A. Lorenz u.a. (Hrsg.): Das politische System Rumäniens

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Title
Das politische System Rumäniens. Entwicklung und Herausforderungen in Europa


Editor(s)
Lorenz, Astrid; Mariș, Daniela-Maria
Published
Wiesbaden 2022: Springer VS
Extent
VIII, 284 S.
Price
€ 59,99
Reviewed for H-Soz-Kult by
Markus Bauer, Berlin

Schwer, eine Rezension eines Sammelbandes über das politische System Rumäniens zu beginnen, ohne auf die aktuelle Lage des Landes hinzuweisen, das sich als Nachbarstaat der Ukraine im unmittelbaren Umfeld des von Russlands Präsident Putin entfachten Angriffskriegs gegen die Ukraine befindet – und damit eine wichtige geostrategische Rolle spielt. Kurz bevor am 24. Februar 2022 der Überfall auf die Ukraine begann, erschien der vorliegende Sammelband, in dessen Beiträgen vereinzelt die anwachsende Spannung in der Region durchscheint, etwa wenn Andrea Amza-András die Außenpolitik Rumäniens im südosteuropäischen und Schwarzmeerraum vom policy taker zum policy shaper beschreibt. Die Neugier der Herausgeberinnen wurde von den Besonderheiten Rumäniens auf vielen politikwissenschaftlichen Feldern nach 1989 angestachelt, die eine detailliertere Betrachtung erfordern, wenn es um die Beschreibung der politischen Entwicklungen in Europa geht. Zugleich interessierte sie auch die Feststellung von Gleichheiten und Ähnlichkeiten – die 12 Beiträge zu unterschiedlichen Feldern des politischen Systems zeigen jedenfalls, dass immer noch Einiges in Rumänien anders verläuft, als von vielen erhofft.

Die Einschätzung von fünf der mit den Grundlagen des politischen Systems befassten Beiträge zu Verfassung, Staatsgewalt, Justiz, politischer Kultur und Medien ist weitgehend übereinstimmend: Aus demokratietheoretischer Perspektive wie in der politischen Praxis sind große Defizite zu konstatieren. Thomas Göllner sieht gar „systemische Pathologien“ an der Basis des Staates: Wenn auch die biologistische Wortwahl etwas merkwürdig klingt, so kann dem Argument gefolgt werden, dass die Verfassung von 1990 bereits erhebliche Diskrepanzen aufwies, wie etwa das widerspruchsvolle Verhältnis Präsident-Parlament-Regierung. Die Ursachen der wenig konsensorientierten Verfassungsgenese (S. 125) liegen für Göllner in der kurzen, aber ereignisreichen Epoche der „nachrevolutionären“ Neuordnung nach dem Sturz Ceaușescus im Dezember 1989, die eine von den „alten Eliten“ (S. 122) dominierte Verfassungsgebung zur Folge hatte. Es wurden seinerzeit Elemente eines geschützten Verfassungskerns festgelegt, die bis heute nur schwer an eine sich ändernde Verfassungsrealität angepasst werden können.

Auch Marius Balan sieht das politische Agieren zwischen den „drei Palais“ in Bukarest – Cotroceni, Victoria und Casa Poporului (Präsident, Regierung, Parlament) – sehr kritisch. Die Position des Präsidenten sei seit Ion Iliescu und des postdezembristischen FSN1 Ausdruck einer „autoritären Dynamik“, die sich in der Praxis als kontraproduktiv insbesondere gegen das Verfassungsideal des Ausgleichs zwischen den Staatsgewalten erweise. Die Regierungen erscheinen Balan aufgrund ihrer meist unsicheren Mehrheiten, die sich im Beitrag von Sergiu Mișcoiu zur Geschichte der Parteien und ihrer Abspaltungen, Fusionen, Koalitionen detailliert nachvollziehen lassen, eher als „instabile Nebengesetzgeber“ (S. 181). Wie in Alexandra Iancus Darstellung der Justizreformen plastisch wird, entzündeten sich an der Strafverfolgung korrupter Politiker:innen grundsätzliche politische Auseinandersetzungen, die einmal mehr verfassungsrechtliche, juristische, politische Aspekte im Modus des Defizits miteinander verbanden. Das aus heterogenen Elementen zusammengebastelte System geriet zunehmend in die Manipulationsstrategien der politischen Eliten, selbst das Verfassungsgericht unterlag einem tiefen Misstrauen bei den jeweiligen Opponenten. Hier offenbarten sich zum Teil erschreckende Merkmale der politischen (Un-)Kultur in der Elite: Es fand sich keine politische Institution mehr, die als objektiv angesehen wurde.

Dem entsprechen die Untersuchungsergebnisse einiger über einen längeren Zeitraum erstellten Meinungssondagen zum Demokratieverständnis der Rumän:innen, die Susanne Pickel und Gert Pickel zur Darstellung der politischen Kultur heranziehen. Das komplexe Bild ergibt, dass die befragten Rumän:innen die Demokratie für deutlich verbesserbar halten und dabei zugleich aufgrund eines tiefsitzenden generellen Misstrauens eine Vorliebe für eine gelenkte Demokratie hegen, worauf auch das Vertrauen in die hierarchisch strukturierte orthodoxe Kirche und die Armee verwiesen. Als wichtigen Ansporn, sich dennoch für die Demokratie auszusprechen, machen die Autor:innen den Wunsch nach Wohlstand und individueller Freiheit sowie nach Frieden aus. Hierin liege auch der nur wenig geschmälerte Zuspruch zur EU begründet.

Für die politische Kultur kommt den Medien eine besondere Rolle als Informationsquelle und zentrales Mittel der politischen Willensbildung zu. Dass sie im Falle Rumäniens keinen großen Anteil an der Demokratisierung mehr haben, ist dem Beitrag von Marius Dragomir zu entnehmen. Demnach entwickelte in den 1990er-Jahren der Staat durch Aufsichtsinstitutionen erhebliche Kontrollmechanismen zur Lenkung insbesondere der audiovisuellen Medien. Als sich seit Mitte der 1990er Jahre auch Medieninvestoren des Feldes annahmen, führte dies zur Boulevardisierung der TV-Sender und Zeitungen. Der Einfluss von ausländischem Kapital und damit auch von Innovationen war im Vergleich zu anderen postsozialistischen Staaten gering. Bei dominantem Profitinteresse geriet mit dem verminderten Einkommen der Journalist:innen die redaktionelle Unabhängigkeit und damit die Erfüllung der demokratietheoretisch postulierten Funktionen ins Hintertreffen: Oligarchen nutzen ihre Medien für ihre kommerziellen Interessen ebenso wie Politiker:innen Medien kaufen, um sie für ihre Kampagnen einzusetzen. Gegenmodelle versuchen hingegen einzelne Journalist:innen im Internet zu etablieren, die die redaktionelle Unabhängigkeit stärken sollen.

Die Deskription dieser Defizite in den fünf fundamentalen Bereichen kann allerdings Ursachen der Malaise nur monokausal andeuten: Für die Einordnung dieser Beobachtungen ist nicht nur der Blick in die Nachbarstaaten, sondern auch in die Historie erhellend. Dietmar Müller macht deutlich, dass das postdezembristische Rumänien vielfach Anleihen macht bei den Vorgängerstaaten, nämlich der sozialistischen Volksrepublik, bei „Groß-Rumänien“ („România Mare“) der Zwischenkriegszeit und den vereinigten Donaufürstentümern Moldau und Walachei vor dem Ersten Weltkrieg. Hier lassen sich mentale Kontinuitäten aufweisen, die bis in die Gegenwart hinein wirksam sind. Nach Müller hat die rumänische politische Elite immer nur einen Teil der europäischen Angebote und Aufforderungen zur liberalen Demokratie übernommen. Dies lässt sich durch Anca Dachins Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung ergänzen, die zeigt, wie – im Gegensatz etwa zu Polen – die „nachrevolutionäre“ Veränderung der Ökonomie in Richtung auf ein marktwirtschaftliches Modell nur graduell und zögerlich verlief. Die auch danach noch verbleibenden ökonomischen Diskrepanzen innerhalb des Staates zeigt Dumitru Sandu in einer statistisch aufbereiteten Studie zur fehlenden Regionalisierung und der resultierenden geringen Absorption von EU-Geldern.

Dennoch: Einen großen Schritt in eine Modernisierung und „Europäisierung“ Rumäniens hat vor allem der Beitritt zur EU bedeutet. Im Kontext der euroatlantischen Bündnisse kam immer deutlicher die geostrategische Lage zum Tragen, die auch die die Verbindung zu Nachbarstaaten neu korrelierte, wie Amza-Andraş hervorhebt. Zudem erreichen das Karpatenland Diskussionen und Themen, die den Erfahrungen einer jungen, gebildeten und auslandserfahrenen Generation Ausdruck geben. Der von Pickel/Pickel konstatierten Gefährdung der demokratischen Basis in den Meinungen der Bevölkerung lassen sich die nicht wenigen zivilgesellschaftlichen Aktivitäten gegenüberstellen, in denen gegen Missstände und die Beschneidung von Bürgerrechten (oft erfolgreich) aufbegehrt wird. Roxana Stoenescu kann in ihrem Beitrag unter Hinweis auf die großen Demonstrationen gegen die Korruption von 2012 bis 2018 das Auflehnen der Bevölkerung gegen die Defizite der politischen Kultur nachzeichnen. Sie verweist allerdings auch auf Versuche der etablierten Parteien durch eigene Gründungen von Nichtregierungsorganisationen den Schein der Teilhabe zur Zementierung der Machtpositionen umzudrehen. Antonela Gyöngy untersucht die spezifische Auseinandersetzung Rumäniens mit der Geschichte der beiden Diktaturen im 20. Jahrhundert und erkennt politische Indienstnahmen insbesondere im Vorfeld der NATO- und EU-Beitrittsanträge. Es wäre zu fragen, welche Spuren diese „formalen“ Implementierungen in der Meinung der Bevölkerung hinterlassen.

Der Band analysiert kritisch, detailliert und kenntnisreich zentrale Aspekte des aktuellen politischen Systems Rumäniens und kann als ein Kompendium zum Thema gelten. Was nicht ausschließt, dass einige aktuelle Perspektiven weniger sichtbar sind (Ökologie, neue Parteien, Diaspora, Minderheiten) und somit Anregungen zur weiteren Erforschung des so plötzlich in das Rampenlicht der globalen Öffentlichkeit gelangten Staates weiterhin vorliegen.

Anmerkung:
1 Nach dem Sturz Ceaușescus wandelte Ion Iliescu den von ihm geführten Consiliul Frontului de Salvării Naționale (Rat der Nationalen Rettungsfront, CFSN) im Januar 1990 als „oberstes Organ der rumänischen Staatsgewalt“ (Göllner, S. 122) in eine politische Partei um (Frontul de Salvării Naționale, FSN), die sich in den ersten Wahlen gegen die sog. „historischen Parteien“ (Liberale, Nationalliberale, Bauernpartei) durchsetzte. Der FSN unter Iliescu bot zahlreichen früheren Funktionären Gelegenheit zur politischen Betätigung und Erlangung hoher Ämter und dominierte maßgeblich den Verfassungsgebungsprozess. 1992 wurde er nach Trennung der Gruppe von Petre Roman in Partidul Democrației Sociale din România (Partei der sozialen Demokratie Rumäniens, PDSR), dieser später in PSD, umbenannt.

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