Republik ohne Republikaner. Dieser Claim, der so erfolgreich einen ganzen (vorrangig sozial- wie politikgeschichtlichen) Forschungsstrang der Geschichtswissenschaft zur Weimarer Republik zusammenfasst, grundiert Jill Gossmanns Studie über gesundheitspädagogische Diskurse in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren. Auch ihr geht es darum, einen Beitrag zu der allgemeinen Problemstellung zu leisten, wie die so moderne Demokratie scheitern konnte. Eine dabei unter dem Slogan subsumierte These ist, „Weimar“ sei durch einen Mangel an zivilgesellschaftlichen Unterstützer:innen ausgehöhlt gewesen und hätte den antidemokratischen Kräften, die sie missbrauchten, angesichts der überhohen Aufgaben nicht genug entgegensetzen können. Aber am Ende sei die Demokratie angesichts der außen-, innen- und sozialpolitischen Herausforderungen sowie ihrer strukturellen Defizite schlichtweg überfordert gewesen.1
Welche Rolle die Ärzteschaft bei der Unterminierung der politischen Kultur spielte und wie sich ihre Berufsidentitäten mit den fragmentierten politischen Milieus der Republik überschnitten, steht im Zentrum von Gossmanns Buchversion ihrer 2018 abgeschlossenen Dissertation. Die Sonde, die sie dafür verwendet, mag auf den ersten Blick überraschen: hygienische Volksbelehrung, wie das kommunikative Bemühen, qua Vermittlung hygienischen Wissens präventives Verhalten zu befördern und somit Krankheit zu verhindern, bezeichnet wurde. Auf den zweiten Blick erscheint die Verbindung von Gegenstand und Forschungsinteresse durchaus erfolgversprechend, handelte es sich doch bei hygienischer Volksbelehrung um ein in der Weimarer Republik Fuß fassendes, wohlfahrtsbezogenes Set an kommunikativen Praktiken, die nicht nur in Organisationen Institutionalisierung fanden. Hygienische Volksbelehrung entwickelte sich auch als ein distinktes Berufsfeld für Pädagog:innen, Medienschaffende, Werbefachleute, Kaufleute und Mediziner:innen, in dem diese die eigenen Praktiken und Wissensbestände fortwährend selbst reflektierten. Gossmann zufolge verhandelten Mediziner:innen in diesem Feld ihre berufliche und gesellschaftliche Identität, sprich die Rolle und Position ihrer Profession in der neuen demokratischen Umwelt. Kurzum: Inwiefern sich das interdisziplinäre Projekt der hygienischen Volksbelehrung eine politische Teilkulturen übergreifende Sprache und Kooperation erarbeitete und dadurch eine sozialintegrative Kraft entfaltete und wie sich die Ärzteschaft zu und in diesem Bereich verhielt, ist hier die Fragestellung.
Die Autorin greift dazu zum Mittel der Diskursanalyse: Anhand von medizinischer Fachpresse, Schriftwechseln aus den Organisationen bzw. Veranstaltern der hygienischen Volksbelehrung (allen voran dem 1923 gegründeten Reichsausschuss für hygienische Volksbelehrung und dem Deutschen Hygiene-Museum Dresden) sowie populärwissenschaftlichen und „gesundheitspädagogischen“ Publikationen, Ausstellungsführern und Begleitbüchern rekonstruiert Gossmann weniger die Sagbarkeitsregeln der Volksbelehrung. Den gesundheitspädagogischen Diskurs – hierbei handelt es sich um den analytischen Begriff der Autorin – erschließt sie vielmehr über die Rekonstruktion von Leitbildern, begrifflichen Bedeutungszuschreibungen und Deutungsmustern von Gesundheit, Krankheit, Gesunderhaltung und dem Verhältnis von Expert:innen und Laien in der Wissenskommunikation der aus unterschiedlichen politischen Milieus kommenden Akteur:innen.
Die Studie gliedert sich dafür in drei, sehr ungleichgewichtige Kapitel. Im ersten vermisst Gossmann den Ärztestand in der Weimarer Republik hinsichtlich seiner Wissens-, Berufs- und politischen Kulturen sowie seines Engagements für die hygienische Volksbelehrung. Hier wird deutlich, dass das Berufsfeld der Mediziner:innen sich mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates in der Weimarer Republik wandelte. Im Zuge der Kommunalisierung des Systems der Gesundheitsfürsorge waren es die neuen und zumeist jungen, überdurchschnittlich oft von den sozialen „Rändern“ der Gesellschaft kommenden Kommunal-, Beratungs-, Vorsorge- und Stadtärzt:innen aus dem linksliberalen bis sozialdemokratischen Milieu, die maßgeblich die hygienische Volksbelehrung trugen – als Autor:innen, Redner:innen, Organisator:innen, Behandler:innen und Mitarbeiter:innen der beteiligten Vereine und Ausschüsse.2 Die Standesvertreter:innen der Ärzteschaft, so fasst die Autorin den Forschungsstand kenntnisreich zusammen, agierten gleichwohl vorrangig konservativ. Sie kaprizierten sich auf das Leitbild des niedergelassenen Arztes und bekämpften rhetorisch wie politisch die durch die Kurierfreiheit bestehende Konkurrenz durch die (nicht akademisch ausgebildeten) Heiler:innen mit Nähe zur Naturheilbewegung („Kurpfuscher“) sowie den Einfluss der Krankenkassen mit ihrem Modell der in Ambulatorien tätigen Kassenärzt:innen.
Ist das Feld damit skizziert, beginnt die eigentliche Quellenarbeit am gesundheitspädagogischen Diskurs, mit Kapitel 3 – auf Seite 107 etwas spät und mit fast 270 Seiten recht ausschweifend. Hier schlägt Gossmann vier Schneisen: Die (Selbst-)Positionierung der Ärzte:innen (3.1.), die pädagogischen Leitbilder (3.2.), die Medien und Inhalte (3.3.) sowie die Deutungsmuster der hygienischen Volksbelehrung (3.4.). Während Kapitel 3.1. nochmals das Interesse der Ärzteschaft an der hygienischen Volksbelehrung – Prävention und berufspolitische Öffentlichkeitsarbeit – sowie das Milieus übergreifende paternalistische Selbstverständnis elaboriert, wird in Kapitel 3.2. das Grundverständnis der hygienischen Volksbelehrung herausgearbeitet: Eine „Willensbildung“ (S. 170) zu gesundheitsgerechtem Verhalten zu befördern, und Debatten der „Professionals“, wie dies am besten zu schaffen sei. Einigkeit zwischen Linken und Rechten bestand darin, anschauliche, behutsam emotionalisierende und nicht zu komplexe Wissenskommunikation zu betreiben, welche die ärztlichen Sorgen davor, Hypochondrie und Selbstbehandlung zu fördern, ernst nahmen und nicht mit kommerziellen Interessen assoziiert wurden. Uneinig waren sich Belehrer:innen, Aufklärer:innen oder Erzieher:innen abhängig von ihrer politischen Orientierung im Grad der Autorität, die sie in der Kommunikation einnehmen sollten, sowie im Maß der Diffamierung der Naturheilkunde. Dass sie sich auch darüber weitgehend einig waren, dass dem Ziel einer Verhaltensprägung Vorrang vor der Wissensvermittlung eingeräumt werden sollte, zeigte sich auch in der Medialität der hygienischen Volksbelehrung. Simplifizierende, negativ wie positiv emotionalisierende Persuasionsstrategien aus der Werbung galten als legitim, solange sie dem übergeordneten Ziel der (Volks-)Gesundheit dienten. Letztlich kann Gossmann vor allem im Unterkapitel zu den Medien, das sich der Reflexion der (Bedingungen der) unterschiedlichen medialen Wirkungspotenziale widmet, den professionellen Kern der hygienischen Volksbelehrung herausarbeiten. Am Ende des 3. Kapitels zeigt die Autorin an den Beispielen der Aufklärung über Tuberkulose, Krebs, das Impfen und „gesunden Nachwuchs“ noch, dass ihre idealtypisch rekonstruierten medizinischen Großdeutungen (Eugenik, Sozialhygiene und Bakteriologie) zumeist in pragmatischen und Widersprüche ausblendenden Mischungen vorkamen.
Bevor in einem Fazit die einzelnen Stränge zusammengeführt werden, widmet sich die Autorin ihrer zentralen Fragestellung, die sie zuvor aus dem Blick verloren hatte, nämlich der nach dem sozialintegrativen Potenzial der hygienischen Volksbelehrung. Dieses untersucht sie an drei spektakulären Großausstellungen: der Reichsgesundheitswoche, der Großen Ausstellung für Gesundheit, soziale Fürsorge und Leibesübungen (GeSoLei) – beide 1926 – sowie der II. Internationalen Hygiene-Ausstellung in Dresden 1930/1931. Es gelingt ihr dabei aufzuzeigen, welch vielschichtige Diskursereignisse diese Ausstellungen waren, auf denen nahezu alle Interessierten vertreten waren. Logiken aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und dem Sozialversicherungswesen prägten diese hybriden, messeähnlichen Expositionen, deren große Herausforderung es jeweils war, diese zu einem kohärenten Ganzen zusammenzuschmelzen statt nur – wie damals häufig kritisiert – die Installationen der einzelnen Akteure aus diesen Feldern schlicht nebeneinanderzustellen.
Insgesamt macht die Autorin deutlich, dass die Hochzeit der hygienischen Volksbelehrung in der Mitte der Weimarer Republik lag und von einer beruflichen heterogenen, bürgerlichen Koalition bestritten wurde, bevor gegen Ende der Demokratie die Kostspieligkeit der Volksaufklärung den politischen Konsens über ihre Notwendigkeit von den Rändern des Spektrums her erodieren ließ. Im Nationalsozialismus erlebte sie indes eine zweite Blüte – als Popularisierung von Rassentheorie, Rassenhygiene und Eugenik. Gesundheitspädagogische Diskurse zeichnet Gossmann damit als kooperatives Sprechen nach und hygienische Volksbelehrung als sich etablierendes Berufs- und Wissensfeld aus; sozial befriedender oder demokratieaffiner als ihre soziale Umgebung war sie aber nicht. Diese Befunde sind überzeugend, im Großen und Ganzen aber auch nicht neu, was zu den zentralen Schwächen des Buches führt.
Zu oft verliert die Studie den Fokus auf ihren eigentlichen Gegenstand der hygienischen Volksbelehrung und verfranzt sich im Zuge dessen in – bezogen auf die Fragestellung – marginalen und viel zu ausführlich besprochenen Details der politischen und medialen Kultur. Nicht nur, aber vor allem mit den großen Gesundheitsausstellungen ruft sie darüber hinaus Quellentypen und Kontexte auf, denen sie in Anbetracht der bestehenden, aber nicht rezipierten Forschungsliteratur nicht durchgehend gerecht wird.3 Dass am Rande noch körpergeschichtliche und mit dem sowjetischen Pavillon auf der II. Internationalen Hygiene-Ausstellung in Dresden 1930/1931 internationale Aspekte angeschnitten werden, trägt ebenso zum Eindruck bei, dass die Studie eher in die Breite als in die Tiefe geht. Ob sie nun eine Kulturgeschichte der Politik, eine Medizingeschichte (Sozialgeschichte der Ärzteschaft oder eine der hygienischen Volksbelehrung), eine Wissenschaftsgeschichte der Medizin (Popularisierung von Deutungsmustern) oder eine Mediengeschichte der Weimarer Republik ist, wurde dem Rezensenten kaum deutlich – vor allem, weil die einzelnen Fragen und Befunde in einen nur schwer zu erkennenden Zusammenhang gebracht wurden.
Keine Frage, Jill Gossmann hat eine detailreiche und sprachlich gut zu lesende Arbeit vorgelegt, in der viel Arbeit und Recherche steckt. Aber auch, weil die Überarbeitung der Dissertation zur Buchversion nicht entschieden genug Dopplungen und Redundanzen tilgte und Nebensächlichkeiten kürzte, steckt in der Geschichte der hygienischen Volksbelehrung noch Potenzial für mehrere pointierte Bücher, die Kontinuitäten, Brüche und transnationalen Beziehungen des gesundheitspädagogischen Diskurses in den Blick nehmen.
Anmerkungen:
1 Bspw. Ursula Büttner, Weimar. Die überforderte Republik 1918–1933, Stuttgart 2008.
2 Einschlägig dazu: Silvia Berger Ziauddin, Bakterien in Krieg und Frieden. Eine Geschichte der medizinischen Bakteriologie in Deutschland, 1890–1933, Göttingen 2009.
3 Insbesondere: Sebastian Weinert, Der Körper im Blick. Gesundheitsausstellungen vom späten Kaiserreich bis zum Nationalsozialismus, Berlin 2017; Thomas Steller, Volksbildungsinstitut und Museumskonzern. Das Deutsche Hygiene-Museum 1912–1930, Dissertation, Univ. Bielefeld 2014, http://d-nb.info/1070371769/34 (28.2.2022); Sybilla Nikolow (Hrsg.), Erkenne Dich selbst! Strategien der Sichtbarmachung des Körpers im 20. Jahrhundert, Köln 2015; Martin Lengwiler / Jeannette Madarász (Hrsg.), Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik, Bielefeld 2010; Anja Laukötter, Sex – richtig! Körperpolitik und Gefühlserziehung im Kino des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2021.