Die französische Riviera ist ein klassischer Gegenstand der Tourismusforschung.1 Der an der University of Akron in Ohio lehrende Stephen L. Harp liefert durch die Verknüpfung der Themen Tourismus und Migration, Infrastruktur und Umwelt und neuartige postkoloniale Perspektiven einen innovativen Beitrag, der für die historische Forschung zum modernen Mittelmeertourismus insgesamt wegweisend erscheint, weil er den Zusammenhang zweier Mobilitätsformen, des Tourismus und der Migration, erhellt.
In seiner Einleitung greift der Autor die Frage auf, zu wessen Nutzen und zu welchem Preis „Entwicklung“ erfolge (S. 4).2 Im Fokus seiner tourismusgeschichtlichen Analyse stehen Arbeit und Umwelt, anstatt wie sonst üblich, Sehenswürdigkeiten und Landschaften. Ein weiterer origineller Zugriff besteht darin, die These einer Erfindung der Riviera durch ausländische Touristen zu hinterfragen. Anders als beispielsweise Jim Ring3, der sich mit dem Einfluss von Engländern, Russen und Amerikanern im 19. und 20. Jahrhundert auseinandersetzt, will Harp das etablierte Bild von der Riviera als einem weißen, europäischen Paradies aufbrechen (S. 3–5). Dies gelingt ihm, indem er am Ende eines jeden Kapitels die Situation und das Wirken der nordafrikanischen Arbeiter sichtbar macht. Harp untersucht dies für die Zeit des entstehenden Massentourismus zwischen 1946 und 1975.
Das Buch ist in sechs thematische Blöcke gegliedert. Im ersten Kapitel schildert Harp anhand des Hotelgewerbes und des Wohnungsmarkts den Wandel des Tourismus von den langen Winteraufenthalten zahlungskräftiger Eliten hin zum Strandurlaub der Massen in den Sommermonaten. Zum Touristenansturm hinzu kam die wachsende Zahl von Zweit- und Alterswohnsitzen, unter anderem der ehemaligen Siedler aus Nordafrika, die zu einer Preissteigerung auf dem Immobilienmarkt und zu einem Prozess der Gentrifizierung führte, der Konflikte mit den Einheimischen auslöste. Noch prekärer als die Lage der lokalen Bevölkerung und der pieds noirs war die Situation der eingewanderten nordafrikanischen Arbeiter, die von der lokalen Bevölkerung, den Behörden und der Presse diskriminiert wurden. Harps stellt fest: „The colonial color line held fast in the postcolonial metropole.“ (S. 38) Seine Analyse der (post-)kolonialen Dimension der Geschichte der Nachkriegs-Riviera vertieft Harp in Kapitel zwei über Hausbesetzungen und Slums, sogenannten bidonvilles, vor allem am Beispiel des größten Slums Nizzas, dem Digue des Français, und des sozialen Wohnungsbauunternehmens Sonacotra. Die Diskriminierung durch Behörden und lokale Presse erfolgte in der Sprache des Empire, die einen Entwicklungsvorsprung der Metropole über die Kolonien postulierte.
Im zweiten Teil des Buches thematisiert der Autor die Auswirkungen des Wandels des Kulturverständnisses von Meer und Strand. Die touristische Nachfrage nach einem sauberen Meer und Strand stand in Konflikt mit der Praxis, Abwasser und Abfälle ins Meer zu leiten. Dies verschärfte sich mit der stark steigenden Touristenzahl, die für immer höheren Wasserverbrauch, mehr Abwasser und Müll sorgte. Neben Umweltproblemen führte die Entwicklung des Tourismus zu Strandaufschüttungen, technischen Verfahren zur Wasseraufbereitung wie der Ozonisierung und zur Räumung von Slums. Der Tourismus und Maßnahmen im Zuge von Tourismus führten immer wieder zu Konflikten mit verschiedenen Teilen der Bevölkerung. Neben der erhöhten Wassernachfrage stießen vor allem Pläne zum Umbau oder Neubauten von Jachthäfen auf Kritik.
Der dritte Teil des Buches behandelt mit dem Bau und den Erweiterungen des Flughafens Nizza sowie dem Automobilverkehr das Thema Mobilität. Entscheidungen aus Wirtschaft und Politik, beispielsweise Straßenbauprojekte und die Räumung des Slums am Flughafen, wurden vor allem im Interesse von Touristen und Autofahrern getroffen. Die Kritik der Anwohner und Touristen richtete sich vor allem gegen die Lärmbelästigung und Anarchie im Straßenverkehr. Anschaulich liefert der Autor anhand des Autoverkehrs weitere Argumente für seine These, dass der Massentourismus sich selbst bedrohte.
Im Epilog gibt Harp einen breiten Ausblick auf die weitere Transformation der Region bis in die 2000er-Jahre, von der Stabilisierung der touristischen Entwicklung in den 1990er-Jahren, den Erfolgen der Umweltbewegung in der Rechtsprechung über das Revival der Straßenbahn bis hin zum Burkini-Streit.
Hervorzuheben ist die sprachliche Sensibilität, mit der Harp beispielsweise Begriffe wie „bidonville“ (S. 41) hinterfragt und verwendet, um die (post-)koloniale Konnotation zu erhalten. Hilfreich ist die mit den thematischen Unterüberschriften einhergehende Gliederung der Kapitel in Schwerpunkte, die der Autor detailreich mit vielen Beispielen und Zahlenvergleichen schildert. Ergänzt wird dies durch Bezüge sowie Vergleiche mit anderen Orten auf nationaler und internationaler Ebene, insbesondere unter Berücksichtigung des komplexen französisch-algerischen Verhältnisses. Dies ermöglicht Harp die Einordnung seiner Ergebnisse in die verschiedenen historischen Erzählungen des ausgewählten Zeitraums 1946–1975 in Frankreich, wie Jean Fourastiés Trente Glorieuses und die Gegenerzählung von Céline Pessis, Sezin Topçu und Christoph Bonneuil (S. 5–6).
Das Gros des Buches ist der Umweltgeschichte des Nachkriegstourismus gewidmet. Der Fokus liegt auf den Bau- und Infrastrukturprojekten der Städte Cannes und vor allem Nizza. Das Hinterland oder andere Wirtschaftssektoren spielen dagegen eine untergeordnete Rolle. Die zentrale These lautet, dass Entscheidungen immer motiviert waren von ästhetischen Ansprüchen und wirtschaftlichen Interessen des Tourismus. So wurden etwa Slums nicht geräumt, um die prekäre Situation der Bewohner zu verbessern, sondern um die Ästhetik der touristischen Destination und die dahinterstehenden wirtschaftlichen Interessen nicht zu gefährden. Nur selten gab es Widerstand gegen den Wandel der Küste, beispielsweise wegen Lärmbelästigung, Luftverschmutzung oder aus ästhetischen Gründen. Ökologische Bedenken kamen erst mit der Umweltbewegung in den 1970er-Jahren auf. Umweltschützer waren bedingt erfolgreich, wenn sie bereits länger existierende Anliegen aufgriffen, wie etwa mehr Sauberkeit, die dem ästhetischen Aspekt oder wirtschaftlichen Nutzen dienten (Kapitel 4–5).
Im zweiten Oberthema, der Geschichte der nordafrikanischen Arbeiter, baut Harp eine inhaltliche Spannung auf, die sich durch das gesamte Buch zieht, in dem er die Arbeiter, zum allergrößten Teil Algerier, und ihre Lebenswelt mit dem Küstenabschnitt des Départements Alpes-Maritimes kontrastiert. Anders als beispielsweise Sarah Losego, die die Migrationsgeschichte nordafrikanischer Gastarbeiter im Industrierevier von Longwy untersucht, wählt Harp den rechtskonservativen Sommersehnsuchtsort und die Jetset-Destination. Somit leistet er nicht nur einen Beitrag zur Tourismusgeschichte Südfrankreichs, sondern auch zur Geschichte der nordafrikanischen Einwanderung nach Frankreich im 20. Jahrhundert.4 Harp sieht Rechte wie beispielsweise der Zugang zu sauberem Wasser, im 19. Jahrhundert eine Frage der gesellschaftlichen Klasse, Mitte des 20. Jahrhunderts als eine Frage „rassischer“ Privilegien (S. 103). Die rassistische Segregation wurde besonders am Konzept Strand sichtbar. Arbeiter bauten den Strand in der Nebensaison im Winter und säuberten ihn nachts, waren aber im Sommer tagsüber an den wenigen verbliebenen öffentlichen Strandabschnitten unerwünscht (Kapitel 4).
Beachtenswert sind die Quellen und die sorgsame Sichtung. So verweist Harp auf Unregelmäßigkeiten in der Statistik bei der Zahlenerhebung (S. 42). Als Hauptquelle dienten unter anderem lokale Quellen wie die Archive des Departements Alpes-Maritimes, persönliche Schriften und die Aufzeichnungen der örtlichen Handelskammer sowie Presseartikel. Wie Harp selbst feststellt, haben die verwendeten Quellen mehr Aussagekraft über verschiedene französische Gruppen wie Regierung, Lokalpolitik, Bevölkerung, Presse, ihre Einstellungen und Konflikte untereinander als über die nordafrikanischen Arbeiter (S. 47). Die gewalttätigen Ausschreitungen gegenüber Nordafrikanern wie Brandstiftungen werden nur am Rande erwähnt (S. 60). Leider bleibt im Ausblick das weitere Schicksal der nordafrikanischen Arbeiter unerwähnt. Zogen sie als Arbeitsnomaden auf andere Baustellen oder in bidonvilles der Industriestädte? Wechselten sie in den Tourismussektor? Oder kehrten sie nach Nordafrika zurück?
Der im Buchtitel formulierte Anspruch, die Riviera zu „enthüllen“ und die Leser hinter die Kulissen des Sommertourismus blicken zu lassen (S. IX), wird eingelöst. Ob das Werk indes den Blick auf die Riviera nachhaltig verändern kann, bleibt fraglich. Denn wie der Autor bekennt, fällt das Loslösen vom touristischen Blick schwer (S. 202–203).
Anmerkungen:
1 Stellvertretend genannt sei hier Hans-Georg Möller, Tourismus und Regionalentwicklung im mediterranen Südfrankreich. Sektorale und regionale Entwicklungseffekte des Tourismus – Ihre Möglichkeiten und Grenzen am Beispiel von Côte d’Azur, Provence und Languedoc-Roussillon, Stuttgart 1992.
2 Vgl. dazu Geneviève Massard-Guilbaud, Aménager: pourquoi, au bénéfice de qui et à quel prix?, in: Patrick Fournier / Geneviève Massard-Guilbaud, Aménagement et environnement: Perspectives historiques, Rennes 2016, S. 231–245.
3 Vgl. Jim Ring, Riviera, the Rise and Rise of the Cote d'Azur, London 2005.
4 Vgl. Sarah Losego, Fern von Afrika. Die Geschichte der nordafrikanischen „Gastarbeiter“ im französischen Industrierevier von Longwy (1945–1990), Köln 2009. Zur allgemeinen Situation der Algerier in Frankreich siehe beispielsweise Neil MacMaster, Colonial Migrants and Racism. Algerians in France, 1900–1962, New York 1997.