N. Lelle: Arbeit, Dienst und Führung

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Titel
Arbeit, Dienst und Führung. Der Nationalsozialismus und sein Erbe


Autor(en)
Lelle, Nikolas
Erschienen
Anzahl Seiten
420 S.
Preis
€ 30,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Adelheid von Saldern, Historisches Seminar, Leibniz Universität Hannover

Sicherlich werden sich einige Leser:innen zunächst wundern, dass über Arbeit im Nationalsozialismus noch viel wissenswert Neues geschrieben werden kann. Doch Nikolas Lelle vermag in seiner an der Humboldt-Universität zu Berlin angenommenen sozialphilosophischen Dissertation zum einen die zentrale Bedeutung der Arbeit für das nationalsozialistische Gedankengebäude herauszuarbeiten, zum anderen die damit verbundenen Entwicklungen in einen längeren Zeithorizont einzuordnen.

Nach einem kursorischen Rückblick auf das 19. Jahrhundert untersucht Lelle, welche Vorstellungen die Nationalsozialisten der ersten Stunde, etwa Anton Drexler, Dietrich Eckart und Gottfried Feder, über das Themenfeld „Arbeit“ entwickelt haben, um dann der Frage nachzugehen, worin Hitlers konzeptionelle „Leistung“ bestanden hat. Vor allem in diversen Reden 1933 habe er, so der Autor, die bereits in NSDAP-Kreisen eingefahrenen Denkmuster über Arbeit aufgegriffen, weiterentwickelt, für Klarstellung gesorgt, die Gedanken konkretisiert und dabei radikalisiert, wobei er auf aussagekräftige Eindeutigkeiten Wert gelegt habe. Gerne griff er auf eine dichotomisch angelegte Bildsprache zurück, etwa wenn er einerseits von pflichtbewussten, fleißigen deutschen Arbeitern und andererseits von Drückebergern bzw. „Arbeitsscheuen“ sprach und dabei auch auf „die Juden“ verwies.

Zudem erfuhr nun auch der „arbeitende [deutsche] Mensch“ eine Aufwertung, insofern er als ein „schaffender Mensch“ konstruiert und dann medial eindrucksvoll in Szene gesetzt wurde. Hitler und andere Nationalsozialisten verwendeten mit Blick auf die Arbeit die in der Bevölkerung positiv besetzten Begriffe wie Leistung und Qualität; aber auch Attribute wie Sittlichkeit, Kameradschaft, Treue und Ehre fehlten nicht. Um den Arbeitsbegriff rankte sich überdies eine vielseitige Symbolpolitik, angefangen vom neuen Feiertag als „Tag der Arbeit“ bis hin zur visuellen und verbalen Ästhetisierung der Arbeit. Sogar ein Amt der Deutschen Arbeitsfront erhielt die Bezeichnung „Schönheit der Arbeit“. Der vielseitigen Aufwertung der deutschen Arbeit und des deutschen Arbeiters stand dichotomisch je länger, je mehr eine Politik gegenüber, die vor allem während der Angriffskriege eine breitangelegte Strategie der „Vernichtung durch Arbeit“ in Form von inhumaner und häufig todbringender Zwangsarbeit umsetzen konnte.

In Hitlers Augen war Arbeit auch für die Herausbildung und den Erhalt der Volksgemeinschaft konstitutiv (S. 53). Zwar sei, so Lelle, schon früher Arbeit in Beziehung zu Gemeinschaft gesetzt worden („Gemeinnutz“ vs. „Eigennutz“), aber erst Hitler habe den Bezug zu einer gesamtgesellschaftlich und völkisch gedachten Gemeinschaft hergestellt (S. 56). Hier wäre jedoch eine etwas ausführlichere Darstellung der völkischen Bewegungen und der diversen volksgemeinschaftlichen Denkrichtungen, die sich bereits während der Weimarer Republik (und teilweise schon zuvor) herausgebildet hatten, wünschenswert gewesen, um auf dieser Grundlage die Hitlersche „Syntheseleistung“ besser nachvollziehen zu können.

An die Macht gekommen, verwendeten Nationalsozialisten im Kontext des Arbeitsbegriffs weiterhin auffallend häufig das Wort „deutsch“ resp. „national“, etwa wenn von deutscher Arbeit, deutscher Qualität, deutschem Stolz und deutscher Leistung die Rede war. Nach Lelles Interpretation geht das Deutsche im Begriff der Volksgemeinschaft auf. Doch das ist zu pauschalisierend ausgedrückt, weil der Prozesscharakter zu wenig berücksichtigt wird. „Dienst am Vaterland“ (so Sebastian Conrad) oder „Dienst an der Volksgemeinschaft“ (so Lelle, S. 83) sollten meines Erachtens nicht als Alternative gesehen werden, sondern als zwei von Hitler und anderen NS-Größen strategisch genutzte, parallellaufende Bahngleise für Züge mit jeweils unterschiedlichen Geschwindigkeiten, deren Ziel jedoch dasselbe war. Der langsamer fahrende Zug versuchte all jene Menschen mitzunehmen, die das Geschehen-lassen auch von massiven Unrechtshandlungen durch äußeres und inneres Wegsehen erst „erlernen“ mussten, etwa Gerhart Hauptmann.1

Die Betriebe, vor allem die NS-Musterbetriebe, galten als beispielgebende, leistungsstarke Volksgemeinschaften im Kleinen. Die Führer-Gefolgschaftsbeziehung in Betrieben wurde verbal und visuell so aufbereitet, dass sie etwas grundsätzlich Neues versprach. So war der direkt autoritär agierende Vorgesetzte als Betriebsführer nicht mehr gefragt, erst recht hatte die in der Weimarer Republik virulente Idee einer kollektiven Selbstbestimmung der Arbeiter die Vorbildfunktion verloren (S. 179). Stattdessen sollten sich sowohl der Betriebsführer als auch die Arbeiter dem Volksganzen und dem Dienst am Volk verpflichtet fühlen und diesem dienen. Nicht von Gleichheit war die Rede, sondern von „Gegliedertheit“ als dem zentralen NS-Gestaltungsprinzip sowohl für die Betriebs- als auch für die „Volksgemeinschaft“ insgesamt (S. 204). Allein in einem solchen Rahmen konnte mehr Eigenverantwortung für den einzelnen Arbeiter gutgeheißen werden.

Im zweiten Teil nimmt Lelle den (Sozial-)Fordismus in Augenschein. Das NS-Regime nutzte fordistisches Denken, um den Leistungsbegriff zu optimieren, den Arbeiter zum Mitarbeiter zu machen, ihn in das Führer-Gefolgschaftskonzept zu integrieren und einen solchen „NS-Fordismus“ schließlich als Dienst an der deutschen Volksgemeinschaft auszugeben. Eine neue Form der Menschenführung wurde erprobt, die eine „kämpferische Eigenverantwortung“ des Arbeiters vorsah (S. 196), wie Lelle am Beispiel der Klöckner-Humboldt-Deutz-Werke näher ausführt. Wer sich an die einst so erbittert geführten Debatten über „NS-System und Moderne“ erinnert, erstaunt, mit welcher Selbstverständlichkeit junge Wissenschaftler in solchen Kontexten von einer nationalsozialistischen Moderne sprechen (S. 188) und diesbezüglich durchaus die NS-Besonderheiten herausarbeiten. So interpretiert Lelle das fordistisch geprägte NS-Ordnungsregime als radikale Ausrichtung einer an sich phasenübergreifenden Gesellschaftsentwicklung, ohne dass er an der spezifisch inhumanen und rassistischen NS-Politik irgendwelche Abstriche macht (S. 204, S. 255). Mit „phasenübergreifend“ meint der Autor in diesem Zusammenhang den fordistisch geprägten Leistungsdruck, der zwar ansatzweise bereits während der NS-Zeit nach innen verlagert worden sei (S. 177f.), aber erst in der Phase des Postfordismus und Neoliberalismus der 1980er-Jahre vollends den Status einer Eigenverantwortung des Einzelnen erreicht habe.

Für die bundesrepublikanische Zeit spricht Lelle im letzten Teil seiner Studie von einem transformierten Fortleben (S. 207), von einem Fortleben des NS-Erbes in entnazifizierter Form (S. 213), insofern als Zentralbegriffe, wie deutsche Arbeit und deutscher Fleiß, weiter existierten. Doch dürfe der entscheidende Bruch nicht übersehen werden, der im Verschwinden nationaler Identitätssuche gelegen habe (S. 211). In seiner Analyse über die Bundesrepublik schenkt Lelle der ungewöhnlich erfolgreichen Bad Harzburger Akademie für Führungskräfte, geleitet von Reinhard Höhn, einem in der NS-Zeit angesehenen Juristen, besondere Aufmerksamkeit (S. 220). Während damals in den USA bereits Teamarbeit als Teil des modernen Managements langsam Fuß fassen konnte, wurde in Bad Harzburg gelehrt, dass Führung sich auf das Delegieren von Verantwortung im Rahmen abgegrenzter Aufgabenbereiche konzentrieren sollte (S. 231). Das „führende Selbst“ habe sich weiterhin in einer hierarchischen Ordnung befunden (S. 250). Der neokonservative Höhn, ehemaliges Mitglied des SS, entkoppelte zwar in seiner Lehre die Mitarbeiter vom Gefolgschaftsdenken und verwendete auch nicht mehr die damalige Terminologie. Doch Spuren aus der NS-Zeit entdeckte Lelle zuhauf, etwa das Ideal einer Betriebsharmonie und eines Treueverhältnisses innerhalb eines insgesamt „antiliberalen Framing“.

Lelle richtet in seiner Studie schließlich den Blick auch auf Frauen, und zwar unter dem Aspekt der „Grenzen der Aktivierung im Nationalsozialismus“ (S. 198). Denn der deutsche Arbeiter war und blieb damals stets männlich gedacht. Die große Bedeutung, die die Nationalsozialisten der Reproduktion im engeren und weiteren Sinn zumaßen, sprach an sich auch für eine entsprechende Erweiterung des Arbeitsbegriffs. Dass dem nicht so war, lag an der Festlegung der Geschlechterrollen und – so sollte ergänzt werden – an der rassistisch-fordistisch begründeten Eingriffe in das Reproduktionsgeschehen (etwa durch Sterilisationen), wodurch eine Erweiterung sowohl konzeptionell als auch in der Praxis grundlegend konterkariert wurde. Die Ausweitung des Arbeitsbegriffs auf die Reproduktionssphäre spielt allerdings in Lelles eigenen, teils utopischen Überlegungen zur Arbeit resp. Nicht-Arbeit eine wichtige Rolle. Und so endet seine Studie über die NS-Dystopie mit einer an Max Horkheimer orientierten Zukunftsutopie.

Nikolas Lelle verfasste eine weitgreifende und tiefschürfende Analyse, die jedoch – wie so oft in der Forschung – nicht alle Lücken schließt und weitere Fragen aufwirft. Diese beziehen sich vor allem auf die Doppelstruktur des NS-Regimes: Zum einen haben wir es mit einem singulären, radikal-rassistischen NS-Ordnungsregime zu tun, zum anderen mit einer phasenübergreifenden Gesellschaftsentwicklung, die um den Sozialfordismus zentriert ist. Jedenfalls bereichert Lelles kenntnisreiche Auseinandersetzung mit Zentralbegriffen nationalsozialistischer Denkmatrix unser Wissen über die Funktionsweise des NS-Regimes. Sie macht überdies deutlich, wie viel analytische Qualität verloren geht, wenn in der Literatur – wie so häufig – die Begriffe „Propaganda“ und „Ideologie“ inflationär und pauschalisierend verwendet werden, anstatt einzelne Ideologeme zu benennen und zu dekonstruieren.

Anmerkung:
1 So schreibt Gerhart Hauptmann 1938 in sein Tagebuch: „Ich muss endlich diese sentimentale ‚Judenfrage‘ für mich ganz und gar abtun: es stehen wichtigere, höhere Deutsche Dinge a[uf] d[em] Spiel.“ Zit. nach: Peter Sprengel, „Tragik der Menschheit überhaupt“? Gerhart Hauptmann im „Dritten Reich“, in: Wolfgang Benz / Peter Eckel / Andreas Nachama (Hrsg.), Kunst im NS-Staat. Ideologie, Ästhetik, Protagonisten, Berlin 2015, S. 135. Siehe auch Rolf Sachsse, Die Erziehung zum Wegsehen. Fotografie im NS-Staat, Dresden 2003. Näheres siehe auch in meiner Studie: Kunstnationalismus. Die USA und Deutschland in transkultureller Perspektive, Göttingen 2021, insb. S. 220f.

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