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Titel
Melioration und Migration. Wasser und Gesellschaft in Mittel- und Ostmitteleuropa vom 17. bis Mitte des 19. Jahrhunderts


Herausgeber
Fata, Márta
Reihe
Schriftenreihe des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde
Erschienen
Stuttgart 2022: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
346 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Timm Schönfelder, Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa, Leipzig

Der Zusammenhang von Siedlungsbewegungen und Ressourcennutzung in vorindustrieller Zeit ist noch immer ein Desideratum der Umweltgeschichte. Dabei hat sich der Fokus auf Gewässer in den letzten Jahren als äußerst fruchtbar erwiesen.1 Folgerichtig nimmt der vorliegende Sammelband die Auswirkungen der vielgestalten agrarischen Maßnahmen zur Verbesserung der Bodenqualität auf Migrationsbewegungen in den Blick, die gemeinhin unter dem Begriff „Melioration“ subsumiert werden. Noch im 19. Jahrhundert wurden darunter, so argumentiert die Herausgeberin Márta Fata in ihrem Vorwort, vor allem hydrotechnische Eingriffe in die Natur wie Bewässerung, Entwässerung, Flusskorrektur und Hochwasserschutz verstanden. Erst im 20. Jahrhundert erweiterte sich die Bedeutung von Melioration, die sich als Folge einer intensivierten Kultivierung und Industrialisierung der Landwirtschaft nun auch mit solchen Degradationsphänomenen wie Erosion, Versauerung und Versalzung der Böden beschäftigte. Jüngst wurde zudem den negativen Effekten stetiger Ertragssteigerung größere Beachtung geschenkt, besonders in Fragen nachhaltigen Wirtschaftens, was zu engagierten, oft konfliktträchtigen Diskussionen um Wasserschutz, Feldhygiene und Renaturierung führte. Dahinter standen und stehen nicht zuletzt Streitigkeiten um Nutzungsrechte sowie den Einsatz von Technik und Arbeitskraft, wie sie bereits in vorindustriellen Gesellschaften belegt sind.

Die Suche nach Ackerland und die Konkurrenz um Boden als zentrale Ressource führten in Europa zu mehreren Migrationswellen von West nach Ost, wie es sich bereits im sogenannten Landesausbau seit dem Mittelalter zeigte. Dahinter stand ein starkes Bevölkerungswachstum in West- und Mitteleuropa; Umweltphänomene wie Extremwetterereignisse waren dafür, so Fata, nur selten ausschlaggebend. Schließlich knüpft sich hieran auch der modernere Begriff einer „Kolonisierung“ (bzw. Kolonialisierung, Kolonisation) von Natur im Sinne umfassender Kultivierungsmaßnahmen zuvor unerschlossener Gebiete mit dem Ziel, Ressourcen urbar zu machen bzw. auszubeuten.2 So wurden natürliche Systeme in „gesellschaftliche Kolonien“ transformiert (S. 16). Nicht-intendierte Nebenfolgen wurden dabei oft stillschweigend in Kauf genommen, denn: „Dadurch, dass die jeweilige Gesellschaft nie völlig versteht, in was für ein System sie eingreift, löst sie eine Risikospirale aus, mit der sich nachfolgende Generationen konfrontiert sehen“ (S. 21). In zwölf Kapiteln wird sodann dieser Komplex aus Melioration und Migration sowohl mit Blick auf die deutschen Territorial- und Flächenstaaten als auch auf die östliche Habsburgermonarchie verhandelt.

Alwin Hanschmidt betrachtet die Moorkolonisation im heute niedersächsischen Emsland von der Mitte des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts unter den Aspekten „Grenzsicherung – Torfabbau – Landgewinnung“ (S. 27–52). Vor allem der erste Gesichtspunkt barg Potential für Konflikte, da die Moornutzung weithin auf Gewohnheitsrechten beruhte und Eigentum nicht formell geregelt war. Aufgrund niedriger Wirtschaftlichkeit waren saisonale Arbeitsmigration wie der „Hollandgang“ und Auswanderung vor allem nach Amerika im 19. Jahrhundert weit verbreitete Phänomene. In Uwe Folwarcznys Beitrag war „[d]ie hohenzollernsche Kolonisation und Melioration in der Mark Brandenburg von den Anfängen bis 1740“ (S. 53–70) am Netzebruch hingegen von Siedlern aus Westpreußen getragen, die sich auf „holländische“ Erschließungspraktiken der Agrargebiete stützten, wie sie besonders von den fachkundigen mennonitischen Kolonisten geprägt waren. Dazu zählten neben einem starken Fokus auf Weidewirtschaft zur Milch- und Fleischproduktion auch die gleichberechtigte Gemeinschaft von Siedlern mit abgegrenzten eigenen Grundstücken ohne Allmende sowie eine bedingt selbstorganisierte Gerichtsbarkeit. Trotz fehlenden systematischen Vorgaben seitens der brandenburgischen Kurfürsten und preußischen Könige sicherte eine andauernde lokale Spezialisierung und eine erfolgreiche Selbstorganisation das Bestehen der Siedlungen.

Wenngleich Heinrich Kaak mit Blick auf den Oder- und Warthebruch seine Frage „Wer kam besser ins 19. Jahrhundert?“ (S. 71–96) nicht abschließend beantwortet (Kolonisten gerieten offenbar gegenüber den Alteingesessenen aufgrund mangelnder technischer wie legislativer Innovationskraft in der Überwindung des Feudalismus erst ins Hintertreffen, bevor beide Gruppen nivelliert wurden), so umreißt er die komplexen Hintergründe der neuzeitlichen Migrationsbewegungen samt ihren vielfältigen agrarischen Implikationen. Diese Entwicklungen werden im Beitrag von Eberhard Fritz anhand des württembergischen Wilhelmsdorf als „Kolonie im Moor“ (S. 97–108) kontrastiert, wo sich Pietismus und fortschrittliche Agrarpolitik so trafen, dass es als Mustersiedlung stilisiert werden konnte.

Die wichtigsten Denkanstöße liefert Martin Schmids Beitrag zur „Kolonisierung der Natur: ein interdisziplinäres Konzept und seine Erprobung in der Umweltgeschichte der Donau“ (S. 109–132). Dabei betont er gleich zu Anfang die Reziprozität des Kolonisierungsbegriffes von Gesellschaften und natürlichen Systemen; sprich: in der Veränderung seiner Umwelt verändert der Mensch sich selbst. „Sozionaturale Hybride“, wie sie als Kultivierungsprojekte etwa durch die Trockenlegung des bayerischen Donaumooses entstanden, schufen Pfadabhängigkeiten. Technische Hybris, unklare Eigentumsverhältnisse, Konflikte um Migration und Ansiedlung sowie falsche Bewirtschaftung verzahnten sich zu einem sozialen wie ökologischen Desaster. Die dauerhaft umgestaltete Landschaft war, so Schmid, höchst vulnerabel geworden. Weitere Reflexion suchte sodann Fehler zu korrigieren und neue Perspektiven nachhaltiger Nutzung zu schaffen. Für ihre Protagonisten eröffneten solche Kolonisierungsbemühungen allerdings unergründliche Risikospiralen, bei der scheinbare Lösungen stets neue Probleme generierten.

Mit dem Perspektivwechsel auf die Gebiete jenseits des Flusses Leitha wird das im heutigen Rumänien, Serbien und Ungarn gelegene Temeswarer Banat gleich im Doppelpack nach enzyklopädischer Manier behandelt: Während Josef Wolf zur Ergründung einer Imagination als „Land unter Wasser“ (S. 135–177) Landkarten in Worte fasst, konkretisiert die Herausgeberin „Meliorationen im Temeswarer Banat im Kontext der Kolonisierung der Natur und Ökonomisierung der Gesellschaft“ (S. 179–226). So zeigt Fata, dass der „österreichisch[e] Staatskameralismus“ die Landerschließungsmaßnahmen nicht nur als segensreich für die Natur erachtete, sondern ebenso für die eigene Bevölkerung in Form einer engagierten Zivilisierungsmission vorgeblich rückständiger Gebiete. Karl-Peter Krauss weist ähnliche Bemühungen anhand von „Ansiedlung, Überschwemmung und Krisenmanagement in der Batschka im 18. Jahrhundert“ (S. 227–248) nach. An den „vergessene[n] Morast von Ofen“ (S. 249–261), eine der Vorgängerstädte Budapests, wird von Eleonóra Géra erinnert. „Die Rolle der Grundherrschaften bei der Melioration in Südtransdanubien“ beleuchtet schließlich Zoltán Kaposi (S. 263–286).

Bevor Endre Hárs „[v]om Nutzen literarischer Fluss- und Sumpflandschaften“ (S. 305–323) im Œuvre des populären ungarischen Schriftstellers Mór Jókais (1825–1904) berichtet, spannt Martin Knoll noch einmal den Bogen von einer imaginierten, göttlichen creatio ex nihilo zum Ingenieur als „Schöpfer im Kleinen“. „Prekäre Schauplätze“ suchte dieser als Protagonist hydraulischer Gesellschaften umzugestalten (S. 289–304). Dass solche zuvor meist extensiv bewirtschafteten Orte im aufklärerischen Diskurs zu Unrecht als „Wildnis“ und „Öde“ diskreditiert wurden, trug zu einer „radikalen Dichotomisierung“ von Natur und Gesellschaft bei, die bis heute unseren Blick auf sozionaturale Schauplätze verstellt. Zur Korrektur dieser Sichtweise leistet der Sammelband einen nicht unerheblichen Beitrag. Zahlreiche Abbildungen und ein wohlgeordnetes Register runden die Darstellung ab.

Anmerkungen:
1 Siehe u.a. Laurence C. Smith, Rivers of Power. How a Natural Force Raised Kingdoms, Destroyed Civilizations, and Shapes Our World, New York 2020; Martin Knoll / Uwe Lübken / Dieter Schott (Hrsg.), Rivers Lost. Rivers Regained. Rethinking City-River Relations, Pittsburgh 2017; Julia Obertreis / Timothy Moss / Peter P. Mollinga / Christine Bichsel, Water, Infrastructure and Political Rule. Introduction to the Special Issue, in: Water Alternatives 2 (2016), S. 168–181; Terje Tvedt, Wasser. Eine Reise in die Zukunft, Berlin 2013; Steven Solomon, Water. The Epic Struggle for Wealth, Power, and Civilization, New York 2010; Marq de Villiers, Water. The Fate of our Most Precious Resource, New York 2000.
2 Fata trennt die drei Begriffe Kolonialisierung, Kolonisation und Kolonisierung, indem sie erstem die Bedeutung der Unterwerfung und Ausbeutung fremder Gesellschaften zuschreibt, zweiten als Vorläufer der Melioration und Parzellierung interpretiert, und letzten schließlich in den Kontext asymmetrischer Herrschaftspraxis stellt.

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