T. Corbett: Die Grabstätten meiner Väter

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Titel
Die Grabstätten meiner Väter. Die jüdischen Friedhöfe in Wien


Autor(en)
Corbett, Tim
Erschienen
Anzahl Seiten
1.041 S.
Preis
€ 80,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georg Gaugusch, Wien

Die vorliegende Arbeit beruht in ihrem Ansatz auf der 2015 an der Universität Lancaster (England) verfassten Dissertation des Verfassers, wurde aber von diesem von Grund auf neu überarbeitet und erweitert. Als Grundlagen dienten ihm, neben anderen archivalischen Quellen, vor allem die im Archiv der Israelitischen Kultusgemeinde Wien liegenden Akten sowie die Bestände des United States Holocaust Memorial Museums in Washington, das umfangreiche Verfilmungen des in Jerusalem verwahrten historischen Archivs der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde besitzt. Der Aufbau der Arbeit gliedert sich nach chronologischen Gesichtspunkten, so folgt nach einer thematischen Einführung eine Beschreibung jüdischer Friedhöfe im Allgemeinen, die nachfolgenden Kapitel behandeln die jüdischen Friedhöfe in der Seegasse, jenen in Währing, den alten jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs (1. Tor) sowie den neuen jüdischen Friedhof (4. Tor).

Vertieft behandelt der Verfasser im Kapitel 8 den neuen jüdischen Friedhof während der Shoa und in Kapitel 9 die Orthodoxisierung des jüdischen Bestattungswesens in der Ära Ernst Feldsbergs als Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde. Diese beiden Kapitel, zu denen dem Verfasser reichliches Quellenmaterial zur Verfügung stand, sind zweifellos die gelungensten des Buches. Dessen Schwächen offenbaren sich allerdings dementsprechend dort, wo breitere Kenntnisse der sehr unterschiedlichen Traditionen und Lebenswelten der jüdischen Gesellschaften im Raum der österreichisch-ungarischen Monarchie notwendig gewesen wären. Beispielhaft manifestiert sich dies vor allem in den Kapiteln 4 und 5, in denen der Verfasser versucht, die Geschichte des Währinger Friedhofs (Kapitel 4) und des Ersten Tors (Kapitel 5) zu erzählen. Problematisch ist hier vor allem, dass der Verfasser die sehr unterschiedlichen jüdischen Sepulkralkulturen jener Gemeinden, aus denen ab 1850 die Zuwanderung nach Wien erfolgte, ignoriert. So erschließen sich ihm weder die sozialen Ordnungsprinzipien, nach denen die Gemeinden ihre Friedhöfe organisierten, noch gelang es ihm, ein Sensorium für die sozialen und genealogischen Bezüge der von ihm betrachteten Grabsteine zu entwickeln. Aus dieser Unkenntnis der Verhältnisse resultieren eklatante Fehleinschätzungen, so zum Beispiel auf S. 323, wo er bezüglich der Gruft der Familie Magyar „kleinbürgerliche Laudationen“ einer Familie der „mittleren Schicht“ zu erkennen glaubt. Dass die Familie Magyar zu den führenden jüdischen Familien Temesvárs, damals eine pulsierende Handelsstadt, gehörte (wovon man sich durch einen Besuch auf dem gut erhalten dortigen jüdischen Friedhof hätte überzeugen können), weiß der Verfasser ebensowenig wie den Umstand, dass Katharina Magyar geb. Deutsch zu einer der zentralen Großhändlerdynastien Budapests gehörte. Dass ihre katholisch gewordene Schwester Fanny die Ehefrau des Wiener Polizeipräsident Anton Ritter von Le Monnier war und dass ihr Sohn Emmerich Magyar unter dem Künstlernamen „Robert“ ein gefeierter Burgtheaterschauspieler seiner Zeit war, unterstreicht die Bedeutung der Familie weiter.

Auf S. 322 geht der Verfasser, ohne seine Quellen zu nennen, auf Alois Cavaliere de Kuffner ein, der viele Jahre als Kaufmann in Mailand und Livorno lebte, spätestens dem Lektorat hätte auffallen können, dass der Titel eines „Cavaliere“ kein französischer Adelstitel ist. Auf S. 340 beschreibt er den Wiener Bankier Eduard Ritter Wiener von Welten „als im Prager Ghetto geboren“ – abgesehen davon, dass schon der Großvater des Bankiers Michael Herschmann Wiener einer der größten Textilfabrikanten Prags war, lebte die Familie schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der Prager Altstadt, dementsprechend ist Eduard Wiener dort im Haus 208-I. am Prager Annaplatz geboren; das Haus gehörte seinem Vater Hermann und seinem Onkel Nathan. Der Döblinger Friedhof wird auf lediglich vier Seiten abgehandelt (S. 349–352), wo fälschlich behauptet wird, dass es sich um keinen rein jüdischen Friedhof handelt und dass die dort geübte Praxis, Gräber aufzulassen und neu zu vergeben, „nicht einmal im liberalsten Sinn als jüdisch verstanden werden kann“. Die strenge Dogmatik, dass ein jüdisches Grab immerwährend sei und nicht aufgelassen werden darf, wurde im 19. und frühen 20. Jahrhundert viel pragmatischer gesehen als heute. Entscheidend war offensichtlich nicht, dass das Grab bestehen bleibt, sondern nur, dass die sterblichen Überreste am jüdischen Friedhof verbleiben. So wurden auf dem jüdischen Friedhof in Brünn, einer Wien sehr ähnlichen Gemeinde, jene Felder, in denen in den 1850er- bis 1870er-Jahren kleine Kinder oder mittellos Verstorbene begraben wurden, ab den 1930er-Jahren mit neuen Gräbern belegt. Nur wenn das Grab einen Stein hatte, sah man davon ab. Dass die israelitische Abteilung des Döblinger Friedhofs, wie vom Verfasser geschildert, keinen rein jüdischen Charakter mehr hat, ist vor allem den Abräumungen der 1950- und 1960er-Jahre geschuldet. Damals wurden allerdings die sterblichen Überreste und die Grabsteine auf den neuen jüdischen Friedhof überführt.

Eine zentrale Quellengruppe, die der Verfasser nicht nur nicht verwendet, sondern offenbar vollständig ignoriert hat, sind die Matriken der israelitischen Kultusgemeinde. Bei Konsultation des Sterbebuchs der ehemaligen Gemeinde in Fünfhaus für die Jahre 1873–1892 hätte ihm auffallen müssen, dass nicht alle jüdisch Gestorbenen auch auf einem jüdischen Friedhof begraben wurden. Kleine Kinder und Totgeburten wurden auch auf den christlichen Friedhöfen in Baumgarten, Penzing und Meidling begraben, auch das ein Hinweis auf die wenig dogmatische Sichtweise der damaligen Zeit. Der Verfasser hat auch davon abgesehen, die beiden zentralen Zeitungen „Die Neuzeit“ in Wien und „Ben Chananja“ in Szegedin in Hinblick auf seine Fragestellungen auszuwerten. Nachdem „Ben Chananja“ speziell in der Auseinandersetzung zwischen der Orthodoxie und den liberaleren Strömungen eine zentrale Stellung zukommt, eine kaum entschuldbare Unterlassung.

Vor allem der im ganzen 19. Jahrhundert schwelende Streit bezüglich des Blumenschmucks auf jüdischen Gräbern hätte im Rahmen dieser Arbeit ausführlicher behandelt werden müssen. Intensiv befaßt sich das Buch nicht nur mit den jüdischen Friedhöfen Wiens im 19. und frühen 20. Jahrhundert, sondern auch mit deren Schicksal während der NS-Zeit. Der Verfasser scheint indes kein intimer Kenner der Wiener Archive oder ihrer Bestände zu sein. Dies verleitet ihn, mitunter in unpassendem Tonfall, zu ungerechtfertigten Anschuldigungen. So beruft er sich etwa auf S. 557 bezüglich der angeblich im Wiener Stadt- und Landesarchiv fehlenden „Entnazifizierungsakten“ Robert Körbers auf eine Auskunft des Österreichischen Staatsarchivs und fügt bissig hinzu „fehlende beziehungsweise deplatzierte Akten aus der NS-Zeit sind in den Nachkriegsarchiven Österreichs wohlgemerkt keine Seltenheit“. Hätte er sich die Mühe gemacht, das richtige Archiv zu fragen oder sich mit der Genese der Akten zu beschäftigen, hätte ihm auffallen müssen, dass die Voraussetzung für eine allfällige Entnazifizierung ein vorhergehende Registrierung Körbers als Nationalsozialist gewesen wäre. Eine solche ist nach bisherigem Kenntnisstand nicht nachweisbar. Auch verliert sich seine Spur nach dem Zweiten Weltkrieg keineswegs, sondern er starb 1980 in Bünde bei Bielefeld, wo er sich nach dem Zweiten Weltkrieg als antisemitischer Schriftsteller betätigte. Auch der im selben Absatz genannte Andreas Tröster, der bis zu seinem Tod 1971 in Kagran lebte, kann aus oben genannten Gründen keinen „Entnazifizierungsakt“ haben, weil er nicht als Nationalsozialist registriert war.

Es ist schade, dass einem Buch dieses Umfangs kein Orts- und Sachindex beigegeben wurde und in den allgemein gehaltenen, nicht auf Archivalien beruhenden Teilen, die offenbar verwendete Literatur nicht immer sauber zitiert wird. Die auf archivalischen Quellen beruhenden Teile des Buches sind zweifellos von großer Gründlichkeit und bilden eine Bereicherung der Geschichte der jüdischen Friedhöfe in Wien.

Kommentare

Replik von Tim Corbett auf die Rezension von „Die Grabstätten meiner Väter“

Von Corbett, Tim22.03.2023

Georg Gauguschs am 24. November hier erschienene, nicht einmal zweiseitige Rezension meiner über tausendseitigen Monografie zur Geschichte der jüdischen Friedhöfe in Wien besteht im Wesentlichen aus folgenden Behauptungen:

1) Mir mangele es an den „breitere[n] Kenntnisse[n] der sehr unterschiedlichen Traditionen und Lebenswelten der jüdischen Gesellschaften im Raum der österreichisch-ungarischen Monarchie“;
2) ich sei „kein intimer Kenner der Wiener Archive“ und habe mir nicht „die Mühe“ gemacht, „das richtige Archiv zu fragen oder [m]ich mit der Genese der Akten zu beschäftigen“;
3) und schließlich hätte ich die „offenbar verwendete Literatur nicht immer sauber zitiert“.
Das sind ohne Zweifel schwerwiegende Vorwürfe an die Adresse eines Fachhistorikers, die nicht unwidersprochen bleiben sollen.

Zuallererst sei festgehalten, dass mein Buch in der renommiertesten Reihe der jüdischen Studien in Österreich erschienen ist; dass es das Endprodukt mehrerer international hochrangiger Fellowships und eines regen Austausches mit renommierten Expert:innen an einschlägigen Institutionen im Bereich der jüdischen Studien, der Holocaust-Forschung und der österreichischen Zeitgeschichte ist; dass der Großteil der Kosten über die Erlangung eines konkurrenzstarken, wissenschaftlichen Stipendiums des Leo Baeck Instituts in New York finanziert wurde; dass diese Arbeit nicht nur als Folge einer als ausgezeichnet bewerteten Dissertation an der Universität Lancaster entstand, sondern auch auf der Basis zahlreicher Publikationen von Zwischenergebnissen und Teilaspekten in führenden, von einschlägigen Expert:innen begutachteten internationalen und interdisziplinären Fachzeitschriften; und, zu guter Letzt, dass diese Monografie 2021 den namhaften „Michael-Mitterauer-Anerkennungspreis für Gesellschafts-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte in Wien“ des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte erhielt und wohl ebenfalls 2021 maßgeblich zur Verleihung eines angesehenen und konkurrenzstarken „Förderungspreis der Stadt Wien für Geisteswissenschaften“ in Anerkennung meiner allgemeinen wissenschaftlichen Auszeichnungen führte.

Zum Vorwurf der allgemeinen „Unkenntnis“ meiner Disziplin, in der ich über ein Jahrzehnt lang international berufstätig bin, genügt neben meinem Lebenslauf1 wohl ein Blick in das 38-seitige Quellenverzeichnis dieses Werkes, in dem sowohl die theoretischen Grundlagen aus verschiedensten Disziplinen (jüdische Studien, österreichische Geschichte, Holocaust- und Genozidforschung, die Anthropologie des Todes, Raumanalyse, Diskursanalyse, Soziologie, memory studies usw.) als auch die einschlägige internationale Historiographie zum hier beleuchteten Thema ersichtlich werden, mit der sich diese jahrelange Forschungsarbeit auseinandergesetzt hat.

Im Wesentlichen stützt sich der Verriss auf nachweisliche Verzerrungen, Fehlbehauptungen und grobe Auslassungen, ohne dabei auf die inhaltlichen oder methodischen Kernfragen, die argumentativen Stoßrichtungen in den einzelnen, in Summe zehn Kapiteln, und letztlich die Forschungsergebnisse meiner Arbeit einzugehen, sie gar zu referieren.2 Die Besprechung reduziert sich auf wenige Details, oder besser gesagt: auf Spitzfindigkeiten, die zudem manchmal auf irreführenden Fehlzitaten und inhaltlichen Verkürzungen fußen. Als Beispiel sei die Behauptung angeführt, ich hätte die in der älteren jüdischen Abteilung des Wiener Zentralfriedhofes bestattete Familie Magyar als „kleinbürgerlich“ bezeichnet. Doch das entsprechende Zitat bezog sich auf „die kleinbürgerlichen Laudationes der katholischen Grabinschriften am St. Marxer Friedhof“ (S. 323), womit ich einen losen Vergleich zum allgemeinen Verbürgerlichungsprozess aus intersektionaler Perspektive zog – einer der zentralen Untersuchungsgegenstände des Buches –, der sich in der alten jüdischen Abteilung des Zentralfriedhofs bemerkbar macht. Der Familie Magyar werden dabei gerade etwa 150 Wörter (inklusive Grabinschrift) gewidmet. Die Rezension vermittelt aber den Eindruck, es handle sich hier um eine eingehende genealogische Studie eines transnationalen Familienverbands.

Bemängelt wird im Weiteren, dass ich eine Seite zuvor den Adelstitel des Alois „Cavaliere de“ Kuffner irrtümlicherweise als „französischen“ angeführt hatte. In diesem kleinen, hier irrelevanten Fehler erspäht der Rezensent einen weiteren einschlägigen Beweis meiner „Unkenntnis“. Kein/e seriöse/r Wissenschaftler:in erhebt den Anspruch, fehlerfrei zu arbeiten, doch alle seriösen Wissenschaftler:innen können wohl zwischen Spitzfindigkeiten und „eklatante[n] Fehleinschätzungen“ unterscheiden. Auch dieser Grabinschrift sind in Summe 41 Wörter gewidmet, als nur eines von unzähligen Beispielen von Adelsverweisen in der Sepulkralepigrafik dieses Friedhofs. Zudem wird mir hier unterstellt, keine Quelle dafür genannt zu haben. Dazu zitiere ich einfach folgenden paradigmatischen Satz aus der Einleitung meines Buches: „Somit bieten die jüdischen Friedhöfe in der gegenwärtigen Stadtlandschaft – insbesondere ihre mehr als hunderttausend Grabdenkmäler – physische, materielle Zeugnisse einer komplexen Verflechtung von individuellen, familiären, gemeinschaftlichen und kollektiven Kultur-, Gemeinschafts- und Erinnerungsdiskursen, die noch nie zuvor einer integrierten, umfassenden Analyse unterzogen wurden“ (S. 30). Im Klartext: Die Grabsteine und ihre Inschriften selbst, eben in ihrer Materialität und Textualität, sind die wesentlichen Quellen in dieser Arbeit, die hier vorwiegend diskursanalytisch beleuchtet werden. Auf welche bibliografischen und genealogischen Quellen und Datenbanken ich mich darüber hinausgehend bezogen habe, ist auch in der – sicherlich zu lesenden – Einleitung festgehalten (S. 55–56).

Was die gesamte Konzeption, Methodik und Fragestellung des Buches betrifft, wirft mir der Rezensent einzig vor, mein Verständnis der jüdischen Religion und Sepulkralpraxis unterliege einer „strenge[n] Dogmatik“. Dem wiederum kann ich, der als ausgesprochener Kritiker jeder Dogmatik in den jüdischen Studien gelte3, nur mein 82-seitiges theoretisch-methodologisches Kapitel entgegenstellen, das in der Rezension mit keinem Wort rezipiert wird. Um daraus kurz zu zitieren: „Diese in Stein verkörperten Erinnerungen bilden somit nicht nur ein reiches Archiv an historischer Information, sondern auch ein profundes, sich stets entwickelnder Kodex von Erinnerung und (Selbst-)Darstellungen, der aus einem Spannungsfeld zwischen Individuum und Gemeinschaft, erkorener Zugehörigkeit und auferlegter Identifikation, Brauchtum und ‚Tradition‘ hervorgeht“ (S. 72).

Auch die Behauptung, ich hätte die Matriken und die Sterbebücher der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) als Quellengruppe „nicht nur nicht verwendet, sondern offenbar vollständig ignoriert“ erweist sich schnell als grobe Fehldarstellung. Wie in meiner Einleitung angemerkt (S. 55–56), bezog ich mich bei der Identifizierung und Auffindung der Grabstätten durchwegs auf die Friedhofsdatenbank der IKG, die ab den 1990er-Jahren auf Basis eben dieser Matriken und Sterbebücher angelegt wurde. In Kapitel 4 unternahm ich zudem eine über drei Seiten lange onomastische Analyse, die neben den erhaltenen Grabinschriften maßgeblich auf die in Jerusalem aufbewahrten Gräberprotokolle aus dem Währinger Friedhof basiert (S. 241–243).

Weiterhin wird mir in einem äußerst abwertenden Ton vorgeworfen, zwei Zeitungen, „‚Die Neuzeit‘ in Wien und ‚Ben Chananja‘ in Szegedin“, in Bezug auf die Debatte zur Tradition und Assimilation, respektive Orthodoxie und Reform, nicht berücksichtigt zu haben. Dabei zieht sich die Erörterung eben dieser Fragen, die gerade bei der Entwicklung von jüdischen Sepulkralkulturen eine maßgebliche Rolle spielten, und darüber hinaus die gesamte jüdische Welt über die letzten zwei bis drei Jahrhunderte so sehr beschäftigten, wie ein Leitfaden durch mein ganzes Buch. Dass ich neben ein paar Dutzend historischer Zeitungen sowie einer Fülle an zeitgenössischen Publikationen in diesem Buch eine Wiener Zeitung, geschweige denn eine Zeitung aus dem südungarischen Raum, nicht zusätzlich herangezogen habe, kann durchaus angemerkt werden, ist aber wohl nicht als „kaum entschuldbare Unterlassung“ zu bezeichnen.

Was weiters den saloppen Vorwurf betrifft, ich sei „kein intimer Kenner der Wiener Archive oder ihrer Bestände“ und hätte mir nicht „die Mühe gemacht, das richtige Archiv zu fragen oder [m]ich mit der Genese der Akten zu beschäftigen“, kann ich nur wieder auf mein Quellenverzeichnis verweisen, wo siebzehn Archive in sechs Ländern angeführt werden, darunter auch acht Archive in Wien. In diesem Zusammenhang ist wohlgemerkt auch die Behauptung unrichtig, das riesige Konvolut, das ich am United States Holocaust Memorial Museum einsah und auf das im Buch fast dreihundertmal verwiesen wird, bestehe aus „Verfilmungen des in Jerusalem verwahrten historischen Archivs der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde“. Schon allein anhand der von mir zitierten Signaturen (A/VIE/IKG…) lässt sich feststellen, dass es sich hier nicht um den Jerusalemer Bestand, sondern um den nach wie vor im IKG-Archiv in Wien aufbewahrten handelt: Im Nachwort fasse ich schließlich die Geschichte dieser Bestände sowie meine eigene Forschungstätigkeit im Zusammenhang mit diesen zusammen (S. 979–980).

Der Abschlusssatz der Rezension steht dann auch im krassen Widerspruch zu den eingangs und längstens vorgeführten Kritikpunkten an meiner Arbeit: „Die auf archivalischen Quellen beruhenden Teile des Buches sind zweifellos von großer Gründlichkeit und bilden eine Bereicherung der Geschichte der jüdischen Friedhöfe in Wien.“ Dies, obwohl vorher durchgehend behauptet wurde, mir mangele es an grundlegender Kenntnis des Feldes, der Archive und überhaupt der Forschungsmethoden – eine Behauptung, die mir als freiberuflich tätigem Historiker mit einem hart erarbeiteten Ruf aufs Schwerste schadet.

Die bis jetzt durchwegs positiven, zum Teil publizierten Bewertungen und Rezensionen durch ausgewiesene Expert:innen aus verschiedenen Fachrichtungen, in verschiedenen Sprachen und Ländern und in führenden interdisziplinären Fachzeitschriften zeichnen ein anderes Bild als die hier veröffentlichte Besprechung: Diese beschreiben meine Arbeit u.a. als „wichtige[n] Beitrag“ mit „enorme[m] Erkenntnisgewinn“4; als „spannend“, „inspirierend“, „[b]eeindruckend“ und „akribisch recherchier[t]“5; als „exzellent[e] Publikation“, „faszinierend“, „akribisch“, „scharf“ und „abwägend“6; als „akribisch recherchiertes […] unbedingt lesbares Werk“7; und schlicht als „Meisterwerk“ mit einem „hochoriginellen Ansatz“.8 Auch der breite mediale, also nicht fachspezifische Widerhall dieses Buches ist beachtenswert, wie aus Reportagen und Interviews in Der Standard9, in Augustin10 sowie darauf folgend in Radio Augustin11 und nicht zuletzt in Wina. Das jüdische Stadtmagazin12 ersichtlich wird.

2021 wurde mir zudem der Michael-Mitterauer-Preis für dieses Buch zugesprochen. Dieser wird von einem einschlägigen Expert:innengremium entschieden und gilt als eine der renommiertesten Auszeichnungen der Zunft in Österreich. Aus den Gutachten, die zur Verleihung dieses Preises geführt haben, zu zitieren würde wohl den Umfang dieser Replik sprengen. Hier sei lediglich auf das Fazit verwiesen, dass diese „unglaublich kenntnisreich[e], kompetent[e] und detailliert[e]“ Arbeit „zu den hervorragendsten geschichtswissenschaftlichen Werken der jüngsten Zeit“ zählt. Die vollständigen Gutachten habe ich aus gegebenem Anlass und in Rücksprache mit der Leitung des Expert:innengremiums auf meiner Webseite veröffentlicht, wo sie frei eingesehen werden können.13

Eine sachliche, vor allem aber inhaltliche Kritik ist selbstverständlich nicht nur ein zulässiger, sondern ein absolut notwendiger Teil des Wissenschaftsdiskurses. Auch deshalb hätte ich mich über eine ausführliche Darstellung der Fragestellungen, der Quellen- und Literaturbasis, der wissenschaftlichen Methodik sowie deren Umsetzung in meiner Monographie, vor allem wohl aber über eine sachliche und fachkundige Kritik meiner Ansätze gefreut, und hätte mich sehr gerne mit dieser auseinandergesetzt. So kann ich nur bedauernd feststellen, dass eine Arbeit von dieser inhaltlichen und thematischen Bandbreite, die so viele Jahre im Entstehen war und in die so viel Zeit und so viele Ressourcen seitens so vieler Menschen und Institutionen flossen, auf einer für die Zunft so zentralen Plattform wie H-Soz-Kult nicht eine angemessene Rezension erhalten hat, die eben nicht auf die grundsätzlichen Fragen meiner Arbeit eingeht und sich stattdessen in einigen nebensächlichen und zudem falsch rezipierten Details verliert. Die 800-jährige Geschichte der Wiener jüdischen Sepulkralkultur hätte wohl mehr verdient.

Anmerkungen:
1 Auf meiner Webseite können sich Leser:innen ihr eigenes Bild meines wissenschaftlichen Werdegangs machen: https://www.timcorbett.net/de/scholarship (30.01.2023).
2 Auf der Unterseite „Monografien“ auf meiner oben verlinkten Webseite sind Titelei, Inhaltsverzeichnis und Vorwort des Buches frei ersichtlich.
3 Vgl. beispielhaft den programmatischen Artikel Tim Corbett / Klaus Hödl / Caroline Kita / Susanne Korbel / Dirk Rupnow, Migration, Integration, and Assimilation. Reassessing Key Concepts in (Jewish) Austrian History, in: Journal of Austrian Studies 54,1 (Spring 2021). Zugänglich unter: https://muse.jhu.edu/article/784599 (30.01.2023).
4 Anke Geißler-Grünberg, Rezension, in: PaRDeS. Zeitschrift der Vereinigung für Jüdische Studien 27, S. 166–170. Hier frei lesbar: https://www.timcorbett.net/_files/ugd/eeb189_b8c5a65bc50e4cbb8691f6ba68cad8bf.pdf (30.01.2023).
5 Gabriele Kohlbauer-Fritz, Rezension, in: Medaon. Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung 16, S. 1–4. Hier frei lesbar: https://www.medaon.de/de/artikel/tim-corbett-die-grabstaetten-meiner-vaeter-die-juedischen-friedhoefe-in-wien/ (30.01.2023).
6 Monika Halbinger, Rezension, 11. April 2021, in: HaGalil. Jüdisches Leben Online, https://www.hagalil.com/2021/04/die-grabstaetten-meiner-vaeter/print/ (30.01.2023).
7 Joseph Moser, Rezension, in: Journal of Austrian Studies 54/4, S. 158–160. Hier zugänglich: https://muse.jhu.edu/article/819657/pdf (30.01.2023).
8 Evan Burr Bukey, Rezension, in: Contemporary Austrian Studies 31, S. 257–263. Hier frei lesbar: https://www.timcorbett.net/_files/ugd/eeb189_9895ba9472db4bf1b9bdd7dbf469e2d8.pdf (30.01.2023).
9 Gregor Auenhammer, „Aktive Erinnerungsarbeit – das ‚steinerne Archiv‘“, in: Der Standard, 25. Februar 2021, S. 30. Hier frei lesbar: https://www.derstandard.at/story/2000124448719/aktive-erinnerungsarbeit-das-steinerne-archiv (30.01.2023).
10 Florian Müller, „Die stillen Hilferufer der Gräber“, in: Augustin 524, März 2021, S. 16–17. Hier frei lesbar: https://augustin.or.at/die-stillen-hilferufe-der-graeber/ (30.01.2023).
11 „Jüdische Friedhöfe in Wien“, Interview mit Florian Müller, in: Radio Augustin, 19. März 2021, https://cba.fro.at/493846 (30.01.2023).
12 Anita Pollak, Rezension, in Wina. Das jüdische Stadtmagazin 10/1-2, S. 46–47. Hier frei lesbar: https://www.wina-magazin.at/faszinierende-steinerne-freiluftarchive/ (30.01.2023).
13https://www.timcorbett.net/_files/ugd/eeb189_fbca35240a4944d9a412941d0e1ea362.pdf (30.01.2023).


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