I. Liebmann: Wäre es schön? Es wäre schön!

Cover
Titel
Wäre es schön? Es wäre schön!. Mein Vater Rudolf Herrnstadt


Autor(en)
Liebmann, Irina
Erschienen
Berlin 2008: Berlin Verlag
Anzahl Seiten
416 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Helmut Müller-Enbergs, Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes

Wie lange braucht es, um das öffentliche Erbe eines so berühmten Vaters wie Rudolf Herrnstadt zu verdauen, besser noch – zu verarbeiten? Diese Frage drängt sich dem auf, der das schriftstellerische Schaffen von Irina Liebmann Revue passieren lässt.
Irina war zehn Jahre alt und ihre Schwester Nadja deutlich jünger, als ihr Vater Rudolf Herrnstadt, einflussreicher und hochbegabter Chefredakteur der wichtigsten Tageszeitung in der DDR, des „Neuen Deutschlands“, und Kandidat des Politbüros der SED, dem faktischen Entscheidungszentrum in der DDR (neben der anleitenden Sowjetunion), im Juli 1953 gestürzt wurde. Bis dahin wurden seine Kinder von ihm und seiner aus der Sowjetunion stammenden Ehefrau Valentina in Ehrfurcht vor dem Mutterland des Sozialismus und eben des deutschen Ablegers SED erzogen. Und nun wurden sie aus dem beinahe paradiesischen „Städtchen“ am Majakowskiring in Berlin-Pankow vertrieben, in dem die wichtigsten Funktionsträger der DDR lebten. Vertrieben nach Merseburg, einem in den 1950er-Jahren üblen Kaff in der sachsen-anhaltinischen Provinz. Seit diesen Julitagen galt es für die Herrnstadt-Kinder, dann Jugendlichen und schließlich Erwachsenen, einen Umgang, eine Ordnung und eine sinnhafte Erklärung für all das zu finden, was dem Vater fortan öffentlich und mitunter subtil nachgesagt wurde – die Todsünden im kommunistischen Glaubensallmanach schlechthin: Fraktionismus! Kapitulantentum! Daran und darüber starb Herrnstadt, zuletzt als Historiker tätig, mit 63 Jahren.

Der Glaube an die Sowjetunion blieb, der an die SED verschwand, da die Kinder von ihrem Vater wussten, was damals wirklich in der Partei geschah, aber in Geschichtsbüchern und Reden gänzlich anders beschrieben wurde. Denn ihr Vater hatte davon erzählt und vor allem, es aufgeschrieben, was umständlich zu verstecken war, in Sorge, die herrschende Partei würde dieses Zeugnis auslöschen, würde sie denn gewahr, dass es von ihm minutiös dokumentiert worden war. Verschriftet wurde vor einem halben Jahrhundert ein „Dokument“, das „Herrnstadt-Dokument“1, beispiellos, so beispiellos, dass es in seiner zukünftigen Bedeutung noch Wolfgang Leonhardts „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ in den Schatten schicken wird, wenn denn irgendwer noch auf die DDR schauen würde. Dieses Geheimnis war zu bewahren, die Wahrheit der Herrnstadts zu verschlucken, bis es möglich war, sie auszusprechen. Und dieses Aussprechen ist nach dem langen Schweigen ein komplizierter Prozess, zumal sich die Zeiten verändert haben. Das Land, dem das alles galt, ist eine lange Fußnote geworden.

Die Verarbeitung all dessen setzte schon unmerklich ein, als Irina den Beruf der Journalistin, dann der Schriftstellerin und Nadja den der Historikerin wählte, eben jene drei Berufe, die auch der Vater ausgeübt hatte. Die von der Partei zu seiner, dann zu ihrer Lebenszeit verweigerte Rehabilitation erlaubte – nach vielen Schmähungen – in der engen geistigen Korsage auch der letzten DDR-Jahre lediglich einen ganzseitigen Artikel durch Nadja, nach redaktioneller Bearbeitung durch Erich Honecker selbst: „Das war kein Krieg“, lautete die Überschrift in der DDR-Zeitung „horizont“ in einer Ausgabe im Jahre 1988. Zwei Jahre später, gleichfalls von ihr, jenes fulminante „Dokument“, das einen tiefen Einblick in die Innereien einer Herrschaftselite erlaubt.

Die ältere Schwester Irina hielt sich zunächst zurück. Am umfangreichsten ging ihre erste größere Skizze im Roman „In Berlin“ (1994)2 auf den Vater ein. Sie schreibt, wie sie als Kind, „zu dem Vater immer so hochgeredet hat auf den Spaziergängen“.3 Eben – „so hoch“ über ihr schwebte er noch, als er schon mehr als eine Generation lang verstorben war und doch noch so nah, so verknotet war, dass es schwer schien, sich und anderen dieses eine Leben zu erklären. Eingesprenkelt die Passagen in diesem Roman ist dieser Riss, der telegrafisch in ihr Leben und das der Mutter schneidet: „Komm nicht wieder“ steht drin, „ich habe keine Arbeit mehr, bin sehr unglücklich“, schrieb er.4 Nach der Vertreibung aus dem Städtchen dann „einmal mit Steinen beworfen als Russen, wenn die Eltern das wüssten, die haben genug Sorgen, der Vater streichelt der Mutter den Kopf, die umarmt ihn, wie schön sieht sie aus, aber einmal, als in der Hofpause aus der Gruppe der Jungen einer über den Hof kommt, zu ihr, um zu fragen, ob ihr Vater Jude ist, hat sie dem Vater die Sache erzählt.“5 Das schrieb sie 1994, ein Versuch, zu verstehen und einzuordnen, begonnen, aber nicht abgeschlossen.

Zehn Jahre später im Roman „Die freien Frauen“6 unternimmt sie einen weiteren Versuch, quasi hinter Milchglas, wenn es heißt, „alle Personen und ihre Handlungen dagegen sind Gebilde der Fantasie“, was so nicht stimmt, aber vor Aufdringlichkeiten schützt. Der junge Herrnstadt floh aus der Geburtsstadt Gleiwitz, kam Mitte der zwanziger Jahre nach Berlin, fühlte sich als Schriftsteller, wenn nicht als Dichter, war Lektor in einem der führenden deutschen Theaterverlage, dem „Drei-Masken-Verlag“, wurde Journalist beim „Berliner Tageblatt“ und schlug sich auf die Seite der KPD. Irina Liebmann braucht dafür einen Satz: „Er war gerade in Berlin angekommen als ein armer Poet, hatte also beschlossen, ein Dichter zu sein, da traf ihn das Rot.“7 So einfach, so präzise. Ihr Vater, schwer krank, „war wach“, schreibt sie über sein Lebensende, „weil er immer wach war, in der Nacht. In großen Abständen tief Luft holend, sah er seine Zeitungsartikel unter den Augendeckeln, wie auf Monitoren standen sie ihm vor Augen, die Titelzeilen, die Sätze, die Wörter – immer wieder zuckte die Augenbraue, die linke, unglaublich, hieß das, es ist nicht zu glauben.“8 Wer Herrnstadts Texte kennt, weiß, dass sie auf Papier geschlagene Marmorstatuen sind, deren Worte so einprägsam sind, dass es sie noch gibt, ohne dass manch einer weiß, dass er sie ins kollektive Gedächtnis gebrannt hat. Der Titel „Die Russen und wir“ etwa gehört dazu.

Es brauchte weitere vier Jahre, da ist Irina Liebmann um die 65 Jahre alt, um jene Form für eine Jahrhundertbiographie zu finden, die es nur im letzten gab. Es ist der Stoff nicht als Roman zu greifen, wie sie es probiert hat, aber nur als Roman vermittelbar; es geht nicht als historisches Sachbuch, aber auch nicht ohne historische Sachkenntnis mit Fußnoten und Personenverzeichnis; es geht nur mit größter persönlicher Distanz, aber nur mit familiärer Nähe; es funktioniert nicht als Theaterstück, aber doch als Drama – es geht also nur als Ensemble aller Künste. Es muss der Titel mindestens eine Sequenz aus einer seiner Texte sein, es kann nicht anders sein. So lautet er denn auch „Wäre es schön? Es wäre schön!“. Das fragte er in der herben stalinschen Zeit auf einer Konferenz im Jahre 1952.

Der Leser erfährt in der Sache kaum Neues, aber wie er es erfährt, erhält er eine Panoramafahrt in einen untergegangenen Staat, das es jeder verstehen kann, sogar die Juroren, die dem Buch den Literaturpreis der Leipziger Buchmesse verliehen. Zu dem kaum Neuen gehören zwei Briefe und ein langer Lebenslauf (S. 42-50), deren Gewicht sich nur erschließt, wer sich im Detail in die Zeitläufe einmischen will.
Und gleichfalls neu ist der ruhige, unaufgeregte, suchende Ton, wo sie doch in früheren Jahren, so in dem Roman „In Berlin“ schrieb: „Es wird nichts mit dem Sozialismus, wenn die so weitermachen, seine Partei, so gegen die Leute, sagt die Liebmann, er hat Ulbricht abgesetzt, für zwei Wochen, mit anderen zusammen“.9 Nun, in „Es wäre schön“, klingt die gleiche Sequenz tastender: „Alle Übrigen wollen, dass Ulbricht seine Funktion abgibt. Der stimmt schließlich zu, „na gut, wenn alle es so sehen, bitte, ich klebe nicht an dem Posten“. Er ist abgesetzt. Er war abgesetzt! So erzählte es mein Vater. Die Mehrheit im Politbüro wollte keinen Diktator mehr, sie wollte Offenheit und sie hatte sich durchgesetzt. Und wieder kein Beschluss“ (S. 353).

Wie lange es also brauchte, um das Erbe eines so berühmten Vaters wie Rudolf Herrnstadt zu verdauen oder zu verarbeiten? Das dauert also fast ein ganzes Leben. Aber: Sie hat nicht mehr hochgeredet, sondern nach vielem Suchen die Form und, was ganz offenkundig den meisten Schweiß gekostet haben wird, den Inhalt gefunden, um sich frei zu schreiben, sich vom Vater zu häuten. Denn der Inhalt ist nichts geringeres, als eine Antwort auf den Umgang mit den Visionen des Vaters zu finden, wo sich die Zeiten doch so grundsätzlich geändert haben. Ihre Antwort: Sie lässt sie einfach offen. Sie sagt: Es sei gewagt, über seinen Vater zu schreiben, wenn man sechzig ist, aber vorher ist es mir nicht eingefallen. Da wollte ich ein eigenes Leben führen, selbst gebaut und selbst verantwortet, und nicht die Tochter eines berühmten Mannes sein, nur das nicht!“ (S. 9) Mir scheint: Das Gegenteil trifft zu – das eigene Leben fängt nun erst richtig an.

Anmerkungen:
1 Vgl. Nadja Stulz-Herrnstadt (Hrsg.), Das Herrnstadt-Dokument. Das Politbüro der SED und die Geschichte des 17. Juni 1953, Reinbek 2002.
2 Irina Liebmann, In Berlin, Köln 1994.
3 Liebmann, In Berlin, S. 122.
4 Liebmann, In Berlin, S. 127.
5 Liebmann, In Berlin, S. 128.
6 Irina Liebmann, Die freien Frauen, Berlin 2004.
7 Liebmann, Die freien Frauen, S. 26.
8 Liebmann, Die freien Frauen, S. 60.
9 Liebmann, In Berlin, S. 144.

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