Was sind die historischen Gründe für die jahrhundertelange Formstabilität des Kulturguts Buch? Welche Funktionen soll und kann das Buch für Wissenschaft, Kultur, die öffentliche Meinungsbildung im 21. Jahrhundert haben? Wie unterscheidet es sich von anderen digitalen Inhalten, die im Netz auf Plattformen oder in den Social Media erscheinen? Diesen und weiteren Fragen widmet sich Janneke Adema, Associate Professor in Digital Media am Centre for Postdigital Cultures der englischen Coventry University, in ihrem vorliegenden Buch. Betitelt hat sie es genauso schwungvoll wie programmatisch mit „Living Books“, eingeschränkt durch den Untertitel „Experiments in the Posthumanities“, über den die Autorin das Feld absteckt und zugleich grob ihre akademische Stoßrichtung festlegt.
Adema ist zweifellos eine Expertin für dieses Gebiet. In ihrer langjährigen Forschung hat sie sich mit dem Zusammenhang von Digitalität, Veröffentlichen und Öffentlichkeit auseinandergesetzt – insbesondere mit neuen Formen des (akademischen) Publizierens, mit Open-Access-Geschäftsmodellen für Verlage wie für wissenschaftsgeleitete Gemeinschaften, mit der Fluidität digitaler Objekte, mit den daraus resultierenden Problemen für Urheberrecht und Autorschaft sowie mit dem, was man als theoretischen Überbau der akademischen Publikationskultur bezeichnen könnte. In „Living Books“ kommen diese Forschungsschwerpunkte in Buchlänge zusammen.
Erfrischend ist dabei vor allem die Art und Weise, wie Adema die verästelten Diskurse und teils kleinteiligen drucktechnischen Entwicklungen zueinander in Beziehung setzt. Die Lesenden profitieren hier von der großen Übersicht der Autorin, sowohl in medientheoretischer wie auch in medienhistorischer Hinsicht. Adema stützt ihre Darstellung unter anderem auf einen von Michael Foucault inspirierten diskursanalytischen Ansatz, um das (gedruckte) Buch selbst, die jahrhundertelang darum kreisenden akademischen Praktiken und Institutionen der westlichen Welt in den Fokus zu nehmen. Andererseits bezieht sich die Autorin mehrfach auf Donna Haraway, um das Lesen als historisch-kontingente Praxis zu analysieren und auf die Produktion, Gestaltung und Materialität der (wissenschaftlichen) Monografie zurückzuführen.
Im ersten Kapitel exploriert Adema als theoretisches Konzept die „forms of binding“, also die Formen materieller Gebundenheit von gedrucktem Buch und Inhalt, von denen sie in den daran anschließenden Kapiteln drei unterscheidet und tiefer analysiert: Autorschaft, die Kommodifizierung des Buchs als Handelsware sowie seine materielle Fixierung beziehungsweise Stabilität. Als Anti-Thema kommt Adema danach auf historisch später entstehende Praktiken des „unbinding“ zu sprechen. Das ließe sich im Deutschen wortgetreu als „Ent-Binden“ übersetzen; gemeint ist in erster Linie die Loslösung des textuellen Inhalts vom Buch als seinem materiellen Träger. Diese Stelle markiert gleichzeitig den Beginn des zweiten Teils von Ademas Monografie, da sie nun stärker die freiwerdenden Kräfte thematisiert, die sich im Zuge der Openness-Bewegung ergeben – von gemäßigt bis radikal. Spätestens hier wird auch der Untertitel plausibel, insofern Adema experimentelle(re) Formen des Schreibens, Lesens und Veröffentlichens ins Spiel bringt, die sich manchmal mehr, manchmal weniger nah an der tradierten Form des klassischen Buchs bewegen. Die Analyse spitzt sich schließlich im fünften Kapitel zu und knüpft die auf über 200 Seiten ausgebreiteten Argumentationsstränge wieder zusammen. Dieses abschließende Kapitel ist im Vergleich mit den anderen vier Teilen theoretisch und inhaltlich sehr dicht, gleichzeitig aber auch etwas essayistischer geschrieben.
Adema macht keinen Hehl daraus, dass sie „Living Books“ auf Grundlage zahlreicher eigener vorveröffentlichter Texte verfasst hat, darunter Blogartikel, wissenschaftliche Aufsätze, Tweets, Vorträge und andere Formen der Wissenspräsentation. Das ist sicher kein Makel ihrer Analyse, sondern entspricht ihrem intellektuellen Verständnis vom Buch im digitalen Zeitalter, welches „flüssiger“ geworden ist, in Versionen, Varianten und Remixes zur Verfügung steht und – sofern offen lizenziert – auch legal immer wieder neu von Dritten bearbeitet werden kann. So ist es nur folgerichtig, dass Adema ihr Buch neben einem PDF im Open Access zusätzlich als frei zugängliche Variante auf der Publikationsplattform PubPub zur Verfügung gestellt hat, die Kommentare von Dritten zulässt.1 Teilweise entspinnen sich auf diese Weise interessante Dialoge zwischen der Autorin und den Lesenden, die für sich genommen wiederum als Paratexte analysiert werden könnten. Zugleich steht das digitale Buch in Konkurrenz mit anderen Medieninhalten, die am Bildschirm um die Aufmerksamkeit der Lesenden buhlen: Im Browser hat der Tab mit Ademas Buch die gleiche Affordanz wie die anderen geöffneten Tabs, egal ob sie zu einer Bestellung in einem Online-Shop, zu einem Kochrezept oder zu einem Musikclip auf einer Video-Plattform führen.
Etwas abstrakter: Die Möglichkeiten, mit Formen wie Inhalten des Buchs zu interagieren, zu spielen und ihre Grenzen auch intermodal auszuloten, haben sich vervielfacht. Alles spricht dafür, dass diese Entwicklung in Zukunft noch rasanter werden wird, wie Adema bilanziert. Demgegenüber büßt das Buch, als Wissensträger und -vermittler jahrhundertelang dominant, in digitalen Zusammenhängen aber auch etwas ein. Seine Stellung wird herausgefordert. Sein Inhalt steht nicht mehr nur gedruckt zwischen zwei Buchdeckeln zur Verfügung, sondern wird auf den Bildschirmen der Endgeräte angezeigt, mit diversen Vorzügen und Nachteilen, die sich daraus ergeben.
Ademas Arbeit ist für eine Reihe von Publika und Kontexten interessant. Neben der akademischen Forschung lässt es sich etwa (kapitelweise) in Uni-Seminaren einsetzen, in denen es um die historische Kontingenz wissenschaftlicher Schreib- und Publikationspraxis geht. Zudem bietet es sich an, das Buch stärker im Zusammenhang von urheberrechtlichen Fragen zu diskutieren, die durch die Steigerung technischer Reproduzierbarkeit entstehen, etwa in Medienindustrien oder dem wissenschaftlichen Verlagswesen – nicht als juristischer Beitrag freilich, denn Adema ist wie erwähnt Medienhistorikerin, sondern als historische Unterfütterung und als Diskussionsbeitrag zur Zukunft des Verlagswesens und seiner Konvergenz mit digitalen Plattformen. Daneben ist Ademas Arbeit auch für all jene relevant, die sich in Archiven, Bibliotheken, Museen und anderen Orten des kulturellen Erbes für die Frage interessieren, wie das Digitale ihre Arbeitsbereiche und Institutionen herausfordert.
Wahrscheinlich liegt in dieser Brücke, die die Autorin aus der historischen Analyse des Buchs heraus bis in die digitale Gegenwart schlägt und durch die sie eine bemerkenswerte Übersicht des Forschungsgegenstands gewinnt, die größte Stärke von Ademas Werk, da die Stabilität von Diskursen und Praktiken in Bezug auf das Buch so besonders deutlich wird (und nicht zuletzt die soziale Überhöhung des Buchs als Kulturgut). Ob dies unter dem zeitdiagnostisch angehauchten Label der „Posthumanities“ laufen muss, sei einmal dahingestellt – der Untertitel ist genauso wie die Wahl des Verlags womöglich karrierestrategischen Überlegungen geschuldet. Wo und wann genau das „Post“ in den „Humanities“ dominant werden soll oder schon dominant geworden ist, wird nicht deutlich, und meiner Meinung nach hätte es zum Anspruch des Buchs besser gepasst, den Untertitel nicht auf die „Experiments“ einzuengen.
Ademas Anspruch, dem romantischen Verständnis einer singulär gedachten, meist auf einzelne Personen zurechenbaren und damit klar abgegrenzten Autorschaft ein posthumanistisches Verständnis von Autorschaft entgegenzusetzen, ist hehr und wertvoll. Aber dieses posthumanistische Verständnis entspricht meiner Beobachtung nach in keiner Weise der empirischen Realität, wie sie sich in Medienindustrie, Wissenschaft, Kunst oder anderen Bereichen darstellt. Selbst in Remix-basierten Produktionskulturen ist ein eher romantisches Verständnis von Autorschaft stabil und vorherrschend. Adema bespricht verschiedene Experimente: vor allem Hypertext-Praktiken des gegenseitigen Verlinkens, kollaborative Auslegungen und Diskurse rund um das Thema Autorschaft sowie Remix-ähnliche Referenztechniken beim Verfassen wissenschaftlicher Texte, die solche Texte als prinzipiell unabgeschlossene, flexibel erweiterbare Ausdrucksformen sehen. Sicherlich fordern diese Experimente tradierte Vorstellungen der Autonomieästhetik heraus, stellen die Beziehungen zwischen Werk, Autor:in und Publikum in Frage. Aber in Summe gesehen bleiben sie trotzdem vor allem intellektuelle, rhetorische Dekonstruktionsversuche, die die historisch gewachsenen, medienindustriellen Verwertungsstrukturen irritieren, im besten Falle kurz erschüttern, nicht aber zum Einsturz bringen können oder konnten.
Mit dem Vordringen von Open Access in den kommerziellen wissenschaftlichen Buchmarkt verschiebt sich, auch das wird in Ademas Arbeit sehr deutlich, das historisch gewachsene und bewährte Gefüge zwischen Forschungseinrichtungen, Bibliotheken und Verlagen. Forschende sind weiterhin darauf angewiesen, ihre Ergebnisse möglichst reichweitenstark, zitierbar, nachnutzbar und mit hoher Reputation zu veröffentlichen, um in ihrer eigenen Karriere voranzukommen. Im digitalen Raum werden diese Bestrebungen durch zunehmende Metrifizierung begleitet, etwa durch die Orientierung an Impact-Faktoren oder anderen quantifizierenden Indizes wie Altmetrics. Bibliotheken und Forschungsinstitute können nun stärker in die Rolle der Verlage schlüpfen, etwa indem sie selbst Bücher verlegen oder die Infrastruktur für wissenschaftliche Zeitschriften anbieten. Verlage schließlich ändern vielerorts ihre Geschäftsmodelle, indem sie sich nicht darauf beschränken, Druckerzeugnisse auf einem Markt der Verwertung zuzuführen, sondern sich vielmehr darauf konzentrieren, die Verwertung vor dem Markteintritt durch Open-Access-Gebühren für digitale Veröffentlichungen abzusichern und mit diesem Geld neue metrifizierende Daten-Dienstleistungen anzubieten, die sie in Zukunft an Forschungseinrichtungen oder andere Organisationen verkaufen können; ein für große Verlagskonzerne ebenso lukratives wie für Autor:innen unübersichtliches Geschäftsfeld.
Aus dieser Entwicklung ergeben sich auch Veränderungen für den wissenschaftlichen Diskurs: Während noch vor ein paar Jahren die Praxis gang und gäbe war, dass ein:e Rezensent:in für eine Besprechung ein kostenloses Printexemplar erhält, wird diese (implizite oder explizite) Vereinbarung aufgrund von BPC-finanziertem Open Access (book-processing charges) zunehmend brüchig. (So habe ich das hier vorgestellte Buch leider nicht als Druckausgabe erhalten.) Denn für einen Verlag neuen Typs ist es nachrangig, ob das von ihm verlegte Buch weithin besprochen wird, ein großes Publikum erreicht und sich so der Verkauf ankurbeln lässt. Ein unternehmerisches Risiko ist bei Open-Access-Publikationen, die durch BPCs über die Forschenden oder ihre Einrichtungen vor-finanziert werden, nicht mehr gegeben. Das macht eine Rezension nicht weniger aufwendig, aber der Anreiz für Rezensionen dürfte langfristig gesehen und in der Breite schwinden.
„Living Books“ von Janneke Adema ist ein gut lesbares, äußerst reichhaltiges und historisch fundiertes Buch, das bemerkenswerte theoretische Vorschläge zur Bestimmung des Buchs als Kulturgut wie auch als wissenschaftliches Kommunikationsmedium macht. Es reflektiert die kulturell eingeübten Formen des Schreibens und Lesens von Büchern in pointierter Weise und fordert sie an manchen Stellen sogar heraus (wenngleich der Aufbau doch ein lineares Lesen von vorn bis hinten nahelegt). Ademas Fallstudie bietet einerseits eine gelungene, für sich stehende Analyse in Buchform und der Buchform – ließe sich andererseits aber auch als sinnvolles Gegenstück zu Arbeiten diskutieren, die die Geschichte weiterer Medienindustrien wie Musik, Film, Fernsehen oder Computerspiele in den Blick nehmen.
Anm. der Red.: Dieser Text steht auf Wunsch des Autors unter der Lizenz CC BY 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/deed.de).
Anmerkung:
1 Siehe https://livingbooks.mitpress.mit.edu (29.02.2024).