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Titel
Belastete Familien?. Eine Alltagsgeschichte westdeutscher Haushalte mit behinderten Kindern (1945–1990)


Autor(en)
Rössel, Raphael
Reihe
Disability History (9)
Erschienen
Frankfurt am Main 2022: Campus Verlag
Anzahl Seiten
512 S.
Preis
€ 52,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marc von Miquel, sv:dok, Dokumentations- und Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger, Bochum

Die Disability Studies, deren Ursprünge in den USA und in Großbritannien liegen, haben sich mittlerweile auch in Deutschland zu einem anspruchsvollen und produktiven Forschungsfeld entwickelt. Vergleichbar mit den Gender Studies ist die Genese eng mit der betreffenden sozialen Bewegung und deren emanzipatorischen Theorieentwürfen verbunden – in diesem Fall der Behindertenbewegung. Und wie bei der „großen Schwester“ Gender Studies haben sich die Disability Studies in den vergangenen zwanzig Jahren in zahlreiche Teildisziplinen aufgefächert, darunter auch eine aufstrebende Disability History, die in historischer Perspektive die Kategorie „Behinderung“ als individuelle Erfahrung und soziale Konstruktion erschließt. Den Historiker:innen in diesem Feld geht es nicht zuletzt darum, die gesellschaftlich vorherrschenden „Randgruppen“- und „Opfer“-Erzählungen zu überwinden und stattdessen die Geschichte behinderter Menschen zwischen Handlungsmacht, gesellschaftlicher Teilhabe und Prozessen der Ausgrenzung neu zu konturieren.1

Angestoßen von der öffentlichen Diskussion über Gewalt in Einrichtungen der Behindertenhilfe liegen inzwischen zahlreiche Studien über „Heimwelten“ vor. Sie gewähren Einblicke in das Anstaltsregime für Menschen, denen man eine selbstbestimmte Lebensführung verwehrte.2 Zum gesellschaftlichen Nahraum der Familie verfügen wir hingegen über wenig gesicherte Kenntnisse. Umso verdienstvoller ist es, dass nun die Dissertation „Belastete Familien?“ von Raphael Rössel als Buch vorliegt. Der Autor hat sich mit dem Thema einer „Alltagsgeschichte westdeutscher Haushalte mit behinderten Kindern (1945–1990)“, so der Untertitel, viel vorgenommen. Ambitioniert ist nicht nur der Untersuchungszeitraum von 45 Jahren; ehrgeizig ist auch der Anspruch, die Probleme von Eltern und Alleinerziehenden mit behinderten Kindern möglichst lückenlos alltags- und sozialhistorisch zu erschließen. Untersucht werden Bedingungen und Umstände von Sorgearbeit, Pflege, Beschulung, von sozialstaatlichen Interventionen, institutionellen Unterstützungen und finanziellen Belastungen. Hinzu kommen Analysen, wie sich die Leitbilder des Umgangs mit behinderten Kindern wandelten, für die beispielsweise Egodokumente, pädagogische Ratgeber, Elternzeitschriften und Massenmedien herangezogen werden.

Für dieses umfangreiche Forschungsprogramm hat Rössel eine beeindruckende Rechercheleistung erbracht. Er hat 31 Archive aufgesucht, darunter auch solche, die nicht unbedingt auf der Hand liegen: ein Pfarrarchiv, das Deutsche Tagebucharchiv in Emmendingen, das Archiv der behindertenpolitischen Selbsthilfe in Dortmund, diverse weitere Bewegungsarchive und das Archiv der Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V. in Marburg, dessen Bestände erstmals von einem Fachwissenschaftler ausgewertet wurden.

In chronologischer Folge entwickelt die Studie ein Panorama des Heranwachsens behinderter Kinder in der Bundesrepublik. Für das erste Nachkriegsjahrzehnt identifiziert Rössel schichtenspezifische Konflikte zwischen prekären Familienverhältnissen und dem Anspruch einer familiären „Normalität“, die kirchlichen Moralvorstellungen genügte. Eltern oder Alleinerziehende mit behinderten Kindern wählten dabei ganz unterschiedliche Wege der „Normalisierung“. Während im Mittelstand die Bemühungen um sozialstaatliche Unterstützungsleistungen Vorrang hatten, traten etwa in der Landwirtschaft tätige Eltern nicht selten für eine Heimunterbringung ein, da die Pflegearbeit die Existenz des Betriebs bedrohte. In den 1960er-Jahren markierte der „Contergan“-Skandal eine Zäsur in der gesellschaftlichen Wahrnehmung behinderter Menschen. Nicht mehr Kriegsversehrte, sondern körperbehinderte Kinder standen im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit. Erstmals nach dem NS-Behindertenmord wurden Fragen nach dem Lebenswert behinderter Kinder öffentlich debattiert, fanden Plädoyers für therapeutische Förderung und schulische Bildung am Wohnort mediale Beachtung. Rössel zeichnet nach, wie überregionale Elternvereinigungen, lokale Elterngruppen und einzelne Angehörige mit neuem Selbstbewusstsein an staatliche Stellen herantraten. Viele konnten eine Heimunterbringung vermeiden und das Aufwachsen im Elternhaus ermöglichen, unterstützt von heilmedizinischer Förderung und Transporten zur Schule.3 Über contergangeschädigte Kinder hinaus geriet in den 1960er-Jahren die Heimbeschulung in die Kritik. Mit Unterstützung von Eltern, die sich der drohenden Heimeinweisung ihrer Kinder entgegenstellten, entstand das System der Sonderschulen für Kinder mit kognitiven, körperlichen und Sinnesbeeinträchtigungen.

Eine „Erosion des Besonderungsalltags“ konstatiert Rössel ab den späten 1970er-Jahren. Als neuer Akteur formierte sich die westdeutsche Behindertenbewegung, meist junge Erwachsene, die sich an den Freiheits- und Wohlstandsgewinnen ihrer Altersgenossen orientierten und Selbstbestimmung einforderten. Zum Aktivismus der „Krüppelgruppen“ gegen Paternalismus und Fremdbestimmung liegen inzwischen einige Forschungsarbeiten vor.4 Rössel erweitert diese Perspektive um das Zusammenwirken von behinderten Aktivist:innen und Elterninitiativen. Geeint in der Kritik an den Sonderwelten für behinderte Kinder, fanden sie auf lokaler Ebene zusammen, widersetzten sich den Ämtern und konnten die öffentliche Meinung zuweilen erfolgreich für ihre Sache mobilisieren. Dennoch blieb der Wandel von segregierenden zu integrativen Leitbildern ab den 1970er-Jahren widersprüchlich, wie das Beispiel der Adoption und Pflege behinderter Heimkinder zeigt. Im Kontext der Heimkritik übernahmen zunehmend mehr Paare die Dauersorge für Pflegekinder, auch wenn diese kognitiv beeinträchtigt waren. Die Folge waren oft zermürbende Konflikte mit Jugendämtern um die Bewilligung von Kinder- und Erziehungsgeldern, um Anrechnungs- und Prüfverfahren. Aus Sicht der Behörden blieben Heime die bessere und außerdem kostengünstigere Alternative. Erst in den 1980er-Jahren löste sich diese Frontstellung auf, auch weil staatliche Mittel für Pflegefamilien erhöht wurden.

In solchen Fallstudien liegen die Stärken der Dissertation. Mit weiteren quellenbasierten Erhebungen zu Sonderkuren für Mütter behinderter Kinder, zu lokalen Konflikten um Regelbeschulung und zur Debatte über Zwangssterilisationen kann Rössel überzeugend darlegen, dass die Mikroebene der Alltags- und Lokalgeschichte ein wichtiges Korrektiv zu klassischen sozialgeschichtlichen Ansätzen bildet und unser Wissen über die Geschichte behinderter Menschen erheblich erweitern kann. Um dies zu untermauern, greift Rössel den Forschungsstand im Fortgang der Argumentation ausführlich auf, liest die Literatur zur Familiengeschichte, Disability History und Care History gegen den Strich und bezieht sie in seine ambitionierte Thesenbildung ein. Der Anspruch, die Geschichte westdeutscher Familien mit behinderten Kindern möglichst umfassend zu beleuchten, ist damit im Grundsatz eingelöst worden. Gleichwohl fehlt es der Studie an darstellerischer Geschlossenheit. In geradezu enzyklopädischer Manier werden in knappen Unterkapiteln alle möglichen Einzelthemen abgehandelt, oft ohne Einführung, thematische Entfaltung und inhaltliche Verknüpfung. Wenig plausibel ist beispielsweise ein Kapitel über „Wandel der Bildpolitiken über behinderte Kinder und ihre Familien“, das an Ausführungen über „Sonderkuren“ anschließt und entgegen der Überschrift nicht Bilder analysiert, sondern die Medienberichterstattung. Hinzu kommt ein Hang zum akademisch gespreizten Jargon, der die Leser:innen bereits mit Zwischenüberschriften irritiert wie „Erste Verfestigungen der Zeitstrukturen des Familienalltags“, „Die nachholende Kernfamiliarisierung der Alltagsrhythmen“, „Der Fall durchs kriegsfolgenzentrierte Sozialstaatsraster“ und im Text zuweilen bis an die Grenzen der Verständlichkeit führt. Wer sich von solchen Kritikpunkten nicht abschrecken lässt, findet in Raphael Rössels Buch wichtige Anregungen und neue Erkenntnisse zu einem Forschungsfeld, dem weitere Studien zu wünschen sind.

Anmerkungen:
1 Einen instruktiven Überblick zum Forschungsfeld bietet: Anne Waldschmidt (Hrsg., unter Mitarbeit von Sarah Karim), Handbuch Disability Studies, Wiesbaden 2022, darin zur Geschichtswissenschaft: Elsbeth Bösl / Bianca Frohne, Disability History, S. 127–142; vgl. auch Elsbeth Bösl / Sebastian Barsch, Disability History. Behinderung sichtbar machen: Emanzipationsbewegung und Forschungsfeld, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 19 (2022), S. 219–234, https://zeithistorische-forschungen.de/2-2022/6039 (23.01.2023).
2 Zum Deutungskonzept der „totalen Institution“ vgl. die Publikationen von Hans-Walter Schmuhl und Ulrike Winkler, z.B.: Aufbrüche und Umbrüche. Lebensbedingungen und Lebenslagen behinderter Menschen in den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel von den 1960er bis zu den 1980er Jahren, Bielefeld 2018, S. 34–44.
3 Zur Kritik an der Heimunterbringung und an stationären Großeinrichtungen vgl. Wilfried Rudloff / Franz-Werner Kersting / Marc von Miquel / Malte Thießen (Hrsg.), Ende der Anstalten? Großeinrichtungen, Debatten und Deinstitutionalisierung seit den 1970er Jahren, Paderborn 2022.
4 Jonas Fischer, Umstrittene Interessenvertretung von Menschen mit Behinderungen. Zur Geschichte von Kriegsopferverbänden, Elterninitiativen, Clubs, VHS-Kursen und Krüppelgruppen, in: Theresia Degener / Marc von Miquel (Hrsg.), Aufbrüche und Barrieren. Behindertenpolitik und Behindertenrecht in Deutschland und Europa seit den 1970er-Jahren, Bielefeld 2019, S. 213–242; Swantje Köbsell, Wegweiser Behindertenbewegung. Neues (Selbst-)Verständnis von Behinderung, Neu-Ulm 2012; Jan Stoll, Behinderte Anerkennung? Interessenorganisationen von Menschen mit Behinderungen in Westdeutschland seit 1945, Frankfurt am Main 2017.