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Titel
(K)ein Austrofaschismus?. Studien zum Herrschaftssystem 1933–1938


Herausgeber
Moos, Carlo
Erschienen
Münster 2021: LIT Verlag
Anzahl Seiten
524 S.
Preis
€ 30,64
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Helmut Konrad, Zeitgeschichte, Universität Graz

Ist die Bezeichnung „Austrofaschismus“ zutreffend?

In eine Mischung aus Politik- und Wissenschaftsgeschichte taucht der verdienstvolle Sammelband: „(K)ein Austrofaschismus? Studien zum Herrschaftssystem 1933–1938“, den Carlo Moos, der Züricher Emeritus für die Geschichte der Neuzeit, für den LIT-Verlag herausgegeben hat, ein. Auf gut 500 Seiten findet man neue Studien und ältere Texte, klug eingeleitet und zusammengefasst durch den Herausgeber. Es muss für ihn als Schweizer schon erstaunlich gewesen sein, in all den verdienstvollen Analysen zum Herrschaftssystem von 1933 bis 1938 in Österreich neben den fachimmanenten Positionierungen und Kontroversen fast durchgängig auch ein (partei-)politisch motiviertes „Wording“ festzustellen.

Die Jahre 1933 bis 1938 sind in der österreichischen Geschichte recht gut erforscht. Emmerich Tálos hat dazu grundlegende Arbeiten vorgelegt, und Helga Embacher, Lucile Dreidemy, Markos Wurzer, Linda Erker oder Florian Wenniger konnten wesentliche Erkenntnisse durch die genaue Sichtung einzelner Aspekte jener Jahre hinzufügen. Auch Gerhard Botz, Ernst Hanisch, Dieter Binder, Michael Gehler, Helmut Wohnout oder Oliver Rathkolb konnten für diesen Sammelband wesentliche Beiträge liefern, deren Stärke vor allem in den gelieferten größeren Zusammenhängen und Einschätzungen liegt. Binder konnte etwa darauf hinweisen, dass selbst der österreichische Bundespräsident Wilhelm Miklas keine Scheu hatte, das politische System 1933/34 als Austrofaschismus (ohne Anführungszeichen) zu bezeichnen. In der Selbsteinschätzung der damals Handelnden und deren Beobachtern war man also faschistisch.

Binder ist es auch, der in seinem Beitrag deutlich macht, dass die Kontroversen rund um den Begriff „Austrofaschismus“ zur Kennzeichnung der Diktatur unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzten, als es im ideologischen Wettstreit der beiden großen Parteien darum ging, die Deutungshoheit über die Geschichte zu erlangen. Charles Gulick hatte mit seinem monumentalen Werk „Österreich von Habsburg zu Hitler“ die sozialdemokratische Sichtweise vorgegeben, die konservative Antwort erfolgte wenige Jahre später durch Heinrich Benedikts Sammelband „Geschichte der Republik Österreich“, der 1954 erschien, auch im Ringen um den damals noch ausständigen Staatsvertrag die „Opferthese“ stütze und damit den Abwehrkampf gegen das nationalsozialistische Deutschland betonte.

Die einzelnen Beiträge des Sammelbandes verdeutlichen, dass es in der Beurteilung der diktatorischen, antidemokratischen, die Menschenrechte verletzenden Grundhaltungen des damaligen Regimes nicht allzu viele grundlegende Unterschiede in der Beurteilung mehr gibt. In zahlreichen Einzelstudien wird verdeutlicht, wie sehr das damalige Regime tatsächlich versucht hat, abweichende politische Positionen in allen Lebensbereichen zu erschweren oder tatsächlich auszuschalten. Und obwohl Österreich etwa damals noch als Ort des Überlebens für Jüdinnen und Juden gesehen werden kann, war Antisemitismus hier nicht fremd. Diesen in der Bevölkerung tief verwurzelten Antisemitismus bekamen wohl nicht nur die Lehrenden und Studierenden an den österreichischen Universitäten zu spüren. Aber es bleibt noch immer das Ringen um die prinzipielle Frage, ob heute von einem damaligen Faschismus gesprochen werden kann. Die im Band dazu wiedergegebene Kontroverse zwischen Gerhard Botz und Robert Menasse liest sich noch immer erfrischend und köstlich, eine literarische Perle, aber für die Gesamtbeurteilung wenig hilfreich.

Die Verweise auf den „Austromarxismus“, die sich an manchen Stellen finden, bieten keine ausreichende Hilfe. „Marxismus“ ist klarer als „Faschismus“ historisch zu fassen, es steht eine relativ geschlossene Theorie dahinter, und der Austromarxismus verwendet einerseits manche der darin enthaltenen Grundlagen, weicht aber das materialistische Grundverständnis deutlich auf und widmet sich, vor allem in der nationalen Frage, konkreten Problemen der Habsburgermonarchie. Er ist auch „Austro“ nur dann, wenn man die österreichische Reichshälfte der Monarchie damit meint, also einen größeren Österreichbegriff meint, sonst würde man slowenische oder tschechische Beiträge ausschließen. Und sicher ist er, trotz der spezifisch österreichischen Thematiken, stark an Deutschland orientiert und hat sogar eine deutschnationalen Grundtönung. Ohne Zweifel ist er aber eine Weiterentwicklung oder zumindest Spielart des Marxismus. Da aber unter „Faschismus“ im Gegensatz zum Marxismus eher ein „work in progress“ zu sehen ist, bleibt für den „Austrofaschismus“ zwar ein klareres „Austro“, aber ein viel unschärferes „Faschismus“ zu konstatieren. Wenn man aber zu den unverzichtbaren Wesensmerkmalen des Faschismus die aggressive, auf Expansion ausgerichtete Außenpolitik zählt, würde nicht nur die österreichische Version aus dem Kreis der faschistischen Systeme hinausfallen, sondern wohl auch manch andere Spielart, vor allem in den kleineren Staaten des östlichen Zentraleuropas, sondern auch Spanien. Und unter Einbeziehung der religiösen (katholischen) Komponente wird eine Zuordnung noch komplizierter.

Wenn Florian Wenniger die These aufstellt, dass es in Österreich zu einer „Faschisierung von oben“ gekommen ist, eine Ansicht, die letztlich auch der Herausgeber zu akzeptieren scheint, ist die Bezeichnung „Austrofaschismus“ durchaus vertretbar und wissenschaftlich nicht nur als politischer Kampfbegriff zu lesen. Jedenfalls bietet der Sammelband, in dem praktisch alle Standpunkte ihren Platz zur Darlegung der Argumente gefunden haben, eine anregende Lektüre, die die Tretminen, die sich immer noch – wie aktuelle politische Auseinandersetzungen zeigen – auf diesem Feld zu befinden scheinen, entscheidend entschärfen kann. Der nüchterne Blick von außen, den der Herausgeber dazu einbringt, kann als ein wesentlicher Schritt in diese Richtung angesehen werden. So liegt ein wertvolles Kompendium vor, das eine große Verbreitung verdient.

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