D. L. d'Avray: Papal Jurisprudence, 385–1234

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Titel
Papal Jurisprudence, 385–1234. Social Origins and Medieval Reception of Canon Law


Autor(en)
d'Avray, David L.
Erschienen
Anzahl Seiten
300 S.
Preis
£ 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cornelia Scherer, Senior Fellow für Mittelalterliche Geschichte, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg

Das Buch D‘Avrays steht in engem Zusammenhang mit seinem 2019 unter fast gleichlautendem Titel erschienen Band Papal Jurisprudence c. 400. Sources of the canon law tradition.1 In diesem edierte, übersetzte und kommentierte der Autor die frühen Papstbriefe, deren Entstehung und Wirkung er nun in Papal Jurisprudence, 385–1234. Social Origins and Medieval Reception of Canon Law genauer analysiert.

Der Untersuchungszeitraum umfasst das 4. bis 13. Jahrhundert, als Orientierung werden im Titel 385 – das Entstehungsjahr der ersten Dekretale des Papstes Siricius – und 1234 – die Promulgation des Liber Extra – genannt. Der untersuchte Zeitraum endet eigentlich aber erst Mitte des 13. Jahrhunderts mit der abgeschlossenen Überarbeitung der Glossa ordinaria.2 Die beiden Jahre stehen für die „zwei Zeitalter der Dekretalen“ („two ages of papal decretals“, S. 1) , die D‘Avray im 4./5. Jahrhundert sowie im 12./13. Jahrhundert verortet. Seine These lautet, dass es zu beiden Zeitpunkten auf Grund ähnlicher sozialer Umstände erhöhte Unsicherheiten in Fragen der christlichen Lebensführung und kirchlichen Vollzüge gab. Deshalb baten Bischöfe die Päpste um Klärung. Die Päpste reagierten in Form von Reskripten, die – wie die kaiserlichen Verlautbarungen der Spätantike – Recht schufen. Dies geschah vor allem durch ihre Aufnahme in Sammlungen, die zwischen den zwei Hochphasen der Dekretalenproduktion entstanden.

Das Buch gliedert sich in drei inhaltliche Abschnitte: die Entstehung und Inhalte der frühen Papstbriefe (c. 3–9), die Überlieferung der Texte (c. 10–13) und die Wiederentdeckung und mitunter schwierige Nutzung der frühen Dekretalen ab 1050 (c. 14–18). Darüber hinaus hat das Buch vier Anhänge, drei davon mit Übersetzungen der wichtigsten im Buch besprochenen Quellen, die nicht Teil von Papal Jurisprudence c. 400 sind. Anhang A enthält Übersetzungen einiger Briefe Leos I.3 Anhang B ist eine Teil-Übersetzungen der Dekretale Necessaria rerum Gelasius‘ I.4, die D‘Avray einen „miniature canon law code“ (S. 123) nennt. In Anhang C wird die von Bartholomäus Brixensis überarbeitete Glossa ordinaria abgedruckt und übersetzt. Als besonderen Service für den Leser gibt D‘Avray hier auch die relevanten Passagen der Dekretalen in Übersetzung wieder, auf die im Kommentar verwiesen wird. Die Anhänge ermöglichen es, selbst in die Quellentexte zu blicken und die Argumentation von D‘Avray zu prüfen – dank der Übersetzung auch wenn der Leser mit dem schwierigen Latein der päpstlichen Schreiben seine Probleme haben sollte. In Anhang D verweist D’Avray abschließend auf einige Werke, die für die theoretische Konzeption des Buches von Bedeutung waren. Eine Auswahlbibliographie und ein Index mit Personen, Orten und Begriffen beschließen den Band.

Das Buch ist chronologisch aufgebaut. Im ersten Teil wird die nach Themen geordnete Quelleninterpretation aus Papal Jurisprudence c. 400 der spätantiken Papstbriefe teilweise wieder aufgenommen.5 Ausgehend von einer Beschreibung des Umbruchs der politischen, sozialen und ökonomischen Bedingungen mit dem Ende des römischen Reiches (c. 1), wird der Zustand der Kirche in dieser Zeit näher charakterisiert. Sie bestand aus einer Vielzahl von Ortskirchen mit eigenen Ritualen und Regeln. Vor dem Hintergrund der hohen Mobilität der Christen und der wachsenden Zahl an Gläubigen wurde dies zu einem Problem. Die Unsicherheiten, welcher Tauftermin zum Beispiel der richtige oder wie mit wiederverheirateten Personen innerhalb des Klerus umzugehen sei, erzeugten Regelungsbedarf – zumal weniger Konzilien stattfanden und die Beschlüsse der ökumenischen Konzilien insbesondere im Westen nicht bekannt waren (S. 39). Deshalb wandten sich Bischöfe an die Päpste. In deren Antworten sind die Fragen und Probleme des Umbruchs am Ende des römischen Reiches eingeschrieben und für ihr Verständnis fundamental.

Die Dekretalen des 4. und 5. Jahrhunderts blieben durch die Schreiben der nachfolgenden Päpste, die immer wieder Rekurs auf sie nahmen, präsent. Das zeigen die Briefe Leos I. (c. 10) oder Gelasius‘ I. (c. 11) deutlich. Hinzu kamen mit Beginn des 6. Jahrhunderts Sammlungen von Dekretalen, Konzilsbeschlüssen und anderen Texten. Mit ihrer Zusammenstellung endete das erste Zeitalters der Dekretalen. Es folgte eine Phase von Synthese und Zusammenstellung, die D’Avray in Kapitel 11 bis 13 beschreibt. Hier kann nicht auf alle Aspekte eingegangen werden, die für Forschungen in vielen Bereichen Denkanstöße geben. Für die weitere Argumentation ist entscheidend, dass am Ende dieser Phase um das Jahr 1000, insbesondere auf Grund von Abschriften der Karolingerzeit und den Pseudoisidorischen Dekretalen, spätantike Papstbriefe sehr viel verbreiteter waren als kurz nach ihrer Entstehung. In der Zeit zwischen dem Ende des römischen Reiches und dem 12. Jahrhundert veränderten sich zudem die politischen, gesellschaftlichen und sozialen Ordnungen grundlegend. Dass die in den päpstlichen Dekretalen festgeschriebenen Regelungen in einem anderen Kontext entstanden waren und daher auf die Lebenspraxis nur schwer anzuwenden waren, wurde jedoch erst nach der Jahrtausendwende zum Problem.

Die von D’Avray konstatierte Unsicherheit des 4. und 5. Jahrhunderts ist auch charakteristisch für das zweite Zeitalter der Dekretalen. Im 12. und 13. Jahrhundert führten soziale und ökonomische Umbrüche ebenfalls zu einer zunehmenden Komplexität der Umwelt und zum Hinterfragen etablierter Muster kirchlicher Handlungen, wie bei der Bischofswahl. Hinzu kam die Kluft zwischen den von den spätantiken Päpsten empfohlenen Handlungsweisen und der gelebten Realität, die den im kanonischen Recht bewanderten Akteuren vor Augen stand. Die spätantiken Päpste hatten christliches Leben geregelt, das sich in einer überschaubaren Gruppe innerhalb einer Stadt abspielte, deren Mittelpunkt der Bischof war. Für eine Kirche, die aus Landpfarreien mit einzelnen Priestern bestand und für die der Bischof eine ferne Figur war, passten die vorgeschlagenen Lösungen nicht mehr. D’Avray sieht hierin einen Anstoß der Kirchenreformer, die ein beschriebenes Ideal mit ihrer Lebenswelt in Einklang zu bringen versuchten (c. 14). Allerdings setzte sich schließlich ein anderer Umgang mit der Tradition durch: die Interpretation der spätantiken Texte beginnend mit Gratians Dekret und die Ergänzung durch neue Papstschreiben. Das ist der Hintergrund des zweiten Zeitalters der Dekretalen.

Der neue Umgang mit den spätantiken Papstbriefen materialisierte sich in den Glossen zum Dekret Gratians im 13. Jahrhundert. Sie stehen im Fokus der letzten drei Kapitel des Buches, die Fallstudien zur Wiederheirat von Klerikern (c. 16), zu Status und Privilegien des niederen Klerus (c. 17) und zur Bischofswahl (c. 18) beinhalten. In den kommentierten Ausgaben des Dekrets wurden den Dekretalen der frühen Päpste, die der Leser aus den ersten Kapiteln kennt, Dekretalen der hochmittelalterlichen Päpste an die Seite gestellt, die erstere präzisierten und aktualisierten. Die Texte traten in eine „Konversation über die Zeit hinweg“ („conversation over time“, S. 228). Dass die beiden Zeitalter der Dekretalen nicht nur theoretisch, sondern auch nachweisbar in den Quellen eine Verbindung eingingen, macht die These von D’Avray stark und gut nachvollziehbar.

Allein die Parallelisierung der beiden Zeitalter auf personeller Ebene mag nicht ganz überzeugen. D‘Avray hebt die Gemeinsamkeiten der Sammlungen des Dionysius Exiguus (gest. um 540) und des Bernhard von Pavia (gest. 1213) hervor (S. 198–200). Dass beide Einfluss auf ihre Nachwelt ausübten, sei unbestritten, aber dass ihre Entscheidung, (fast) keine Dekretalen mit dogmatischen Inhalten aufzunehmen und sich auf positives Recht zu konzentrieren, letztendlich die Trennung von Kirchenrecht und Theologie mitbedingte, erscheint fraglich. Die Auswahl des Dionysius war zunächst wenig stilbildend, wie andere wirkmächtige Sammlungen zeigen, darunter die Pseudoisidorischen Dekretalen oder Burchards Dekret, die auch im 13. Jahrhundert keineswegs vollkommen aus der Kanonistik verschwanden.

Dieser Einwand ändert aber nichts daran, dass D’Avrays These der zwei Zeitalter der Dekretalen überzeugt und für die Interpretation der Papstbriefe und ihre Bewertung sehr anregend ist. Mit der Gegenüberstellung der zwei Phasen stellt der Autor zudem altbekannte Epochengrenzen infrage, laut derer die zwei Zeitalter der Dekretalen verschiedenen Forschungsbereichen angehören (S. 12; 241). Wie fruchtbar auch in diesem Fall eine Grenzüberschreitung sein kann, davon zeugt dieses Buch.

Anmerkungen:
1 David D'Avray, Papal Jurisprudence, c. 400. Sources of the Canon law tradition, Cambridge / New York 2019.
2 Die Überarbeitung der Glossa ordinaria durch Bartholomäus Brixensis war wohl gegen 1241 abgeschlossen. Vgl. S. 273, Anm. 2.
3 Mit Hinweisen auf die Übersetzung von C. L. Feltoe, The Letters and Sermons of Leo the Great Bishop of Rome (A Select Library of Nicene and Post-Nicene Fathers, 2nd ser., Bd. 12), Edinburgh / Grand Rapids o. J. [1895]. Vgl. S. 242.
4 Abgeglichen mit der Übersetzung von Bronwen Neil / Pauline Allen, The Letters of Gelasius I (492–496). Pastor and Micro-Manager of the Church of Rome (Adnotationes, Bd. 1), Turnhout 2014. Vgl. S. 267.
5 In D'Avray, Papal jurisprudence c. 400, erfolgte bereits eine thematische Interpretation.

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