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Titel
Gott belohnt, Gott straft. Religiöse Kategorien der Geschichtsdeutung im Frühen und Hohen Mittelalter


Autor(en)
Althoff, Gerd
Erschienen
Darmstadt 2022: wbg
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Weber, Lehrstuhl für die Geschichte des Früh- und Hochmittelalters und Historische Hilfswissenschaften, Ruhr-Universität Bochum

Die Präsenz und der vermeintliche Einfluss Gottes, Jesu Christi oder der großen Gemeinschaft der Märtyrer, Heiligen, Bekenner und Asketen auf die Geschicke der Lebenden lassen sich das gesamte Mittelalter über in unübersehbar vielen Texten nachweisen und bezeugen den unmittelbaren Kontakt zwischen der diesseitigen und der transzendentalen Welt. Heilige offenbarten sich der Vorstellung der Zeit nach vornehmlich in Form von Träumen oder Visionen den Lebenden und griffen so unmittelbar in Lebenswege ein. Der Eingriff Gottes hingegen sei praktisch überall und in jeder Form möglich, was ihn zu einem wichtigen Baustein in der Niederschrift zahlreicher historiographischer Werke habe werden lassen, und insbesondere hagiographische Werke kommen praktisch nicht ohne den Hinweis aus, ihr Protagonist oder ihre Protagonistin habe unter der besonderen Gunst Gottes gestanden, die vielfach zu Lebzeiten und nach dem Ableben zu beobachten gewesen sei. Dem Nachweis und der Kategorisierung von göttlichen Eingriffen in der Geschichtsschreibung des frühen und hohen Mittelalters geht Gerd Althoff in seiner jüngsten monographischen Ausarbeitung nach, hervorgegangen aus dem Cluster „Religion und Politik“ der Universität Münster.

Althoff formuliert zu Beginn thesenartig den Ausgangspunkt der Analyse als Herausforderung für die Quellenarbeit: Erleidet eine hochgestellte Persönlichkeit ein negatives, als göttliche Strafe interpretierbares Schicksal (etwa ein unwürdiger Tod, wie er in jüngster Zeit mehrfach aufgearbeitet worden ist1) versuchen deren Parteigänger alles, eine solche Interpretation zu negieren, während ihre Gegner gerade diese Deutung in den Vordergrund rücken. Die Analyse göttlichen Wirkens in der Historiographie ist damit untrennbar mit der Verortung der Autorinnen und Autoren, ihrer Parteistellungen, generell den Abfassungsbedingungen der Texte verbunden. Erst dadurch kann, so zeigt Althoff an verschiedenen Stellen, die Fülle (oder auch das Fehlen) derartiger Beispiele und deren Bedeutung im Gang der Argumentation des Textes erklärt werden. Das Werk ist chronologisch angelegt. Nach einer umfangreicheren Einleitung (S. 9–41) behandeln vier große Kapitel die Eingriffe transzendentaler Mächte in Werken der Merowinger- und Karolingerzeit (S. 42–93), dem langen zehnten Jahrhundert (S. 94–136), der Salierzeit (S. 137–220) und der Zeit der Staufer (S. 221–264). Der Band schließt mit einem Résumé sowie einem die notwendigen Register enthaltenden Anhang.

Althoff verzichtet weitgehend auf hagiographische Zeugnisse, obwohl gerade in Viten göttliches Eingreifen besonders häufig beobachtet werden kann (wie Althoff anhand der Viten des Bonifatius, Willibrord, Anskar und Otto von Bamberg in seinem zweiten Kapitel auch zeigt). Das Argument, hagiographische Texte seien als weniger glaubwürdig betrachtet worden, hätten vielmehr Fiktion Tür und Tor geöffnet (S. 17), sollte etwas relativiert werden; gerade solchen Darstellungen mögen neben Topik auch viele für die Abfassungszeit typische Vorstellungen entnommen werden. Überhaupt fragt Althoff regelmäßig nach dem Realitätsgehalt analysierter Passagen (etwa bzgl. Beda Venerabilis, Thietmar von Merseburg oder im Rahmen der Überlieferung zum ersten Kreuzzug). Inwiefern dieser Untersuchungskategorie in Bezug auf Passagen göttlichen Eingriffes ein besonderer Stellenwert einzuräumen ist, ist zumindest fraglich. Zurecht geht Althoff anderen Fragen nach, die für die Aufnahme derartiger Passagen ausschlaggebend gewesen sein mögen. Der Fokus richtet sich dementsprechend vorwiegend auf die Historiographie, wenngleich Althoff deutlich macht, welches Potenzial auch die urkundliche Überlieferung und insbesondere Memorialquellen bieten können. Was die Auswahl der historiographischen Texte angeht – unabdingbar bei der Behandlung von insgesamt neun Jahrhunderten auf etwa 300 Seiten –, so ergeben sich hierdurch auch bestimmte inhaltliche Schwerpunkte. So wird etwa im Fall der decem libri historiarum Gregors von Tours, Quelle zahlreicher göttlicher Interventionen, die Person Chlodwigs ins Zentrum gerückt. Ist die Beschränkung hier verständlich, so fällt doch auf, dass im Fall der sehr breiten Überlieferung zum ersten Kreuzzug fast ausschließlich die Fortsetzung Frutolfs herangezogen wird. Dies ist schade, denn besonders eindrückliche Ergebnisse erzielt Althoff, sobald er verschiedene parallel entstandene Quellen einander gegenüberstellt. Nicht zuletzt daher bildet das Kapitel über die während des „Investiturstreits“ entstandenen Texte ein für die Analyse äußerst fruchtbares Umfeld, wobei das herausgearbeitete weitgehende Fehlen transzendentaler Einwirkungen in den zahlreichen Streitschriften des ausgehenden 11. Jahrhunderts durchaus überraschen mag.

Durch das weit gefächerte Panorama gelingt es Althoff, die Präsenz göttlichen Eingriffes als Mittel der Historiographie über viele Jahrhunderte hinweg nachzuverfolgen. Im Ergebnis zeigt sich, dass derartige Schilderungen keiner linearen Entwicklung, sondern deutlich erkennbaren Schwankungen unterliegen. Diese Schwankungen können in einem größeren Rahmen den politischen Umständen geschuldet sein (etwa im Rahmen des „Investiturstreits“, der vielfach zur polemischen, die jeweils andere Partei benachteiligenden Präsenz Gottes herausgefordert hat), aber auch zwischen einzelnen, parallel zueinander entstandenen Werken aufgezeigt werden. Deutlich wird dies etwa im direkten Vergleich zwischen der écriture Ottos von Freising und Rahewins. Während Otto weitestgehend auf die Schilderung göttlicher Einflussnahmen verzichtet, vielmehr Skepsis der eindeutigen Identifizierung solcher Phänomene entgegenbringt, weist Rahewins Fortsetzung von Ottos Gesta Friderici zahlreiche derartige Belege auf.

Althoffs Ausarbeitung legt insgesamt großen Wert auf eine gute und flüssige Lesbarkeit und verzichtet auf viele und umfangreiche Anmerkungen. In der Konsequenz lässt dies wenig Raum für eine Diskussion der vorhandenen Forschung. Hierfür wird nur knapp anhand exemplarischer Titel auf den aktuellen Stand verwiesen, ohne diesen aber konsequent im Text zu berücksichtigen. Exemplarisch wird etwa bei der intensiveren Auseinandersetzung mit den Chroniken Frutolfs sowie seiner Fortsetzer auf die Neubewertung des Anteils Ekkehards von Aura an der Fortsetzung Frutolfs nur in einer Anmerkung verwiesen.2

Insgesamt bietet das Werk ungeachtet der angesprochenen Problemfelder auch dank ausgiebiger Zitation aus einem reichhaltigen Quellenfundus einen guten Überblick über das Wirken Gottes in historiographischen Werken des 6.–13. Jahrhunderts und den dahinter plausibel zu machenden Motivationen, die Autorinnen und Autoren dazu herausgefordert haben mögen, derartige Passagen in ihre Werke zu integrieren. Eine intensive Analyse einzelner Epochen oder einzelner Werke mag in diesem Zusammenhang eine noch tiefergehende Einsicht versprechen.

Anmerkungen:
1 Vgl. Manuel Kamenzin, Die Tode der römisch-deutschen Könige und Kaiser (1150–1349) (Mittelalter-Forschungen 64), Ostfildern 2020; Mike Janßen, Wie das Leben so der Tod. Sterbedarstellungen von Kaisern und Königen in der Historiographie des früheren Mittelalters (Studien zu Macht und Herrschaft 4), Göttingen 2021; Matthias Weber, Der Bischof stirbt. Zu Form, Funktion und Vorstellung bischöflicher Todesberichte (6.–12. Jahrhundert) (Orbis mediaevalis 20), Göttingen 2023.
2 Vgl. Thomas John Henry McCarthy, The Continuations of Frutolf of Michelsberg’s Chronicle (MGH Schriften 74), Wiesbaden 2018.

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