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Titel
Ghosts of War. Nazi Occupation and Its Aftermath in Soviet Belarus


Autor(en)
Exeler, Franziska
Erschienen
Anzahl Seiten
360 S.
Preis
$ 35.95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Bohn, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Am 24. Februar 2022 weckte Vladimir Putin mit dem Angriff auf die Ukraine in Europa wieder einmal die „Geister des Krieges“. Zum Aufmarschplatz gehörte fatalerweise auch die Republik Belarus,1 die durch die Niederschlagung der weiß-rot-weißen Revolution des Jahres 2020 zunehmend in den Schatten von Putins Projekt einer „russischen Welt“ geraten war. Die wochenlangen Demonstrationen gegen Aleksandr Lukašenkos Wahlmanipulationen fokussierten sich in den ersten Tagen markanterweise auf die sowjetische Stele für die „Heldenstadt Minsk“, an der sich seit 2014 das Museum für den „Großen Vaterländischen Krieg“ befindet. Im Zusammenhang mit der Neukonfiguration von Putins Imperium treibt der postsowjetische Kult um den Zweiten Weltkrieg inzwischen ungeahnte Blüten. Jeder, der eine andere Meinung vertritt, gerät bei den Machthabern unter Extremismus-Verdacht und wird mit dem Faschismus-Vorwurf konfrontiert – in Russland und Belarus gleichermaßen.

Daher unterliegt Franziska Exelers Monographie zu Belarus im Zweiten Weltkrieg und den Jahren danach, die aus einer Dissertation an der Princeton University hervorgegangen ist, einer gewissen Brisanz. Mit den „Geistern des Krieges“ thematisiert die Verfasserin denn auch „the choices that people made under German occupation“ (S. 3). Zweifelsohne geriet die belarusische Bevölkerung im „Zeitalter der Extreme“ (Eric Hobsbawm) in eine verhängnisvolle Zwangslage. Sie fand sich unter Stalin und Hitler sozusagen auf dem „Schlachtfeld der Diktatoren“ (Dietrich Beyrau) wieder. Vor diesem Hintergrund hätte Exeler an die „Untoten“ aus dem Sowjetunion-Buch von Alexander Etkind anknüpfen und inhaltlich in die Trauma-Forschung einsteigen können. Die durch den Titel eines Vietnam-Buches von Heonik Kwon inspirierte „Geister“-Beschwörung hat für die Verfasserin aber nur eine rhetorische Funktion (S. 253, Anm. 7).2 Im Sinne der neuen Alltags- und Kulturgeschichte ist es ihre Sache, die Erfahrungen der „kleinen Leute“ wiederaufleben zu lassen. Zur Untermalung archivgestützter Studien nutzt sie daher Rahmenerzählungen, die sich auf autobiographische Aussagen stützen. Diese stammen von acht Personen, die ein Tableau aller relevanten Bevölkerungsgruppen repräsentieren sollen (S. 27, S. 241).3 Durch die Zitation von Egodokumenten wird zwar ein anschaulicher Leseeindruck vermittelt, doch sind aufgrund der wortwörtlichen Wiedergabe Abstriche an die historische Kritik hinzunehmen.

Zieht man den Forschungsstand zu Rate, zeigt sich, dass mit den Arbeiten von Bernhard Chiari und Christian Gerlach bereits am Ende des 20. Jahrhunderts Standardwerke vorlagen.4 Während Chiari sowie Gerlach vor allem die deutsche Besatzungs- bzw. Vernichtungspolitik bis 1944 nachzeichnen, stellt Exeler deren Aufarbeitung in der Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) in den 1950er- und 1960er-Jahren ins Zentrum. Darüber hinaus sind die Etappen eines begrifflichen Paradigmenwechsels zu konstatieren. Im Zuge der postsowjetischen Archivrevolution hatten Chiari und Gerlach zwar „Weißrussland“ als Schauplatz des deutschen „Russlandfeldzuges“ markiert. Doch stand dieses Land in der Wahrnehmung der deutschen Öffentlichkeit bis zur Reise des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier zur Gedenkstätte Malyj Trostenec bei Minsk im Jahre 2018 noch ganz im Schatten der Sowjetunion. Unter dem Eindruck der weiß-rot-weißen Revolution setzte sich im Deutschen nach 2020 schließlich ein Wechsel der Landesbezeichnung von „Weißrussland“ zu „Belarus“ durch. Dieser Wandel spiegelt sich auch an den Veröffentlichungen von Franziska Exeler wider. Findet sich in den englischen Aufsätzen von 2016 noch der Ausdruck „Belorussia“5, legt sie ein paar Jahre später konsequenterweise ein „Belarus“-Buch vor.

Gerade der erinnerungskulturelle Umgang mit der nationalsozialistischen Vernichtungsstätte Malyj Trostenec führt in Bezug auf die „Geister des Krieges“ zum Kern des Problems. Während deutscherseits das Gedenken an den Holocaust dominiert, stehen belarusischerseits die sowjetischen Zivilisten im Fokus der Erinnerung. Unter dem Lukašenko-Regime ist nicht von der Vernichtung der europäischen Juden, sondern vom Genozid am belarusischen Volk die Rede.6 In diesem Zusammenhang offenbart sich die Magie der Zahlen. Im Hinblick auf Malyj Trostenec pocht das Regime, den Schätzungen der sowjetischen Außerordentlichen Untersuchungskommission aus der unmittelbaren Nachkriegszeit folgend, heute immer noch auf über 200.000 Tote, obgleich sich aus den Akten der deutschen Täter nur wenig mehr als 50.000 Opfer beziffern lassen.

Aus diesem Grund ist es angemessen, Exelers Buch vom Ende her zu lesen. In einem Annex über Kriegsverluste (S. 245–251) legt die Verfasserin nämlich plausible Überlegungen zu der verwirrenden Zahlenarithmetik vor, die sich aus unterschiedlichen demographischen Quellen zu verschiedenen territorialen Bezugsgrößen speist. Exeler geht davon aus, dass 1939 auf dem Gebiet, auf dem sich die mit den westlichen Landesteilen vereinigte BSSR 1945 konstituierte, rund 9 Millionen Menschen lebten. Vor diesem Hintergrund benennt die Verfasserin folgende Todesziffern: 945.000 bis 1.116.000 Zivilisten (darunter 500.000 bis 671.000 Juden) und 750.000 Soldaten (neben 700.000 Rotarmisten weitere 37.378 Partisanen). Dazu rechnet sie noch mindestens 17.431 Sowjetbürger, die von Partisanen als Kollaborateure getötet wurden. Unter diesen Voraussetzungen kommt Exeler auf eine Opferzahl von 1.715.000 bis 1.886.000, die sie der sich auf 2.129.225 belaufenden Schätzung der Außerordentlichen Untersuchungskommission gegenüberstellt. Insgesamt starben 19 bis 22 Prozent der „belarusischen“ Bevölkerung infolge des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion (S. 250 und 251). Mit dieser Hypothese widerspricht Exeler dem Lukašenko-Regime, das dem Grundsatz folgt, mindestens jeder vierte Belaruse sei unter deutscher Besatzung ums Leben gekommen. Aus der verschrobenen Sicht des Regimes betreibt Exeler mit der Reduzierung der Opferzahl auf ein Fünftel der Gesamtbevölkerung eine „Falsifizierung der Geschichte“.

Der Hauptteil des Buches bietet in zwei Kapiteln zunächst eine Summe dessen, was aus den Darstellungen Chiaris und Gerlachs über die Entwicklungen der Zwischenkriegszeit und über die deutsche Besatzungsherrschaft bekannt ist. Insbesondere die Befunde Chiaris, der aus der Perspektive des Osteuropahistorikers einen dezidiert alltagsgeschichtlichen Ansatz verfolgte, hätten ausführlicher an die angloamerikanische Fachwelt vermittelt werden können. Immerhin findet Chiaris Bild von der Spirale der Gewalt respektive des Krieges „jeder gegen jeden“ in Exelers Ausführungen eine Bestätigung. Mehr als der Holocaust spielt in der belarusischen Erinnerungskultur das Schicksal der verbrannten Dörfer eine Rolle. Dabei ist in Betracht zu ziehen, dass die Zivilbevölkerung nicht nur unter deutschen Strafaktionen gegen angebliche Partisanen zu leiden hatte, sondern dass sie auch mit Plünderungen durch sogenannte „Banditen“ zu rechnen hatte. Dementsprechend bezeichneten die Bauern die aus dem eigenen Dorf stammenden Widerstandskämpfer als „Unsere“ (naši), die von außen kommenden Plünderer aber als „Fremde“ (čužie) (S. 221).

An diesen Teil schließen sich vier innovative Kapitel über die Zeit des Spätstalinismus und die Entstalinisierung an. Darin werden Berichte aus den Akten der Kommunistischen Partei oder der sowjetischen Behörden mit Aussagen aus Egodokumenten und Interviews kontrastiert. Es geht dabei um die Neuordnung der Lebensverhältnisse durch die evakuierten Eliten, um das Aufspüren und die Bestrafung vermeintlicher Verräter sowie um das Lavieren der kleinen Leute zwischen Rechenschaftspflicht und Rachegefühlen. Denn die für den Einzelnen mit einem Tabu verbundene Frage nach dem Verbleib im Krieg – handelte es sich um das Leben unter den deutschen Besatzern oder gar um die Verschleppung zur Zwangsarbeit nach Deutschland – zog im Arbeitsleben eine Stigmatisierung nach sich und trug damit zur gesellschaftlichen Polarisierung bei. Ungeachtet dessen begann die belarusische Parteiführung den Mythos von der „Partisanenrepublik“ zwanzig Jahre nach Kriegsende auch deshalb zu kreieren, um im Moskauer Kreml Ressourcen für die Modernisierung ihres Agrarlandes einfordern zu können.

Als Ergänzung zu Exelers Ausführungen ist die Tradition der sowjetischen „Dokumentarliteratur“ zu empfehlen. Es handelt sich um die künstlerische Bewältigung von traumatischen Erfahrungen aus der Vergangenheit mittels Zeitzeugenbefragung. Zu nennen ist beispielsweise die belarusische Nobelpreisträgerin Svetlana Aleksievič. Besonders aufschlussreich sind aber auch die fiktionalen Texte von Vasil Bykaŭ, dessen Memoiren in Exelers Buch durchaus eine Rolle spielen. In Bykaŭs Erzählungen werden die „Geister des Krieges“, die Entscheidungsnotstände und Rollenwechsel der belarusischen Bevölkerung unter deutscher Besatzung und in der sowjetischen Nachkriegszeit, eindrücklich beschrieben.

Alles in allem ist das, was die mit dem Ernst Fraenkel Prize der Wiener Holocaust Library ausgezeichnete Monographie von anderen Standardwerken unterscheidet, das Bestreben, jedes Kapitel mit Aussagen von belarusischen Zeitzeugen zu rahmen und die Entwicklungen der Nachkriegszeit in die Erzählung einzubeziehen. Die lebendige Art der Darstellung folgt dabei den Schneisen, die Anika Walke und Iryna Kashtalian für die Untersuchung des Holocaust und des Spätstalinismus geschlagen haben.7 Anstelle einer inhaltlichen Bilanz, die die über die Belarus-Forschung hinausgehende Relevanz des Buches noch einmal begründet hätte, findet sich am Schluss ein Nachwort zu internationalen Kriegsverbrecherprozessen und zu den weiteren Schicksalen der Personen, deren Erlebnisse den Hauptteil strukturieren.

Anmerkungen:
1 Vgl. zur Empfehlung der Belarusisch-Deutschen Geschichtskommission „Weißrussland heißt jetzt Belarus: Aber wie nennt man die Einwohner – Belarusen oder Belarussen?“, uepo.de, 18. August 2020; https://uepo.de/2020/08/18/weissrussland-heisst-jetzt-belarus-aber-wie-nennt-man-die-einwohner-belarusen-oder-belarussen/ (15.12.2022).
2 Vgl. Heonik Kwon, Ghosts of War in Vietnam, Cambridge 2008; Alexander Etkind, Warped Mourning. Stories of the Undead in the Land of the Unburied, Stanford 2013.
3 Die Namen Ol’ga Bembel‘-Dedok, Chasia Bornstein-Bielicka, Zofia Brzozowska, Vasil‘ Bykaŭ, Vladimir Chartanovič, Litman Mor, Lev Ovsiščer und Zinaida Suvorova repräsentieren in unterschiedlicher Weise sprachlich das Belarusische, Polnische, Jiddische und Russische sowie konfessionell die Orthodoxie, den Katholizismus und das Judentum.
4 Vgl. Bernhard Chiari, Alltag hinter der Front. Besatzung, Kollaboration und Widerstand in Weißrussland 1941–1944, Düsseldorf 1998; Christian Gerlach, Kalkulierte Morde. Die deutsche Wirtschafts- und Vernichtungspolitik in Weißrußland 1941 bis 1944, Hamburg 1999.
5 Vgl. Franziska Exeler, The Ambivalent State. Determining Guilt in the Post-World War II Soviet Union, in: Slavic Review 75 (2016), S. 606–629; dies., What Did You Do during the War? Personal Responses to the Aftermath of Nazi Occupation, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 17 (2016), S. 805–835.
6 Vgl. zum „Genozid-Gesetz“ vom 5. Januar 2022 das Interview von Alexander Friedman für die Internetplattform dekoder.org vom 18. Mai 2022, https://www.dekoder.org/de/article/bystro-genozid-gesetz-belarus-einordnung (16.12.2022).
7 Vgl. Anika Walke, Pioneers and Partisans. An Oral History of Nazi Genocide in Belorussia, Oxford 2015; Iryna Kashtalian, The Repressive Factors of the USSR’s Internal Policy and Everyday Life of the Belarusian Society (1944–1953), Wiesbaden 2016 (Historische Belarus-Studien 5).

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