Dieses Buch über ein in der aktuellen Politik äußerst umstrittenes Thema kommt zur rechten Zeit. Nicht zuletzt aufgrund unterschiedlicher Interpretationen der gemeinsamen Geschichte im 20. Jahrhundert kommen gut nachbarschaftliche Beziehungen zwischen der Russischen Föderation und den baltischen EU-Staaten immer noch nicht so recht in Gang. Die Brisanz der historischen Vergangenheit zeigte sich 2005 in der Frage, ob die Präsidenten der baltischen Staaten der Einladung ihres damaligen russischen Kollegen Wladimir Putin zur Feier des 60. Jahrestages des Sieges im „Großen Vaterländischen Krieg“ Folge leisten sollten oder nicht.1 Denn schließlich hatte dieser Sieg über das Dritte Reich den baltischen Staaten keineswegs die angestrebte Unabhängigkeit gebracht, die in Folge des Hitler-Stalin-Pakts 1939 und der anschließenden Inkorporation in die UdSSR 1940 verloren gegangen war. Während der Perestroika war die Überzeugung von der illegitimen „Okkupation“ durch die Sowjetunion das integrative Argument der Sezessionsbewegung von Moskau gewesen, bevor die drei Staaten 1991 ihre Unabhängigkeit zurückerlangten.
Noch 2007 jedoch konnte sich die Versetzung eines sowjetischen Kriegerdenkmals aus dem Zentrum der estnischen Hauptstadt Tallinn auf einen Militärfriedhof zu einer veritablen diplomatischen Krise entwickeln, nachdem aus Protest dagegen Vertreter der Jugendorganisation „Naschi“ tagelang die estnische Botschaft in Moskau blockierten und sogar vor tätlichen Angriffen auf Botschafterin Kaljurand nicht zurückschreckten.2 Während auf dem russischen Buchmarkt einige dezidiert anti-baltische und pro-sowjetische Darstellungen erschienen, in denen das Verdikt des aktuellen „baltischen Faschismus“ genüsslich ausgebreitet und die These der „Okkupation“ mehr oder weniger als Legende „entlarvt“ wurde, waren wissenschaftliche Abhandlungen Mangelware.3 Diese Lücke schließt Zubkovas (nicht nur vor diesem Hintergrund) hervorragende Studie.
Zubkova, die bislang in erster Linie mit einer bemerkenswerten Arbeit zur UdSSR in den Nachkriegsjahren hervorgetreten ist4, konzentriert sich in ihrer Arbeit mit gutem Recht auf die sowjetischen Aktenbestände, während sie die jüngere estnische, lettische und litauische Forschung mithilfe von deutsch- und englischsprachigen Arbeiten baltischer Autoren rezipiert. Die in dieser Literatur häufig anzutreffende vage Formulierung vom „Einfluss Moskaus“ will sie in ihrer Arbeit mit Inhalt füllen. Daher habe sie kein Buch über die Sowjetisierung der baltischen Staaten geschrieben, sondern über „die Geschichte der Entscheidungen zur Sowjetisierung des Baltikums“, über die Mechanismen der Politikfindung in der „baltischen Frage“ (S. 10). Zwar lässt sich der Entscheidungsprozess nicht immer zur Gänze aufklären, doch vermag sie schlüssig zu belegen, dass die Ebene unterhalb des Politbüros (Orgbüro und Sekretariat des ZK) hier von maßgeblichem Einfluss war. Zudem zeigt sich in ihrer Arbeit, dass auch die lokalen Instanzen in Tallinn, Riga und Vilnius in Abstimmung mit der Moskauer Parteibürokratie initiativ werden konnten. Aufgrund der potentiell explosiven Lage habe die Region jedoch stets einen „Sonderstatus“ (S. 15) innerhalb der Union innegehabt.
Das Buch gliedert sich in fünf Abschnitte. Der knappen Darstellung der Vorgeschichte des Verhältnisses des Russischen Reichs bzw. der Sowjetunion zur baltischen Region (S. 15-43) folgt ein ausführliches Kapitel 2 über das „lange Jahr“ 1940 von 1939 bis zum deutschen Überfall im Juni 1941 (S. 44-127). In drei weiteren Kapiteln werden die ersten Jahre der Sowjetisierung nach 1944 untersucht. Dabei wird das 4. Kapitel über den militärischen Widerstand der so genannten „Waldbrüder“ (S. 191-156) durch die Vorstellung von „Menschen, Strukturen, Mechanismen“ der sowjetischen Seite (Kapitel 3, S. 128-190) und von einem Portrait der politischen Elite der baltischen Sowjetrepubliken (Kapitel 5, S. 257-319) eingerahmt. Den Abschluss bildet ein Ausblick über die ersten Jahre nach dem Tod Stalins (S. 320-337).
Behauptungen, die baltischen Völker hätten sich mit Begeisterung in die „einige Familie der Brudervölker“ geworfen, sind Zubkova zufolge bloß ein „Kuriosum der sowjetischen Historiographie“ (S. 44). Selbst wenn sie die Popularität derartiger Thesen in Russland unterschätzen sollte, stellt sie hier die Weichen für eine extrem nüchterne, an den Quellen gearbeitete Auseinandersetzung mit dem Problem. Die Gretchenfrage der russisch-baltischen Beziehungen nach der Qualität der Ereignisse im Juni 1940 beantwortet sie nach einer skrupulösen Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Okkupation“ folgendermaßen: Bereits seit Mitte der 1930er-Jahre hätte es eine „Wiedergeburt imperialer Traditionen“ im Denken der sowjetischen Führung gegeben, so dass eine Wiederherstellung „historischer Gerechtigkeit“ im Verhältnis zu den baltischen Staaten, die sozusagen „Heim ins Reich“ geholt werden sollten, angestrebt worden sei (S. 94). Die Entscheidung über die Form des Eingreifens in die baltische Souveränität sei jedoch erst Ende Mai 1940 gefallen (S. 77), womit Zubkova Natalja Lebedewa folgt.5 Unabhängig davon nennt Zubkova das militärische Eindringen auf Grundlage von Ultimaten im Juni 1940 eine „rechtswidrige Aktion“ (S. 99). Während es offiziell um die Sicherheit der Region (und der Union) gegen einen deutschen Angriff ging, sah sich die Rote Armee bereits in einem veritablen Kriegszug auf feindlichem Gebiet. Allerdings könne man von einer „militärischen Okkupation“ nur bedingt sprechen, und wenn überhaupt, dann nur bis Anfang August 1940, als in Moskau der Akt der Aufnahme der drei neuen Republiken in die Union gefeiert wurde. Schließlich habe die UdSSR ihre Aktion nicht als zeitweilige Besetzung angesehen und der Region ihr System aufgezwungen: „1940 kam die ‚Sowjetmacht‘ ins Baltikum: so begann ein Umbruch, der seinen Resultaten nach bei weitem greifbarer und dramatischer war als jede beliebige ‚militärische Okkupation‘“ (S. 101). Dieses Plädoyer für eine Historisierung der Ereignisse, welche zweifellos eine Voraussetzung für den geschichtspolitischen Dialog der betroffenen Länder darstellt, ist nicht nur im innerrussischen Kontext gewagt, sondern dürfte zurzeit auch in der baltischen Öffentlichkeit nicht vermittelbar sein.6
Im weiteren Verlauf ihres Buches bietet Zubkova überzeugende Einsichten in die Mechanismen der Sowjetisierung. Sie ergänzt und stützt dabei ausdrücklich die jüngsten Arbeiten von David Feest und Olaf Mertelsmann, die diese Prozesse bereits auf der Grundlage vornehmlich estnischer Archive untersucht haben7, und macht klar, dass die Integration der baltischen Staaten in die Sowjetunion eher in den Kontext der Bildung der Volksdemokratien Osteuropas gehört und nicht in den der sowjetischen Praxis vor 1939. Denn auch im Baltikum habe das Jahr 1947 eine Forcierung des Integrationsprozesses gebracht. Dass letzterer immer wieder auch von gravierenden kulturellen und mentalen Unterschieden geprägt war, spart die Autorin nicht aus. So sei z.B. das Misstrauen der sowjetischen Führung bereits im Frühjahr 1940 erwacht, als die estnische Seite im Interesse der für die Errichtung von Militärbasen umzusiedelnden Fischer Kompensationen nicht nur für deren Besitz, sondern auch für deren prospektiven wirtschaftlichen Verlust verlangte (S. 65). Eindrucksvoll ist auch die Verblüffung der Emissäre Moskaus geschildert, die von der hohen Qualität der lettischen Produkte und einer so ganz anderen Kultur des Handels berichteten (S. 125, 175).
Angesichts der politischen Emotionen, die mit der gegebenen Thematik verbunden sind, fällt Zubkovas Ansatz überraschend persönlich aus: Wer in den 1960er-Jahren in der UdSSR geboren sei, für den habe das Wort „Baltikum“ einen besonderen Klang. Bei dieser Region habe es sich um eine der am wenigsten sowjetischen der Union gehandelt und ihre Lebensart sowie ihre Produkte hätten etwas Westliches ausgestrahlt. Trotzdem, oder vielmehr gerade deswegen, so Zubkovas These, habe das Baltikum, dieser „Sowjetische Westen“, nach Stalins Tod offiziell als „Schaufenster des sowjetischen Lebens“ dienen sollen, da es nicht gelungen war, aus ihm einen „vollwertigen Teil der Union“ zu machen (S. 337). Diese Idee muss freilich noch argumentativ ausgebaut und quellennah belegt werden; bestenfalls mag es sich um einen so wohl nie formulierten Konsens der sowjetischen Führung gehandelt haben, nach der gewaltsamen Sowjetisierung erst einmal die Pax sovietica Einzug halten zu lassen. Deutlich genug schreibt Zubkova, die drei baltischen Sowjetrepubliken seien nach der gewaltsamen Niederschlagung des Partisanenwiderstands eine „befriedete, aber keine loyale“ Region geworden. Auch die Mechanismen von Zuckerbrot und Peitsche, die das Zentrum im Verhältnis zur baltischen Peripherie seit Mitte der 1950er-Jahre angewandt hat, mündeten 30 Jahre später in Sezessionsbestrebungen. Das „sowjetische Projekt im Baltikum“ habe eben keine Zukunft gehabt, heißt es bei Zubkova abschließend (S. 337).
Die Autorin hat den Prozess der Sowjetisierung des Baltikums aus der „Täterperspektive“ beschrieben. Notgedrungen bleibt die Sicht der Objekte dieses Unterfangens hinter den Situationsbeschreibungen der sowjetischen Kader verborgen. Mit den Massendeportationen 1941 und 1949 bleibt sogar der entscheidende „Erinnerungsort“ der Sowjetisierung im historischen Gedächtnis der Esten, Letten und Litauer im Hintergrund der Arbeit. Für die Sowjetführung war diese Form der Gewaltanwendung eben bloß ein legitimes letztes Mittel zur Machtsicherung. Zubkovas Annäherung an die Herrschaftspraxis im Alltag der drei Republiken mithilfe der Biographien der „lokalen“ Kader (Kapitel 5) macht erneut deutlich, wie schematisch der Faktor Nationalität gehandhabt wurde: Während die in der UdSSR sozialisierten Esten, Letten und vereinzelt auch Litauer als „lokale“ Kader und damit als Erfolg versprechende Vermittler der Integration angesehen wurden, wurden gerade diese Personen für die Balten zum Symbol der Fremdherrschaft, zumal sie ihre Muttersprache nicht immer akzentfrei beherrschten. Spektakuläre „Säuberungen“ wie die des estnischen Parteiapparats 1949/50 wären wiederum ohne die Eigeninitiative dieser lokalen Kader anders verlaufen. Dass sich hier die sowjetische Tradition der Klankämpfe innerhalb der Parteiführungen als Machtinstrument etablierte, belegt den großen Einfluss der aus den alten Unionsrepubliken importierten Kader als Sprachrohr der Zentrale und den relativ hohen Grad, den diese Form der mentalen Sowjetisierung in ihrer Praxis erreicht hatte. Gerade der sowjetische Alltag im Baltikum aber harrt noch seiner Untersuchung. Hier sind in erster Linie baltische Historiker gefragt, die mit Zubkovas Studie aber eine hervorragende Orientierung über die Pläne des Zentrums in die Hand bekommen haben.8
Anmerkungen:
1 Onken, Eva-Clarita, The Baltic States and Moscow’s 9 May Commemoration: Analysing Memory Politics in Europe, in: Europe-Asia Studies 59 (2007), S. 23–46.
2 Brüggemann, Karsten; Kasekamp, Andres, The Politics of History and the “War of Memories” in Estonia, in: Nationalities Papers 36 (2008), S. 425–448.
3 Krysin, Michail, Pribaltijskij fašizm. Istorija i sovremennost’, Moskau 2007; Emel’janov, Jurij , Pribaltika. Počemu oni ne ljubjat Bronzovogo soldata?, Moskau 2007. Die Umschrift russischer Begriffe und Eigennamen im Text folgte der Duden-Transkription. Die Literaturangaben im Anhang erfolgen zur eindeutigen Identifizierbarkeit dagegen nach der wissenschaftlichen Transliteration.
4 Zubkova, Elena, Russia after the war: hopes, illusions, and disappointments, 1945–1957, Armonk, NY 1998.
5 Lebedeva, Natal’ja S., Vvodnaja stat’ja, in: Kasparavičjus, A.; Laurinavičjus, Č; Lebedeva, N. (Hrsg.), SSSR i Litva v gody Vtoroj mirovoj vojny. Band 1, SSSR i Litovskaja respublika (mart 1939-avgust 1940 gg.) Sbornik dokumentov, Vilnius 2006, S. 23-68, hier S. 37, 49.
6 In Litauen läuft zurzeit eine bizarre Diskussion um den Begriff der „Okkupation“. Dieser ist in der litauischen Verfassung festgeschrieben, so dass jede Form einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung, welche die Anwendbarkeit des Begriffs auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinterfragt, in Gefahr steht, als Staatsverrat gebranntmarkt zu werden. Diese Debatte, in der der Leiter des Instituts für Litauische Geschichte, Alvydas Nikžentaitis, der Angegriffene, und der einstige Freiheitskämpfer Vytautas Landsbergis der Angreifer ist, kann auf den Seiten des Portals www.delfi.lt nachverfolgt werden.
7 Feest, David, Zwangskollektivierung im Baltikum. Die Sowjetisierung des estnischen Dorfes 1944-1953, Köln (u.a.) 2007; Mertelsmann, Olaf, Der stalinistische Umbau in Estland. Von der Markt- zur Kommandowirtschaft, Hamburg 2006.
8 Einen ersten Schritt in die Richtung eines Dialogs bietet die ins Russische übersetzte Artikelsammlung des estnischen Historikers Tõnu Tannberg: Tannberg, Tynu, Politika Moskvy v respublikach Baltii v poslevoennye gody (1944-1956). Issledovanija i dokumenty, Tartu 2008.