J. Jędrysiak: Prussian Strategic Thought 1815–1830

Cover
Titel
Prussian Strategic Thought 1815–1830. Beyond Clausewitz


Autor(en)
Jędrysiak, Jacek
Reihe
History of Warfare (131)
Erschienen
Anzahl Seiten
xiii, 531 S.
Preis
€ 178,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Rochow, Interdisziplinäres Forschungszentrum Ostseeraum, Universität Greifswald

Seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine sind Militärexpert:innen und -historiker:innen in deutschen Medien gefragt wie selten. Insbesondere die Frage nach der russischen Strategie, die dem Angriff und den einzelnen militärischen Operationen zugrunde liegen müsste, stand hierbei oft im Zentrum. Daraus spricht ganz offenbar die Ratlosigkeit in Bezug auf das russische Vorgehen und der Wunsch, hierbei durch Einblicke in das arkane Wissen der Militärs Abhilfe zu schaffen. Jacek Jędrysiak beschäftigt sich zwar nicht mit Russland und dessen Kriegen im 21. Jahrhundert, zeigt dadurch aber, dass diese Fragen keineswegs neu sind. Mit seiner Publikation schafft er somit ungewollt die Möglichkeit, über die zeitliche und räumliche Distanz einen neuen Blick auf aktuelle politische Entwicklungen zu werfen. Konkret ist Jędrysiak von der Frage geleitet worden, wie militärische Strategien im preußischen Staat nach 1815 entwickelt und ausgehandelt wurden. Dabei versucht er insbesondere die genaueren Faktoren herauszuarbeiten, aufgrund welcher sich verschiedene Entwürfe schließlich durchsetzten. Das Buch ist aus der noch umfassenderen Dissertation Jędrysiaks Pruska myśl strategiczna 1815–1848 hervorgegangen, die er 2014 an der Universität Wrocław verteidigt hat.

Jędrysiaks grundlegendes Anliegen ist es, die Rolle Clausewitz’ und seines Werkes Vom Kriege für die unmittelbare Zeit nach den Napoleonischen Kriegen zu hinterfragen und somit die verschiedenen Trends und Mechanismen der preußischen strategischen Planung im Detail zu beleuchten. Jędrysiak greift auf Nachlässe preußischer Militärs zurück, die sich im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin-Dahlem befinden. Für sie weist er auf viele weitere Forschungsfragen hin, die mit Hilfe dieses Fundus zu bearbeiten wären. Er selbst hat sich auf wenige Quellen beschränkt, die er im Zusammenhang mit den strategischen Überlegungen im zeitgenössischen Preußen sieht. An erster Stelle stehen hier Denkschriften sowie die überlieferten Korrespondenzen zwischen wichtigen militärischen Entscheidungsträgern der Zeit. Das erste Verdienst Jędrysiaks ist damit bereits klar benannt.

Sein zweites Verdienst offenbart sich bei einem Blick auf sein Vorgehen. Die 14 Kapitel des Buches, denen eine Einleitung voraus- und eine Schlussfolgerung sowie ein Anhang mit ausgewählten Biografien und der Bibliografie und drei Indices nachgelagert sind, gliedern sich in drei Teile. Der erste Teil (Kapitel 1 bis 5) widmet sich den grundlegenden geostrategischen und politischen sowie institutionellen Strukturen und den Veränderungen in diesem Bereich während des Untersuchungszeitraums. Im zweiten Teil (Kapitel 6 bis 9) stehen dezidiert die Pläne zur Verteidigung Preußens zwischen 1815 und 1830 im Fokus. Im dritten Teil (Kapitel 10 bis 14) untersucht Jędrysiak ausgewählte Werke der Militärliteratur in Bezug auf strategische Überlegungen. Diese umfassende Analyse dient nicht nur als Beweis Jędrysiaks Kenntnis der preußischen Militärgeschichte, sondern zeigt, wie komplex die Untersuchung eines Themas angelegt sein muss, dass sich sowohl aus genuin militärischen wie auch aus politischen und gesellschaftlichen Diskursen speist. Auch in dieser Hinsicht setzt Jędrysiak hohe Standards. Er selbst rechtfertigt dieses Vorgehen damit, dass er sich methodisch an dem Konzept der „militärischen Kultur“ orientiert (S. 38f.), das insbesondere für die Untersuchung institutioneller Zusammenhänge offener zu verstehen ist als andere Ansätze.

Trotz dieses Anspruchs ist es Jędrysiak nicht überzeugend gelungen, die ethnologischen sowie kulturellen und – für das behandelte Thema besonders relevant – wissenssoziologischen Dimensionen des gewählten Ansatzes zu nutzen. Insbesondere Teil 1 hätte in dieser Hinsicht sehr gewonnen, wenn nicht nur die vermeintliche geostrategische Schwäche des preußischen Staates aufgrund seiner geografischen Geteiltheit und die personellen Verquickungen der verschiedenen militärischen Institutionen dargestellt, sondern grundlegende Annahmen hinterfragt worden wären. Hierzu zählt die immer wieder prominent auftauchende Erhebung und Darstellung des gegebenen topografischen Terrains, das als Grundlage für jegliche Überlegung zur Verteidigung des preußischen Staates diente. Jędrysiak verschenkt leider aufgrund seines exklusiven Fokus auf prominente Personen die Möglichkeit, auf die wesentliche wissenssoziologische Frage, wie dieses Wissen generiert und quasi kanonisiert wurde, Antworten zu finden und somit die basalen Prozesse des strategischen Diskurses offenzulegen. Stattdessen deckt er Netzwerke auf, die er aber nicht so nennt und daher auch methodisch nicht von Überlegungen zur Netzwerkanalyse profitieren kann. Auch auf Pierre Bourdieus Ansatz zum sozialen Kapital geht er nicht ein, auch wenn er den militärischen Rang und die Position einzelner Personen als entscheidende Faktoren bei der Durchsetzung strategischer Überlegungen benennt. Dies ergibt nach Jędrysiak jedoch Sinn, denn seiner Darstellung nach entschied letzten Endes immer der preußische König darüber, wer in welcher Weise Einfluss nehmen konnte (S. 158, 451). Folgt man jedoch dieser Annahme, dann wirkt es sehr irritierend, dass die königlichen strategischen Vorstellungen kaum behandelt werden. Ethnologische Untersuchungen zu der Funktionsweise von Verwaltungen und der Durchsetzung von herrschaftlichen Ansprüchen mittels bürokratischer Apparate hätten zum einen geholfen, diese Annahme kritisch zu hinterfragen und somit die Rolle des Königs in der Aushandlung der militärischen Strategie stärker auszuleuchten. Zum anderen wäre über diesen methodischen Zugang die Bedeutung des Untersuchungsthemas für weitere Forschungsbereiche deutlicher geworden.

Teil 2 ist so unterteilt, dass sich die ersten zwei Kapitel mit der Zeit 1815 bis 1819 und die zweiten zwei mit der Zeit von 1820 bis 1830 beschäftigen. Jędrysiak folgt damit der Idee, dass mit der Ernennung Karl Georg Albrecht Ernst von Hakes zum preußischen Kriegsminister eine Zäsur stattfand, obwohl er selbst die Bedeutung dieses personellen Wechsels relativiert (S. 302). Dezidiert setzt sich Jędrysiak in diesem Teil des Buchs mit den Überlegungen Hermann von Boyens, Karl von Grolmans und Karl von Müfflings auseinander, ergänzt diese aber um die Analyse weiterer Quellen, die über den genannten Personenkreis hinausreichen und somit Aufschluss über die Verbreitung der identifizierten Vorstellungen und Meinungen geben. Die Auswahl der Personen ist hierbei den zur Verfügung stehenden Überlieferungen geschuldet. Primär stützt sich Jędrysiak auch hier auf überlieferte Breifwechsel und Denkschriften insbesondere zum Thema des Befestigungsbaus und der Verteidigung Preußens nach außen. Kapitel 7 und 9 gehen hierbei sehr ins Detail. Ohne entsprechende Karten und eine Einordnung in die Gesamtargumentation der Arbeit scheinen weite Passagen als nur schwer nachvollziehbar oder gar redundant.

Teil 3 vermag am besten zu überzeugen. Detailliert zeichnet Jędrysiak die Werke von fünf Autoren der betrachteten Epoche nach, die er mit Bedacht ausgewählt hat, und entwickelt über den Verlauf der Kapitel sehr nachvollziehbar die Verbindungen unter ihnen und ihre Einbettung in militärische Strukturen. Sehr gut gelingt es ihm, Gemeinsamkeiten im Denken, aber auch Unterschiede in dem Einfluss der Autoren herauszustellen. Besonders profitiert dieses Kapitel von Jędrysiaks Sprachkompetenz, so dass neben der üblichen Referenz zum französischen militärischen Diskurs auch das Aufgreifen einzelner Autoren in der polnischen Militärliteratur die Analyse bereichern. Nicht zuletzt lokalisiert Jędrysiak in diesem Kapitel auch Clausewitz und seine Ideen in dem Diskurs zum strategischen Denken in Preußen zwischen 1815 und 1830. Demzufolge hatte der Autor von Vom Kriege nur sehr begrenzten Einfluss. Gleichzeitig gab es Zeitgenossen, die seine Ideen teilten oder Clausewitz in seinem Denken auch vorangingen (S. 454).

Neben den erwähnten Schwachstellen muss bemängelt werden, dass die einzelnen Kapitel nicht durch Teilüberschriften strukturiert sind. Dies erschwert es zuweilen, die detailreichen Texte adäquat innerhalb des Bandes einordnen zu können. Sehr störend wirken zudem die vielen Schreibfehler und die scheinbar inkonsequente Verwendung von Ortsnamen. Auch erschließt sich dem:der Leser:in nicht, auf der Basis welcher Kriterien die Auswahl der Biografien im Anhang erfolgte. August Wagner, den Jędrysiak als „important figure on the development of military thought in the General Staff“ (S. 164f.) beschreibt, wird dort zum Beispiel nicht aufgeführt. Insbesondere für Teil 1 und 2 wäre zudem ein Abkürzungsverzeichnis sehr hilfreich gewesen.

Insgesamt handelt es sich bei dieser Publikation um eine durchaus lesenswerte Studie, die den Mythos „Clausewitz“ erfolgreich hinterfragt und insgesamt umfangreich auf ältere und aktuelle Forschungsarbeiten mit Bezug auf preußische Militärgeschichte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts rekurriert. Sie folgt jedoch eher dem Trend einer konventionellen Arbeit im Bereich der Militärgeschichte, die nur wenig von den Überlegungen der „neuen Militärgeschichte“ mit ihren Einflüssen aus den Kultur- und Sozialwissenschaften aufweist. Verbindungen lassen sich jedoch an vielen Stellen finden. Jędrysiaks Arbeit kann somit wichtiges Material für weitere Arbeiten bieten. Insbesondere ein Vergleich mit anderen europäischen Ländern wäre hier hilfreich, um die enge preußische Perspektive in Verbindung mit weiterreichenden Entwicklungen zu bringen. Dass dies für ein besseres Verständnis förderlich wäre, klingt in Jędrysiaks Arbeit an vielen Stellen an. Nicht zuletzt bietet sich auch eine dezidiertere Untersuchung der preußischen Militärpolitik innerhalb des Deutschen Bundes in dieser Zeit an. Für das preußische strategische Denken wären hier zum Beispiel die Verhandlungen zu den Bundesfestungen Rastatt und Ulm von Interesse, auf die Jędrysiak leider nicht eingegangen ist.

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