F. Klopotek: Heinz Langerhans: Die totalitäre Erfahrung

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Titel
Heinz Langerhans: Die totalitäre Erfahrung. Werkbiographie und Chronik


Autor(en)
Klopotek, Felix
Reihe
Dissidenten der Arbeiterbewegung (6)
Erschienen
Münster 2022: Unrast Verlag
Anzahl Seiten
372 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Detlef Siegfried, Department of English, German and Romance Studies, University of Copenhagen

Nachdem das Interesse am historischen Linkskommunismus unmittelbar vor und nach 1968 besonders groß gewesen war und eine Reihe wichtiger Studien etwa von Hans Manfred Bock, Erhard Lucas oder Michael Buckmiller hervorgebracht hat sowie nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus noch einmal aufgeflammt war, ist in jüngster Zeit erneut eine kleine Konjunktur zu beobachten.1 Das hier anzuzeigende Buch ist neben einem im vergangenen Jahr erschienenen Überblickswerk zum Rätekommunismus bereits die zweite Monografie, die Felix Klopotek zu diesem Thema vorlegt.2 Wie in seiner exzellent informierten Ideengeschichte dieser politischen Strömung, interessiert sich der Autor auch in dieser „Werkbiographie“ für die Theorie, die einen dezidierten Kontrapunkt sowohl zur Sozialdemokratie als auch zum stalinistischen Kommunismus setzte. Man spekuliert wohl nicht zu viel, wenn man annimmt, dass beide Bücher in einem engen Produktionszusammenhang entstanden sind. Anders als das Überblickswerk konzentriert sich Klopoteks neues Buch auf einen einzigen Protagonisten, den er dem Vergessen entreißt. Geläufig war der Name Heinz Langerhans (1904–1976) schon, als Vertrauter der einstigen KPD-Vorsitzenden Ruth Fischer, Freund Karl Korschs und zeitweiliger Mitarbeiter des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main und im US-Exil. Doch über die Arbeiten des bei Max Horkheimer promovierten, nach der Remigration in Saarbrücken und Gießen lehrenden Politikwissenschaftlers war nur wenig bekannt. Dies ändert Klopoteks Buch nun grundlegend, das im Wesentlichen auf Langerhans' erst kürzlich entdecktem Nachlass beruht. Es ist gedacht als Auftakt für eine Werkausgabe, die dessen Schriften zugänglich machen soll.

Für die Forschung ist Klopoteks Arbeit ein Glücksfall, weil sie der Geschichte linker Sozialwissenschaftler, die sich in der Revolutionszeit radikalisierten, einen gewichtigen Baustein hinzufügt. Bald jährt sich zum hundertsten Mal die Auftaktkonferenz des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, die „Marxistische Arbeitswoche“ vom Mai 1923, die einige wesentliche Akteure dieser Szenerie versammelte – neben dem Initiator Karl Korsch und seiner Frau Hedda waren unter anderem Georg Lukács, Felix Weil, Richard Sorge, Gertrud Alexander und Friedrich Pollock dabei. Auch nicht Anwesende wie Kurt Albert Gerlach, der das Konzept des Instituts verfasst hatte, aber kurz vor seiner Berufung zum Direktor verstorben war, und eben Langerhans als etwas jüngerer Akteur gehörten zu den revolutionär inspirierten Sozialwissenschaftlern der Weimarer Republik. Die meisten von ihnen waren zeitweise Mitglieder der Kommunistischen Partei, aber insofern „linksradikal“, als sie angeblichen ökonomischen Gesetzmäßigkeiten misstrauten und in der Eigeninitiative der Arbeiter das entscheidende Movens des gesellschaftlichen Fortschritts sahen. Anarchosyndikalisten wie Gerlach und Rätekommunisten wie Paul Mattick lehnten die Idee einer revolutionären Avantgarde, einer führenden Partei ab. Historiografisch interessant sind diese Wissenschaftler auch insofern, als sie sich nicht als abständige Beobachter ihrer Zeit verstanden, sondern als parteiliche Teilnehmer der revolutionären Bewegungen, die sie zugleich wissenschaftlich durchdringen wollten.

Da es Klopotek um Langerhans' Werk geht, werden biografische Aspekte lediglich knapp skizziert – der Ausschluss aus der KPD von 1926, die Zusammenarbeit mit Korsch, Zuchthaus und Konzentrationslager zwischen 1933 und 1939, die Emigration in die USA von 1941, die Professur am Gettysburg College. 1956 ging Langerhans zurück in die Bundesrepublik, wurde 1959 Professor in Saarbrücken, 1966 in Gießen, wo er bis zur Emeritierung von 1972 lehrte. Schon 1930 war Langerhans wie andere linksradikale Intellektuelle der SPD beigetreten, in der er auch nach dem Krieg aktiv war. Um 1968 sympathisierte er mit der Studentenbewegung.

Klopotek sichtet die Texte seines Protagonisten chronologisch und stellt dabei Entwicklungslinien und Verbindungen heraus, aber auch Konflikte mit anderen linken Theoretikern. Im Zentrum steht die Analyse von Langerhans' Hauptwerk, der 1941/42 verfassten, jedoch unvollendet und unveröffentlicht gebliebenen Studie „How to Overcome Totalitarianism“. Angesichts des stalinistischen Terrors und des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts von 1939 war es kein Wunder, dass auch Ex-Kommunisten strukturelle Parallelen zwischen dem „Dritten Reich“ und der Sowjetunion hervorhoben (wie Franz Borkenau in seiner Studie „The Totalitarian Enemy“ von 1940) und auch formative Tendenzen in den USA einbezogen (wie das Institut für Sozialforschung im Exil). Langerhans unterschied sich von diesen Analysen insofern, als er erstens seine Theorie aus der Entwicklung der Produktivkräfte ableitete, die durch eine Vereinfachung, Verallgemeinerung und Verflechtung der Arbeitsprozesse gekennzeichnet sei, was die Bedeutung der Arbeit und damit der Produzenten erhöhte. Diese könnten sich, so Langerhans, nicht aus der Integration in das politische System lösen, wohl aber ihre gewachsene Autonomie auf dem Feld der Arbeit durch Verweigerung und Sabotage zur Geltung bringen. Zweitens knüpfte er an die linkskommunistische Ausgangsthese von der Transformation der ursprünglich revolutionären Arbeiterbewegung in eine Agentur der Konterrevolution an, die er radikalisierte, indem er keine zeitliche Abfolge annahm, sondern postulierte, dass die Konterrevolution der Revolution strukturell inhärent sei. Damit war selbst ihre heroische Phase unter Lenin nicht mehr zu retten. Langerhans schrieb: „Es zeigt sich, dass es keine proletarische Demokratie, keine proletarische Revolution, keine proletarische Partei, Politik, keinen proletarischen Staat geben kann – ohne dass es alles dies zwar gibt, aber mit totalitärem Resultat.“ (zit. auf S. 122) Manchen früheren Genossen – so seinem „Lehrer“ Korsch – ging die These von der Erfüllung der Revolution in der Konterrevolution zu weit, weil sie keine positive Perspektive bot. Noch nicht einmal die bürgerliche Demokratie war ja aus dieser Sicht zukunftsträchtig – ihr Freiheitsversprechen korrumpierte den Marxismus.

Auch in anderen Texten erweist sich Langerhans als origineller Denker. In dem Exposé „The Planned Catastrophe“ von 1942 skizzierte er (gemeinsam mit seinem Freund Leo Friedmann), wie sich aus der verfahrenen Situation der Deutschen im Krieg – Dysfunktionalität der Marionettenregimes in anderen europäischen Ländern, Sabotage der Kriegsproduktion durch das wachsende Heer von Zwangsarbeitern – die Notwendigkeit ergab, die Produktivkräfte zu modernisieren und biochemische Waffen zu entwickeln, die das Potenzial hatten, eine „‚natural‘ catastrophe“ (zit. auf S. 205) auszulösen, was nicht nur ganze Lebensräume bedrohte, sondern auch die politische Konstitution terroristischer Herrschaft.

Während Klopotek das Anregungspotenzial der theoretischen Einsichten herausarbeitet, steht er der politischen Praxis Langerhans' in den Exiljahren kritisch gegenüber – seiner Teilnahme an Ruth Fischers antistalinistischem Furor, der auch Leute wie Paul Tillich und Ludwig Marcuse traf, die in ihrer Zeitschrift als nützliche Idioten Moskaus denunziert wurden. „Vor lauter Antistalinismus“, so Klopotek, „gerät ihm [d.h. Langerhans] die Gegenwart des westlichen Kapitalismus mit all seinem imperialen, antikommunistisch-antiproletarischen Potenzial völlig außer Blick.“ (S. 249) Nach dem Krieg engagierte sich Langerhans gegen die atomare Aufrüstung und suchte alternative Modi der politischen Transformation. Während einer mehrjährigen Gastprofessur in Dacca, Ostbengalen, in den frühen 1960er-Jahren wurde er Zeuge des postkolonialen Aufbruchs in Südostasien, als dessen antihierarchische und antiautoritäre Inspirationsquelle er eine bestimmte Variante des Buddhismus ausmachte – auch dies eine Verbindung, über die man gern mehr erfahren würde.

So lässt das Projekt der Werkedition auf weitere Einsichten in das globale Wirken der frühen Linksintelligenz aus der Revolutionszeit hoffen.3 Dass die „Werkbiographie“ – im Gegensatz zu den konzisen Miniaturen des „Rätekommunismus“-Buches – streckenweise wie eine Meditation über die feinsten Verästelungen von Langerhans' Thesen und Herleitungen wirkt, mitunter versetzt durch philologische Grabungen, nimmt man angesichts des reichen Gewinns gern in Kauf. Klopoteks faszinierende Langerhans-Lektüren demonstrieren einmal mehr, wie anregend linkskommunistisch inspirierte Sozialwissenschaftler der Weimarer Republik auch nach ihren aktivistischen Jahren sein konnten.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Philippe Bourrinet, The Dutch and German Communist Left (1900–68). „Neither Lenin Nor Trotsky Nor Stalin!“ – „All Workers Must Think for Themselves!“, Leiden 2017. Für die Jahre nach 1989/91 kennzeichnend war die aktualisierte Neuausgabe von Hans Manfred Bocks Standardwerk aus dem Jahr 1969 mit neuem (Unter-)Titel: Syndikalismus und Linkskommunismus von 1918 bis 1923. Ein Beitrag zur Sozial- und Ideengeschichte der frühen Weimarer Republik, Darmstadt 1993.
2 Felix Klopotek, Rätekommunismus. Geschichte – Theorie, Stuttgart 2021. Vgl. die Rezension von Malte Meyer, in: Arbeit – Bewegung – Geschichte 21 (2022), Heft 2, S. 207–210.
3 Siehe auch Felix Klopoteks projektbegleitende Website: https://www.totalitaere-erfahrung.de (14.09.2022).

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