S. Bauer u.a. (Hrsg.): Exemplarität und Exzeptionalität in der griechisch-römischen Antike

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Title
Exemplarität und Exzeptionalität in der griechisch-römischen Antike.


Editor(s)
Bauer, Sebastian; Brockkötter, Philipp
Published
Göttingen 2022: Vandenhoeck & Ruprecht
Extent
307 S.
Price
€ 80,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Jochen Sauer, Klassische Philologie, Universität Bielefeld

Die zentralen Titelbegriffe Exemplarität und Exzeptionalität der zu rezensierenden Sammelpublikation deuten bereits an, dass zwei vitale Forschungsstränge der Altertumswissenschaft, insbesondere der Alten Geschichte in dieser Publikation aufeinandertreffen: zum einen die zwischenzeitlich kaum noch zu überblickende Forschung zum Exemplum bzw. Paradeigma, zum anderen die etwas jüngere zu Norm- und Regelgenese sowie -auflösung. Beide Stränge werden in der Einleitung begrifflich entfaltet und zusammengeführt. Die Beiträge sind überwiegend von Nachwuchswissenschaftler:innen abgefasst, die teilweise im Kontext des Freiburger Sonderforschungsbereich 948 „Helden, Heroisierungen, Heroismen“ sowie dessen weiterer Forschungsumgebung tätig waren.

Die Herausgeber entwickeln ihren Exemplaritätsbegriff aus antiken Quellen und der Forschung der letzten Jahrzehnte (S. 25–34) und verzichten angesichts des breiten Forschungsfeldes auf eine scharfe Definition. Es kristallisiert sich dabei ein Verständnis von Exemplarität heraus, wie es in der Alten Geschichte seit dem Cultural turn der 1990er-Jahre fest etabliert wurde: Mit Exempla sind konkretisierte Normen, Werte und Institutionen (im weitesten Sinne) gemeint, meist verkörpert in historischen oder mythologischen Akteuren und ihren Handlungen, die in verschiedenen Medien (Rede, Text, Bild, Architektur etc.) vergegenwärtigt werden und als Teil der (meist öffentlichen) Kommunikation in unterschiedlicher Funktion über sich hinausweisen, also nicht selbstreferentiell sind. Während die bisherige Forschung die Exempla überwiegend unter dem Gesichtspunkt der Einlösung von Geltungsansprüchen, der Verstetigung von Normen und der Institutionalisierung von Prozessen betrachtete, richtet der Band den Blick verstärkt auf die Neurezeption und -interpretation von Exempla und die daraus resultierende Auflösung alter Normsettings bzw. die Etablierung neuer. Es geht also um das „Subversive“ bzw. „Transgressive“ von Exemplarität. Die Herausgeber sprechen dann von einer „transgressiven Qualität“ von Exempla, wenn neue Normen durch sie konstituiert werden. Stehen diese neuen Normen wiederum „entgegen den Normen und Werten der sozialen Ordnung oder historischen Formation“, so sprechen die Herausgeber „von einer exzeptionellen Qualität von Exempla“ (S. 19). Der Begriff „Exzeptionalität“ wird somit in Dependenz vom Begriff der „Exemplarität“ etabliert: Figuren gewinnen, so die Herausgeber, in der Regel einen „exemplarischen Status“ erst durch ihr außeralltägliches, „exzeptionelles“ Handeln. Sie postulieren daher, dass „jedem Exemplum zugleich eine exzeptionelle Qualität zukommt“ (ebd.). Sie rekurrieren in ihren Überlegungen nicht zuletzt auf die Arbeit von Matthew Roller (Modells from the Past in Roman Culture. A World of Exempla, Cambridge 2018), dem innerhalb des Bandes die Aufgabe zukommt, die sehr unterschiedlichen Einzelbeiträge in einem Schlusskapitel „Closing remarks and comments“ konzeptionell zu fassen.

Tatsächlich vermögen die Begriffe des Exemplarischen und Exzeptionellen die Beiträge trotz aller Unterschiedlichkeit in einen übergeordneten Konzeptrahmen zu binden. Dieser Umstand ist umso mehr zu würdigen, als die meisten Beiträge der Nachwuchswissenschaftler:innen (sinnvollerweise) von ihren jeweiligen Qualifikationsprojekten inspiriert waren, die sich in Fachmethodik und Zielsetzung erheblich unterschieden. Positiv zu bemerken ist zudem, dass der Tagungsband trotz Corona-Pandemie immerhin gut ein Jahr nach der geplanten, aber aufgrund der Pandemie nicht durchgeführten Tagung vorlag.

Der Sammelband ist in vier Sektionen gegliedert, die jeweils zwei bis drei Beiträge umfassen. In der ersten Sektion werden Beiträge aus den Feldern Rhetorik, Epigraphik und Archäologie unter dem Gesichtspunkt der „visuellen Medien“ vereint: Katharina Kostopoulos konstatiert in ihrem Beitrag „(Un-)sichtbare Helden. Visuelle paradeigmata bei den attischen Rednern“, inwiefern die attischen Redner des 5. und 4. Jahrhunderts vor Christus die Athener Denkmalpraxis, welche die Helden im Vergleich mit dem Demos in den Hintergrund stellt, in ihren Reden in unterschiedlicher Weise spiegeln. Diese Spiegelung lässt besonders die transgressive Qualität der vergegenwärtigen Exempla und des Demos hervortreten. Eine vorwiegend exzeptionelle Qualität der Exempla zeigt sich in der folgenden Studie von Benjamin Wieland über die Funktion in Ehreninschriften aus dem ptolemäischen Zypern. In diesen Ehreninschriften überdauert das Polisdenken überraschenderweise auch die Einführung des Königtums. Dabei vergegenwärtigen die Inschriften den gesellschaftlichen Umgang mit der Spannung zwischen dem Machtanspruch einzelner, insbesondere der „super-exzeptionalistischen“ Natur des Königs, und des egalitären Kontrollanspruchs der Gemeinschaft (S. 76) und lösen ihn auf, indem sie den Euergetismus als zentralen Wert in den Mittelpunkt setzen. Der Beitrag von Matthias J. Bensch schließlich eruiert aus kritischer Perspektive, inwiefern sich der Exempelbegriff für das Verständnis mythologischer Bilder eignet, und setzt sich dabei u.a. mit der Begrifflichkeit Uwe Walters und dem Konzept von Matthew Roller und Zahra Newby auseinander. Der Beitrag zeigt sich als Plädoyer, Bilder weder „in den Kategorien eines starren Wertbegriffsdenkens“ noch in „positive und negative exempla“ einzuordnen.

Die zweite Sektion „Weibliche exempla? Heldinnen zwischen Exemplarität und Exzeptionalität“ beginnt mit dem mit 64 Seiten umfassendsten Beitrag des Bandes von Sebastian Bauer. Er hätte gut geteilt werden können: Der erste Teil (S. 103–127) entfaltet eine innovative Betrachtung des aristotelischen Exempelkonzepts und macht plausibel, dass Plutarch mit seinen Viten eine philosophische Propädeutik auf aristotelischer Basis entfaltet, zumal es nach Aristoteles gerade die Hexis eines Staatsmanns ist, der eine zentrale Funktion für das Erlernen politischen Handelns zukommt. Erst der zweite Teil (S. 128–164) nimmt den im Titel des Beitrags angekündigten Untersuchungsgegenstand, die Frauenfiguren in Plutarchs Viten, in den Blick. Es folgt eine Fallstudie zur „Exemplarität und Exzeptionalität in der Konzeption christlicher Asketinnen und Asketen im 4. und frühen 5. Jahrhundert“ von Karen Piepenbrink: Sie arbeitet in den einschlägigen Texten exemplarische und exzeptionelle Motive sowie Mischformen heraus. Eines ihrer Ergebnisse ist, dass männliche Exempla eher auf Exzeptionalität zielen, weibliche auf Exemplarität.

Die dritte Sektion „Heroische exempla zwischen Erinnern und Identitätskonstruktion“ nimmt zunächst konkrete historische Exempla in den Blick: Philipp Brockkötter betrachtet in dem Beitrag das exemplum des Augustus, zunächst in Hinblick auf seine (griechischen) Vorläufer in transkultureller Hinsicht, dann hinsichtlich seiner Rezeption in den Provinzen unter interkultureller Perspektive. Er zeigt nach dem Zeugnis von Texten und Münzen die mannigfachen Rezeptionsmodi auf, die er treffend kategorisiert. Darauf analysiert Peter Scholz die mehrfachen Umdeutungen des „Hercules tunicatus des Lucullus“ auf dessen Siegesmonument und beschreibt die vielfachen Deutungen, welche die Statue im Kontext ihrer mehrfachen Entfernung und Wiederaufstellung in der Öffentlichkeit erfuhr. Als dritter Beiträger der Sektion betrachtet Christopher Degelmann die „Wechselwirkungen zwischen Text und Praxis von der frühen bis zur späten Republik“ anhand des squalor, eines ritualisierten Trauerakts. Damit stellt der Beitrag den in der Exempelforschung häufig analysierten laudationes funebres die Untersuchung einer ritualisierten nonverbalen Botschaft an die Seite. Die vierte Sektion „exempla als (De-)Legitimationsstrategie sozialer Ordnung“ umfasst zwei Beiträge: Isabelle Künzer arbeitet in ihrem Aufsatz „Die Folgen der Exemplarität für zeitgenössische Redner und Literaten der frühen Kaiserzeit“ u.a. heraus, inwiefern für einen Redner ein Festhalten an Maßstäben der Vorgänger im Kontext der senatorischen Konkurrenz dazu führen konnte, dass ihm rhetorisch-literarische Kompetenz abgesprochen wurde. Damit richtet sich der Blick von Kategorien der imitatio auf die Mechanismen des rhetorisch-literarischen Konkurrenzsystems (aemulatio) und ihres Regelraumes. Hendrik A. Wagner untersucht am Beispiel des Motivs des Kannibalismus (Anthropophagie) die „Möglichkeit einer Unmöglichkeit zwischen Exemplarität und Exzeptionalität“. Im Zentrum steht dabei die Critognatus-Rede in Caesars Bellum Gallicum, dessen Exzeptionalität im Kontext ihrer Persuasionsabsicht herausgearbeitet wird, dann aber auch ihre Exemplarität im Kontext einer Polybius- bzw. Livius-Stelle.

Abgeschlossen wird der Band, wie bereits erwähnt, mit einem Kommentar von Matthew Roller (Johns Hopkins University), der einen Teil des theoretischen Gerüsts für den Band liefert und die Beiträge hier unter den Aspekten „Greek and Roman“, „Mediality“, „Limits and boundaries of the exemplary“ und schließlich „Exceptionality and exemplarity“ einordnet.

Eine Leistung des Bandes liegt darin, Möglichkeiten und Grenzen des recht jungen Begriffs der „Exzeptionalität“ anhand zahlreicher Beispiele aus verschiedenen Disziplinen transparent gemacht zu haben. Ob sich dieser im SFB 948 etablierte Begriff als Kategorie in der Forschung verstetigen wird, wird die Zukunft zeigen. In jedem Fall ist zu erwarten, dass aus den Beiträgen neue Impulse in die beteiligten Einzeldisziplinen ausstrahlen. Den beiden Herausgebern ist eine sehr gute editorische Leistung zu bescheinigen. Der besondere Reiz des Bandes besteht darin, „Exemplarität“ sowie das ihr inhärente Subversive und Transmissive in Fallstudien unterschiedlicher Forschungstraditionen vergegenwärtigt zu haben.

Der Band ist sorgfältig typographisch gestaltet, Tippfehler sind sehr selten (z.B. S. 18: Normsettigs, S. 281/282: Anthropohagie) und bei einem Projekt dieser Größe nicht vermeidbar, der Preis ist für eine Projektpublikation, deren Käufer v.a. Bibliotheken und kleine Kreise von Fachgelehrten sein werden, noch angemessen.

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