T. Holzhauser: Demokratie, Nation, Belastung

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Title
Demokratie, Nation, Belastung. Kollaboration und NS-Belastung als Nachkriegsdiskurs in Frankreich, Österreich und Westdeutschland


Author(s)
Holzhauser, Thorsten
Series
Historische Zeitschrift / Beihefte (80)
Published
Extent
186 S.
Price
€ 72,95
Reviewed for H-Soz-Kult by
Arnd Bauerkämper, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Der Umgang mit Kriegsverbrechern und anderen Belasteten der NS-Diktatur und Kollaborationsregimes in West- und Mitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg ist bereits umfassend untersucht worden. Auch zu dem – in vielen Staaten schwierigen – Wieder- bzw. Neuaufbau der Demokratie liegen zahlreiche Studien vor. Demgegenüber hat das Verhältnis zwischen der Auseinandersetzung mit NS-Belastung, der Demokratisierung und dem Wiederaufbau der Nationen bislang deutlich weniger Aufmerksamkeit gefunden, auch in der Transformations- bzw. Transitionsforschung. Dieses Defizit greift Thorsten Holzhauser mit seiner vergleichs- und verflechtungsgeschichtlichen Studie zu den vergangenheits- und demokratiepolitischen Diskursen in Westdeutschland, Österreich und Frankreich von 1945 bis zur Mitte der 1950er-Jahre auf. Damit werden unterschiedliche Länder behandelt, in denen – so die leitende These des Verfassers – „das Zusammenspiel von Belastung, Redemokratisierung und nationaler Rekonstruktion […] ein komplexes und widerspruchsreiches Problemfeld“ (S. 15) bildete. Obgleich die Debatten über das Verhalten unter nationalsozialistischer Herrschaft, die Nation und Demokratie in den drei Staaten deutliche Ähnlichkeiten aufwiesen, differierte der Umgang mit der Kategorie „politische Belastung“, sowohl im Hinblick auf die Diskurse als auch hinsichtlich der damit jeweils verbundenen politischen Maßnahmen.

In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte die Bestrafung von NS-Belasteten vor. Dazu gehörten in Westdeutschland, Österreich und Frankreich zunächst nicht nur Kriegsverbrecher, hochrangige Repräsentanten des „Dritten Reiches“ und führende Kollaborateure des Vichy-Regimes, sondern auch viele Mitglieder der NSDAP bzw. untergeordnete Anhänger des „État français“ Philippe Pétains sowie die französischen Faschisten. In dieser Phase entsprach eine umfassende politische „Säuberung“ den vorherrschenden Vorstellungen nationaler Loyalität, Identität und „Ehre“. Zudem wurde die gründliche Sanktionierung mit den Zielen begründet, die Souveränität der noch ungefestigten Nachkriegsstaaten zu sichern und die Redemokratisierung zu unterstützen. Entgegen den auch in der Geschichts- und Politikwissenschaft geläufigen Interpretationen war das Verhältnis zwischen der Bestrafung von NS-Belasteten und der Wiedererrichtung demokratischer Ordnungen in Westdeutschland, Österreich und Frankreich aber durchaus komplex. So argumentierten Anhänger eines nachsichtigeren Umgangs mit nominellen „Parteigenossen“ bzw. untergeordneten Kollaborateuren, dass der Ausschluss dieser Personengruppen von der politischen Mitwirkung – vor allem bei Wahlen – demokratische Grundsätze verletze. Allerdings überschätzt Holzhauser den Stellenwert dieser Kritik für den Übergang zur Politik der Amnestierung, die sich in den drei Ländern seit den späten 1940er-Jahren vollzog. Dazu trug vielmehr auch der Wandel übergreifender Rahmenbedingungen bei, so der Beginn des Kalten Krieges, der in dem Buch kaum erwähnt wird.

Zu Recht und zutreffend arbeitet der Verfasser wichtige Unterschiede zwischen Westdeutschland, Österreich und Frankreich in diesem Übergang heraus. So war der Widerstand gegen die Amnestierung unter den französischen Nachkriegseliten besonders stark, denn ein nachsichtigerer Umgang mit Kollaboration widersprach der Verehrung der „Résistance“, die zu den Grundlagen der Vierten Republik (1946–1958) und der nationalen Rekonstruktion gehörte. Demgegenüber vollzog sich in Österreich schon im Anschluss an das „Nationalsozialistengesetz“ vom 6. Februar 1947 eine diskursive und politische Wiedereingliederung der „Ehemaligen“. 1948/49 ließ die Regierung „Minderbelastete“ und Jugendliche amnestieren und aus den Listen der registrierten Nationalsozialistinnen und Nationalsozialisten streichen. Umstrittener blieb die Einengung der Kategorie „politische Belastung“ in Westdeutschland und besonders in Frankreich. Hier vollzog sich der Übergang vom Belastungs- zum Entlastungsdiskurs in den späten 1940er- und frühen 1950er-Jahren langsamer. Auch die Rechtfertigung der Reintegration mit humanistischen Werten und der Notwendigkeit, die Versöhnung voranzutreiben und die Demokratisierung zu unterstützen, blieb trotz der Amnestiepolitik – so in der Bundesrepublik mit den Straffreiheitsgesetzen von 1949 und 1954 sowie dem „131er-Gesetz“ (zur Wiedereingliederung zuvor bestrafter Beamter 1951) – umstrittener und weniger überzeugend als in Österreich. Hier war das Bedürfnis, vor allem die nationale Souveränität gegenüber den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges, aber auch in Abgrenzung von der Bundesrepublik zu sichern, offenbar besonders einflussreich und wirkmächtig. Der Abschluss des Staatsvertrages, in dem ein Hinweis auf die Mitschuld Österreichs am Zweiten Weltkrieg noch kurz vor der Unterzeichnung (am 15. Mai 1955) aus der Präambel gestrichen wurde, sicherte zwar die Unabhängigkeit der Alpenrepublik. Jedoch erwiesen sich der Diskurs und die Politik der Amnestie – mit dem apologetischen Narrativ, „erstes Opfer“ des NS-Regimes gewesen zu sein – in Österreich als eine erhebliche Belastung der Demokratie.

Besonders in diesem Land trugen zur Entlastung von Tätern auch Bezugnahmen auf andere Staaten bei. Über den Vergleich hinaus rekonstruiert und analysiert Holzhauser überzeugend, wenngleich notwendigerweise selektiv, diese grenzüberschreitenden Wahrnehmungen. So verwiesen Anhänger im österreichischen Nationalrat auf die Reintegration belasteter Nationalsozialisten in Westdeutschland, um ihre Forderung nach einer Amnestierung der „Ehemaligen“ zu rechtfertigen. Dagegen blieb der Umgang mit Kollaborateuren in Frankreich weitgehend eine innenpolitische Auseinandersetzung. In der Vierten Republik wurde die „Säuberung“ („épuration“) vorrangig in den Dienst der Großmachtpolitik gegenüber Deutschland, aber auch gegenüber den anderen Siegermächten des Zweiten Weltkrieges (vor allem den USA und Großbritannien) gestellt. Weitaus deutlicher war der Widerspruch zwischen der Bezugnahme auf ausländische Vorbilder (die jeweils zur Entlastung oft konstruiert und strategisch genutzt wurden) einerseits und der Abwehr externer Eingriffe andererseits in Österreich und Westdeutschland. Hier trug besonders die teilweise schroffe Zurückweisung der „Reeducation“ bzw. „Re-Orientation“ zum Übergang vom Belastungs- zum Entlastungsdiskurs bei. Das Beharren auf staatlicher Souveränität erschwerte damit die Demokratisierung nach westlichen Vorbildern. Zugleich erleichterte es den Prozess aber auch, indem die Hinwendung zur Demokratie und ihre Einwurzelung als eigene Entscheidung und indigene, autonome Entwicklung legitimiert werden konnten. Diese Dialektik hätte in dem Buch deutlicher konturiert werden sollen.

Zudem bleibt die besondere Rolle der Nation in den Diskursen über NS-Belastung und Demokratisierung in Westdeutschland und in Österreich unterbelichtet. So waren gesamtdeutsche Bezüge auch nach der Gründung der Bundesrepublik einflussreich, besonders in der Auseinandersetzung mit der DDR im übergreifenden Rahmen des Kalten Krieges. Österreich agierte bis 1918 als Führungsmacht im multiethnischen Habsburgerreich. Es war mit dem „Ausgleich“ von 1867 zur Doppelmonarchie geworden, nachdem das Imperium im vorangegangenen Jahr aus dem Prozess der Reichsbildung in Deutschland ausgeschlossen worden war, an dem sich die im November 1918 proklamierte Republik Deutsch-Österreich gleichwohl verstärkt orientierte. Die Abgrenzung vom „Anschluss“ durch das NS-Regime (im März 1938) blendete diese Ambivalenzen in den diskursiven und politischen Bezugnahmen zur „Nation“ nach 1945 aus. Auch Holzhausers Buch stellt diese Komplexität der Kategorie „Nation“ in der Bundesrepublik und Österreich nicht hinreichend in Rechnung. Eine zumindest punktuelle Erweiterung der zeitlichen Perspektive hätte ein besseres Verständnis ermöglicht.1

Jedoch ist dabei zu berücksichtigen, dass die Nation in der Debatte über NS-Belastung, auf die sich das Buch konzentriert, kaum problematisiert wurde. Zudem eröffnen die grenzüberschreitenden Perspektiven – besonders die zeitgenössischen Vergleiche mit anderen Ländern – instruktive Einsichten, welche die Binnensicht auf die Auseinandersetzung mit der variierenden Kategorie „politische Belastung“ überwinden. Darüber hinaus zeigt Thorsten Holzhausers Studie erstmals systematisch und komparativ, dass das Verhältnis zwischen der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit und der Demokratisierung in Westdeutschland, Österreich und Frankreich keineswegs eindeutig, sondern durchaus widersprüchlich war. Die neuen Demokratien konnten erst nach 1955 nachhaltig stabilisiert werden.

Anmerkung:
1 Vgl. z.B. Martin Conway / Pieter Lagrou / Henry Rousso (Hrsg.), Europe’s Postwar Periods – 1989, 1945, 1918. Writing History Backwards, London 2019.

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