Cover
Titel
Geographies of Nationhood. Cartography, Science, and Society in the Russian Imperial Baltic


Autor(en)
Gibson, Catherine
Erschienen
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 92,75
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katja Wezel, Fakultät für Geschichte und Philosophie, Universität Lettlands

Catherine Gibsons Monografie Geographies of Nationhood ist zu einem Zeitpunkt erschienen, zu dem unsere Augen in besonderem Maße auf Ost- und Ostmitteleuropa gerichtet sind, gerade auf die Randgebiete, die früher zum Russländischen Kaiserreich bzw. zur Sowjetunion gehört haben. Der Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 lässt aktuelle und vergangene nationalrussische Bestrebungen in einem neuen Licht erscheinen. Propagandisten nutz(t)en dabei gerne auch ethnografische Karten, um zu beweisen, welche Region nun im Kern und aus historischen Gründen zu Russland gehöre. Catherine Gibsons Monografie, in deren Mittelpunkt die Erforschung der spannungsgeladenen Begegnungen zwischen Wissenschaft, Technologie sowie Konzepten von Territorium, Raum und Denkweisen über ethno-linguistische Gemeinschaften steht (S. 2), ist daher hochaktuell. Sie widmet sich der Geschichte ethnografischer Karten, ihrer Verfasser:innen sowie der Umstände, in denen sie entstanden sind. Sie zeigt so, dass Fragen von Sprache, Religion und Ethnizität, die auf ethnographischen Karten abbildet werden, Themen sind, die seit dem 19. Jahrhundert eng mit Diskussionen über nationale Zugehörigkeiten in dieser Region verbunden waren und bis heute von hoher Brisanz sind.

Die Monografie gliedert sich in fünf Kapitel, die den Zeitraum von 1840 bis Mitte der 1920er-Jahre umspannen. Im Zentrum des Buches steht die Region der baltischen Ostseeprovinzen, die von 1710 bis zum 1. Weltkrieg zum Russländischen Kaiserreich gehörte, also Estland, Livland und Kurland – im Wesentlichen das heutige Estland und Lettland – sowie deren Randbereiche, das heißt auch Teile Nordwestrusslands, Belarus und Litauens. Da Catherine Gibson jedoch auch die Geschichte der Kartografie in Russland allgemein unter die Lupe nimmt, gehen ihre Erkenntnisse weit über die Region des Baltikums hinaus. Deutschbaltische Kartografen und Wissenschaftler mit einem deutschbaltischen Hintergrund spielten im 19. Jahrhundert in Russland eine herausragende Rolle. Deshalb thematisiert das Buch auch das Aufeinanderprallen vom russischen und deutschen Nationalismus im ausgehenden 19. Jahrhundert.

Im Zentrum des ersten Kapitels steht der Kartograf Peter Köppen und seine 1851 publizierte ethnografische Karte des europäischen Russlands – die erste ethnografische Karte für diesen Raum überhaupt. Peter Köppen wirkte in einer Zeit, in der Deutsch eine in Russland anerkannte Wissenschaftssprache war und von breiten Kreisen der Elite gesprochen wurde. Köppens deutschbaltischer Hintergrund stellte daher kein Hindernis dar und er war ein anerkanntes Mitglied der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg, die seine Forschungsarbeiten förderte und die Publikation seiner Karte finanziell unterstützte. Die Karte markiert deutlich die von Esten, Letten und Litauern bewohnte Region an der baltischen Ostseeküste, aber auch deren deutschsprachige Minderheiten – und das weit vor dem ersten allrussischen imperialen Zensus von 1897. Ebenfalls deutlich markiert sind die finno-ugrischen Bevölkerungsteile in Finnland, rund um den Peipussee sowie in und um die Region St. Petersburg, die damals besonderes Interesse bei Sprachwissenschaftlern und Kartographen im Russländischen Kaiserreich weckten.

Das zweite Kapitel gibt uns Einblick in die ökonomischen Hintergründe der Kartenproduktion, die sehr teuer waren. Außerdem erläutert Gibson, wie die Daten und das Material für ethnografische Karten gesammelt wurde. Gerade für die Darstellung und Abgrenzung der Siedlungsgebiete religiöser, sprachlicher und nationaler Minderheiten waren Kartografen auf die Mithilfe von lokalen Ämtern und Behörden aber auch der Kirchen angewiesen. Um die Sammlung statistischer Daten zu erleichtern, richtete die Russische Geografische Gesellschaft lokale Niederlassungen ein, z.B. in Tbilisi (1851), in Vilnius (1867) oder in Kyiv (1873).

Das dritte Kapitel thematisiert die Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts virulente sogenannte „Baltische Frage” sowie die politische Zugehörigkeit des Baltikums zum deutschen oder russischen Sprach- und Kulturraum (die Möglichkeit eines estnischen oder lettischen Nationalstaates war zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Bewusstsein der tonangebenden politischen Akteure). Das Aufeinanderprallen des deutschen und russischen Nationalismus zeigt sich deutlich in der Person des Kartografen Aleksandr Feodorovich Rittikh (Alexander Rittich). Während Peter Köppen in den 1840er-Jahren noch problemlos in einem deutschsprachigen Umfeld agieren konnte, hatte sich das Blatt in den 1870er-Jahren gewendet. Aleksandr Rittikh entschied sich für die Assimilation an die russische Kultur und spielte seine deutschbaltische Herkunft herunter. Besonders Rittikhs (nicht-wissenschaftliche) polemisierende Karte der „Deutschen Depressionen in den slawischen Ländern“ von 1885 zeigt, dass sich bereits zu diesem Zeitpunkt ein Konflikt zwischen dem Deutschen und dem Russländischen Kaiserreich anbahnte – ein Konflikt, der die Zugehörigkeit und Loyalität aller Deutschsprachigen in Russland in Frage stellte. Rittikhs Karte verdeutlicht die Ängste der russischen Nationalisten und Slavophilen vor dem „Westen“ im Allgemeinen und dem Deutschen Kaiserreich als dessen Vertreter im Besonderen. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten in Putins Russland, die das Augenmerk auf das Russländische Kaiserreich lenken, sind solche Kontroversen aus dem 19. Jahrhundert von hoher Relevanz.

Im vierten Kapitel wendet sich Gibson dem Gouvernement Vitebsk zu, einer Region, die von Historiker:innen des Baltikums in der Vergangenheit oft stiefmütterlich behandelt wurde, weil ihre politische und kulturelle Zugehörigkeit fraglich war. Anhand der ethnografischen Karte der Provinz Vitebsk von Aleksandr Sementovskii zeigt Gibson außerdem die Grenzen von Wissenschaft und Kartografie auf. Die Bewohner der Region waren es gewohnt, im Alltag mehrere Sprachen zu sprechen. Ihre Religion entsprach jedoch nicht zwangsläufig ihrer vermeintlichen Nationalität – nicht alle Orthodoxen sprachen Russisch, nicht alle Katholiken gehörten der polnischen oder litauischen Bevölkerung an, ja selbst Angehörige des deutschbaltischen Adels im ehemaligen „polnischen Livland“ waren polonisiert worden und hatten den katholischen Glauben angenommen – zu welcher Gruppe gehörten sie also? Wie sollte man sie auf einer ethnografischen Karte farblich darstellen? Nach dem Blut ihrer Vorfahren als Deutsche oder nach ihrer Sprache und Religion als Polen? Wie sehr sich die Kartografen auch bemühten, die Realität wahrheitsgetreu abzubilden, es gab Grenzen für diese Visualisierungen. Minderheiten, wie z.B. die jüdische Bevölkerung, waren auf ethnografischen Karten tendenziell unterrepräsentiert. Es ist wichtig, diese Grenzen der Visualisierung aufzuzeigen, so wie es Gibson tut, zumal die Karten später oft von Nationalist:innen adaptiert wurden, um eine ganz bestimmte Agenda zu verfolgen.

Das fünfte Kapitel schließlich thematisiert am Beispiel estnisch-lettischen Stadt Valga / Valka die Kontroversen nach dem 1. Weltkrieg und die Probleme, in multinationalen Regionen Ostmitteleuropas Grenzen zu ziehen, die das Selbstbestimmungsrecht der Völker berücksichtigten. Dabei waren die zuständigen Akteure im estnischen Valga und lettischen Valka noch nicht mal langjährig verfeindet. Im Gegenteil, die estnische Armee hatte Lettland in seinem Freiheitskampf 1919 unterstützt. Trotzdem war der Teilungsprozess mit gegenseitigen Anschuldigungen und Frustrationen verbunden. Die Trennung der Stadt in ein lettisches Valka und ein estnisches Valga konnte nur mit Hilfe eines britischen Unterhändlers vollzogen werden.

Catherine Gibsons Monografie, die auf ihrer 2019 entstandenen Dissertation am European University Institute beruht, ist ein wichtiger Beitrag zur Raumgeschichte Ostmittel- und Osteuropas. Sie stützt sich dabei auf eine multilinguale Recherche in Archiven und Nationalbibliotheken sechs verschiedener Länder (Finnland, Estland, Lettland, Belarus, Russland und Deutschland) und analysiert mit Hilfe von Karten und Kartenausschnitten ethnografische Darstellungen im Detail. Ihre Analyse zeigt, wie viel wir gerade über die so genannten „Grenzgebiete des imperialen Russlands“ lernen können, wenn wir einen raumhistorischen Ansatz wählen. Auffallend ist, wieviel die raumhistorische Diskussion auch zu unserem Verständnis von Konflikten beitragen kann, die von Kulturhistoriker:innen bereits an anderer Stelle ausführlich erörtert wurden. Das wird zum Beispiel im dritten Kapitel anhand der „Baltischen Frage“ deutlich. Ihre raumhistorische Erörterung wirft ein neues Licht auf die berühmte Kontroverse zwischen Carl von Schirren und Iurii Samarin um die Autonomierechte und politischen und verwaltungstechnischen Besonderheiten in den baltischen Ostseeprovinzen.1

In den fünf Kapiteln lernen wir unterschiedliche Akteure kennen. Gibson gibt Einblicke in das Leben von Wissenschaftlern sowie mittleren Bürokraten, deren Möglichkeiten zur Erstellung von Karten oft durch finanzielle Erwägungen und die Unterstützung (oder deren Fehlen) durch die Regierung und andere Institutionen eingeschränkt waren. Sie zeigt uns auch, dass das Erstellen von Karten eine Familienangelegenheit sein konnte, wie im Fall des deutschbaltischen Pastors und Wissenschaftlers August Bielenstein, dessen Tochter Martha Bielenstein einen wichtigen Beitrag zur Erstellung der Karten des lettischen Sprachgebiets leistete. Die biographischen Skizzen der Akteure geben uns Einblick in das Umfeld, in dem diese tätig waren, sowie in die äußeren Umstände, die sie beeinflussten. Gibsons Monografie ist nicht nur für Historiker:innen mit Schwerpunkt Baltikum relevant, sondern darüber hinaus für alle diejenigen, die sich für raumpolitische Konzepte, die Geschichte der Kartografie, sowie die politische (Be)Nutzung von Karten interessieren.

Anmerkung:
1 Vgl. Ulrike von Hirschhausen, Die Grenzen der Gemeinsamkeit. Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860–1914, Göttingen 2006, S. 107 und 138.