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Title
Der Schatz der Nibelungen. Mythos und Geschichte


Author(s)
Oberste, Jörg
Published
Bergisch Gladbach 2008: Verlagsgruppe Lübbe
Extent
304 S.
Price
€ 19,95
Reviewed for H-Soz-Kult by
Matthias Hardt, Geisteswissenschaftliches Zentrum und Kultur Ostmitteleuropas Leipzig, GWZO

Inhalt und Stoffgeschichte des Nibelungenliedes faszinieren trotz lang anhaltender ideologischer Instrumentalisierung im 19. und 20. Jahrhundert weite Kreise bis zum heutigen Tag. Jörg Oberste, Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Regensburg, nimmt die deutlichen Nibelungen-Anklänge in Tolkiens „Herr der Ringe“ zum Anlass, in einem „Artur und allen kleinen Rittern und Prinzessinnen“ gewidmeten Buch, das auch als Begleitbuch einer Fernsehserie der ARD diente, „Mythos und Geschichte“ im Nibelungenlied darzustellen und dabei den aktuellen philologischen, historischen und archäologischen Forschungsstand zu berücksichtigen. Der „Staatsschatz der Nibelungen“, der im Epos des Passauer Dichters aus der Zeit um 1200 die beiden Hauptteile um „Siegfried und Brünhild“ und den „Nibelungenuntergang“ zusammenhält, dient auch Jörg Oberste nur als spektakulärer Titel seines Buches, denn in dem locker und ohne wissenschaftlichen Apparat geschriebenen Band wird der Versuch unternommen, die schwer zu durchschauenden, aus nordischen Mythen, der Geschichte der Völkerwanderungs- ebenso wie der Stauferzeit entnommenen und weiter entwickelten Handlungsstränge, ihre Überlieferung hin zum Nibelungenlied und schließlich dessen Rezeptionsgeschichte bis zur Gegenwart verständlich zu machen.

Nach einer Einführung (Spurensuche – Der lange Weg der Nibelungen, S. 8-27) stellt Jörg Oberste „Runensteine und Heldenlieder – die ältesten Spuren der Nibelungen“ vor (S. 28-69). Es sind zunächst szenische Darstellungen auf Runensteinen, Stabkirchen und Grabbeigaben, die aufgrund späteren Kenntnisstandes als Abbildungen nibelungischen Stoffes interpretiert werden können. Sie gehen, wie wohl auch die erst im 13. Jahrhundert aufgezeichneten, aber deutlich älteren Lieder um Atli und Sigurd in der Lieder-Edda, bis ins 9. Jahrhundert zurück, in die gleiche Zeit, als auf dem Kontinent mit dem Hildebrandslied und dem lateinischen Waltharius-Epos und etwas später in England mit dem Beowulf verschriftlichte Heldendichtung feststellbar ist.

Aus diesen „alten maeren“ mündlicher, aber eben auch schon schriftlicher Überlieferung schöpfte der Dichter des „mittelhochdeutsche[n] Nibelungenlied[es]“, das im Kapitel III in der Abfolge seiner 39 Aventiuren inhaltlich vorgestellt wird (S. 70-125). Zwischen Siegfrieds Ankunft am mittelrheinischen Burgunderhof und dem Untergang der in der zweiten Hälfte des Epos als Nibelungen bezeichneten Burgunderkönige und ihres Heeres an der Residenz des Hunnenkönigs Etzel breitet sich das ganze Spektrum einer Erzählung um persönliche Bindungen und vasallitische Treue, Betrug, Mord und Rache aus und gipfelt schließlich in Kriemhilds inzwischen völlig unzeitgemäß gewordener Hortforderung. Dieses alte Element liedhafter Überlieferung vom Burgundenuntergang ist für Jörg Oberste dann Anlass, seinem Buchtitel angemessen, im IV. Kapitel die mythischen und heroischen Traditionen des Nibelungenstoffes in Völkerwanderungs- und Merowingerzeit, vielleicht sogar in der Römischen Kaiserzeit auszubreiten (Drachenschätze und Völkerschlachten – Mythos und Geschichte in der Nibelungensage, S. 126-189).

Der von einer hunnischen Foederatenarmee in römischen Diensten herbeigeführte Untergang des rheinischen Burgunderreiches in den 430er-Jahren, Attilas Tod an der Seite Ildicos im Jahr 453 und die Auseinandersetzungen zwischen den merowingischen Teilreichen in der Mitte und der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts sind der geschichtliche Nährboden des Epos, daneben aber wohl auch schon Lieder um den Sieg des Arminius in der Varusschlacht und seine Ermordung im Streit mit den eigenen Verwandten. Aber nicht nur Heldenlieder und Mythen, die Oberste etwas allgemein als „Erzählungen aus der Vorzeit einer Gemeinschaft“ definiert, sondern auch zahlreiche Anleihen aus der höfischen Kultur der Kreuzzüge und der Stauferzeit haben Eingang in die nibelungischen Dichtungen gefunden wie lokale Umdeutungen und regionale Anpassungen.

Aus diesem Grund befasst sich der Autor im V. Kapitel mit den von den unterschiedlichen Ausformungen der Dichtung präsentierten Orten der Handlung (Attila in Soest – Schauplätze und lokale Nibelungen-Traditionen, S. 190-245). Den westfälischen Ort Soest präsentiert die norwegische Thidrekssaga aus dem späten 13. Jahrhundert als Schauplatz des Nibelungenuntergangs, inspiriert wahrscheinlich durch Erzählungen niederdeutscher hansischer Kaufleute. Man braucht deshalb nicht wie Heinz Ritter-Schaumburg phantasiereich die Nibelungen nordwärts ziehen lassen; vielmehr wird daran zu denken sein, dass in die im nördlichen Deutschland erzählten Versionen des Nibelungenstoffes örtliche Namen und Verkehrswege Eingang gefunden hatten. „Regionalisierungen dieser Art sind für mittelalterliche Erzählungen nicht untypisch, da sie als Identifikationsangebot für die Hörer und Leser solcher Dichtungen verstanden werden können.“ (S. 203) Xanten und Worms gehören in ältere Ebenen der Stoffgeschichte, ohne dass ihr Zusammenhang mit den Anfängen sicher ist. Die Identifizierung jenes Tronje, aus dem der Mörder Siegfrieds kam, schwankt zwischen der Herleitung von fränkischen Troja-Mythen und den Sitzen staufischer Reichsministerialer. Die zahlreichen Lokalisierungen der Brunnen im Odenwald, an denen Siegfried ermordet worden sein soll, sind dagegen erst in den vergangenen beiden Jahrhunderten vorgenommen worden.

Damit ist bereits der Zugang zum letzten Kapitel (Macht der Mythen – die moderne Suche nach den Nibelungen, S. 246-291) erreicht, in dem der Umgang mit dem Nibelungenstoff seit der frühen Neuzeit geschildert wird. Das von einem Regensburger Geistlichen verfasste Kudrun-Epos, ein „gescheiterter Versuch der Höfisierung“ des Nibelungenstoffes (S. 248) und die Volksbücher der frühen Neuzeit waren wie die nach der Wiederauffindung der drei bis heute maßgeblichen Handschriften des Nibelungenliedes im 18. Jahrhundert einsetzenden Bühneninszenierungen, unter denen Friedrich Hebbel und Richard Wagner besonders hervorgehoben werden müssen, Bemühungen um die Bewältigung der epischen Erzählung. Nicht erst durch den Bayreuther Spielbetrieb, von diesem aber ebenso wie durch Fritz Langs filmische Inszenierung befördert, erhielt die Nibelungentreue Eingang in die Kriegsrhetorik, die in Hermann Görings Nibelungenrede vom Januar 1943 mit Bezugnahme auf die in Stalingrad eingeschlossene 6. Armee und die von Wagners Trauermarsch umrahmte Rundfunkmeldung vom Tod Adolf Hitlers am 30. April 1945 ihre Höhepunkte fand. Bayreuth spielte schon 1951 wieder und versucht sich bis heute an modernen Zugängen zum Ring der Nibelungen.

Am Ende seiner Darstellung heißt es bei Jörg Oberste: „Auf den Spuren der Nibelungen lässt sich die Geschichte von Jahrhunderten aufspüren, die Hoffnungen und Ängste von Menschen, die verbindende und zerstörerische Kraft von Mythen, die Chancen und Grenzen der Wissenschaften, die verschlungenen Wege durch das schattenhafte Gestern und durch das vielschichtige Heute“ (S. 291). Dies zu zeigen, ist dem Autor wirklich gelungen, denn das Buch enthält weit mehr, als der lediglich auf den Nibelungenschatz bezogene Titel andeutet. Nahezu alle Aspekte der Nibelungen-Forschung sind in dem populärwissenschaftlich geschriebenen Band angesprochen worden. Ob Jörg Oberstes lockere Art zu schreiben jedoch den schwierigen Stoff wirklich den oft vielleicht noch jugendlichen Lesern näher zu bringen vermag, darf mindestens bezweifelt werden. Auf jeden Fall geht dieser Stil auf Kosten der Qualität. Da ist von „hunnischen Verdrängungskämpfen gegen germanische Völker“ (S. 236) die Rede, wo solche Gentes in eine reiternomadische Herrschaft integriert wurden, oder dem angeblich im Auftrag Friedrich Barbarossas vom Kölner Erzbischof Philipp von Heinsberg aus Mailand nach Köln entführten Dreikönigsschrein, „wo er bis heute eine wesentliche Attraktionen des Kölner Doms ist“ (S. 220), was eben nur die Reliquien betrifft, nicht aber den Schrein, der erst in Köln angefertigt wurde.

Die archäologischen Kenntnisse von Jörg Oberste sind überhaupt bisweilen grenzwertig. Das Pektorale aus dem Grabfund im mittelrheinischen Wolfsheim mit der inschriftlichen Nennung des sassanidischen Königs Ardaschir ist für ihn Zeugnis eines „Fernhandel[s] mit Luxuswaren“ (S. 170), obwohl hier eher an persönliche Beziehungen und Gabentausch auf verschiedenen Ebenen und unbekannten Wegen zu denken ist, vielleicht auch an jene tatsächlich iranischsprachigen Alanen, die wenige Seiten später von Oberste jedoch als „germanisch“ charakterisiert werden (S. 173). Die angebliche Münze der Königin Brunichildis, die auf den Seiten 178f. abgebildet wird, ist ein in Worms geschlagener Triens des Münzmeisters Dodo, dessen Beziehung zu der merowingischen Königin jedoch höchst spekulativ ist. Reich ausgestattete Gräber, zum Beispiel solche mit goldbeschlagenen Reflexbögen aus dem hunnischen Bereich, sind für Jörg Oberste häufig „Adelsgräber“, obwohl anhand der Grabbeigaben nur in den seltensten Fällen etwas über die Rechtsstellung der Bestatteten ausgesagt werden kann (S. 174).

Während solche Aussagen mit Oberstes geringem Kenntnisstand der aktuellen Fachdiskussion erklärt werden können, sind weitere Fehler einfach nur ärgerlich: so soll Ammianus Marcellinus der erste gewesen sein, der behauptete, Attila sei von Ildico ermordet worden (S. 176), obwohl der spätantike Historiograph schon im Jahr 395, der Hunnenkönig aber erst 453 starb. Theoderich der Große soll wie Aetius Geisel am Hunnenhof gewesen sein (ebd.), obwohl er erst nach der Schlacht am Nedao im Jahr 454 wohl in Pannonien das Licht der Welt erblickte. Tatsächlich war der spätere König der Ostgoten in jungen Jahren Geisel am Kaiserhof in Byzanz. Auch bei den Abbildungen ist Oberste eine Panne passiert: auf S. 235 wird nicht, wie der Bildtext angibt, die arpadische Königsburg Gran gezeigt, sondern der in anderem Zusammenhang erwähnte niederösterreichische Aggstein.

Das Buch, dem trotz dieser Mängel eine zahlreiche Leserschaft zu wünschen ist, enthält insgesamt 115 Abbildungen sowie fünf Karten und wird durch eine Zeittafel (S. 292f.), ein viel zu kurzes Literaturverzeichnis (S. 294-296) und ein ausführliches Register (S. 297-303) abgeschlossen.

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