, die neben der Fortführung der Opfertopoi auch den kritischen Blick auf die Täter einschlossen und damit insgesamt die Deutungsvielfalt der außerliterarischen Diskurse spiegelten, besonders in Publizistik und Politik. Die dritte Phase (1969–1989/90) sieht sie durch ein „integratives Diskursverhalten“ gekennzeichnet, d.h. durch eine Wechselwirkung zwischen literarischen und außerliterarischen Diskursen zur NS-Vergangenheit insgesamt, in die die Auseinandersetzung mit Flucht und Vertreibung nun zunehmend integriert wurde; dennoch greifen idealisierte Darstellungen der verlorenen Heimat weiter auf die in der ersten Phase etablierten Topoi zurück. Die vierte Phase (1989/90–2001) und verstärkt die fünfte (seit 2002) zeichnen sich durch eine zunehmende Verschränkung literarischer und außerliterarischer Diskurse aus, wobei die Literatur in Hinblick auf den sogenannten „neuen deutschen Opferdiskurs“, ausgelöst durch die Medienreaktionen auf Im Krebsgang, zum ersten Mal die Rolle eines Leitdiskurses übernommen habe. Zugleich macht Janzen deutlich, dass dieser jüngere Opferdiskurs nicht isoliert zu sehen ist, sondern sich gerade durch die „Zusammenführung von Opfer- und Tätererinnerungen“ auszeichnet (S. 311), wobei Autor:innen der zweiten und dritten Generation auch die transgenerationellen Auswirkungen traumatischer Erfahrungen thematisieren.

Janzens Periodisierung ist insgesamt gewinnbringend, wäre aber noch überzeugender, wenn sie sich konstruktiver auf die relevante Forschung beziehen würde. Unnötig kritisch geht die Autorin etwa mit Bergers Studie um – in vieler Hinsicht ein zentraler Vorläufer zu dem hier besprochenen Buch, auch wenn Bergers Periodisierungsversuche weniger differenziert ausfallen (S. 33-36). Zudem wäre eine umfassendere Berücksichtigung der angloamerikanischen Forschung wünschenswert gewesen, bei der die Sprachbarriere weniger relevant ist als etwa bei polnischsprachigen Publikationen.

Janzen verknüpft einen Überblick zur Literatur der jeweiligen Zeitphase mit der eingehenden Analyse von insgesamt fünf Romanen: Für die erste Nachkriegsphase untersucht sie Ruth Hoffmanns Buch Die schlesische Barmherzigkeit (1950), eine überraschende Textauswahl, denn neben dem Fokus auf Verlust und Opferfiguren steht in diesem Roman die frühe und wenig repräsentative Thematisierung von Täterschaft und Holocaust. Die unterschiedlichen literarischen Entwicklungen der 1960er-Jahre werden durch die Analyse zweier Werke verdeutlicht: Kurt Ihlenfelds Gregors vergebliche Reise (1962) und Utta Danellas Unterhaltungsroman Der Maulbeerbaum (1964). Arno Surminskis vielgelesener Roman Jokehnen oder Wie lange fährt man von Ostpreußen nach Deutschland? (1974) repräsentiert die „integrative Phase“ der 1970er- und 1980er-Jahre, die sich durch eine Fülle von literarischen Publikationen und eine breite Rezeption auszeichnet. „Integrativ“ bezieht sich in Janzens Definition lediglich auf das Nebeneinander von Täter- und Opfergeschichten, und nur in Einzelfällen auf eine kritische Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte (wie etwa bei Lenz oder Bienek). Die „Übergangsphase“ der 1990er-Jahre kommt ohne exemplarische Textanalyse aus; und für die letzte Phase steht die Novelle Im Krebsgang von Grass (2002). Insgesamt überzeugt der Fokus auf populäre diskursive Topoi und Identifikationsangebote bei gleichzeitiger Berücksichtigung genuin literarischer Möglichkeiten.

Der diskursanalytische Ansatz erweist sich auch als produktiv, wenn Janzen auf die mit erstaunlicher Regelmäßigkeit wiederkehrende Rede von einem „Tabu“ hinsichtlich der Repräsentationen von Flucht und Vertreibung verweist und fragt, weshalb sich diese nicht auf Tatsachen beruhende Vorstellung als so anschlussfähig erwiesen hat. Die Autorin argumentiert dabei überzeugend, dass die von den Medien in Reaktion auf das Buch Im Krebsgang forcierte Rede von einem „Tabubruch“ deswegen so breit aufgenommen wurde, weil sich im Jahrzehnt seit der deutschen Einheit „eine erinnerungspolitisch interessierte Öffentlichkeit“ herausgebildet habe (S. 261). Der Topos vom „Tabubruch“ wäre demnach ein Indiz für das neu erwachte breite Interesse an dieser historischen Thematik, bezieht sich also nicht auf die Produktion, sondern auf die Rezeption von Literatur.

Insgesamt handelt es sich bei Frauke Janzens Studie um einen wichtigen Forschungsbeitrag, der eine differenzierte Periodisierung der Diskursgeschichte von Flucht und Vertreibung mit besonderer Berücksichtigung literarischer Diskurse vorlegt, wobei transnationale Bezüge oder die Relevanz aktueller Fluchtgeschichten nur am Rande erwähnt werden. Deutlich wird aber, dass die Literatur zur Flucht und Vertreibung der Jahre um 1945 im größeren Kontext der Diskurse zum kommunikativen und kulturellen Gedächtnis von Krieg und Nachkrieg gesehen werden muss.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu genauer Friederike Eigler, Heimat, Space, Narrative. Toward a Transnational Approach to Flight and Expulsion, Rochester 2014, S. 51–59.
2 Louis Ferdinand Helbig, Der ungeheure Verlust. Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Belletristik der Nachkriegszeit, Wiesbaden 1988, revidierte und erweiterte Aufl. Wiesbaden 1996; Axel Dornemann, Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in Prosaliteratur und Erlebnisbericht seit 1945. Eine annotierte Bibliographie, Stuttgart 2005.
3 Im Jahre 2014 erschienen die folgenden drei Monographien: Karina Berger, Heimat, Loss and Identity. Flight and Expulsion in German Literature from the 1950s to the Present, Oxford 2014; Bill Niven, Representations of Flight and Expulsion in East German Prose Works, Rochester 2014; Eigler, Heimat, Space, Narrative. Vgl. auch die deutschsprachigen Beiträge von Berger und Niven im Sammelband von Stephan Scholz / Maren Röger / Bill Niven (Hrsg.), Die Erinnerung an Flucht und Vertreibung. Ein Handbuch der Medien und Praktiken, Paderborn 2015; sowie Friederike Eigler, Flucht und Vertreibung in der Gegenwartsliteratur: Methodologische Überlegungen zum Heimat- und Raumbegriff, in: Carme Bescansa / Ilse Nagelschmidt (Hrsg.), Heimat als Chance und Herausforderung. Repräsentationen der verlorenen Heimat, Berlin 2014, S. 21–49.