„1968“ gehört zu den zentralen Krisenjahren des europäischen Kommunismus und des sowjetischen Imperiums. Die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ versinnbildlichte, dass eine Reformierung kommunistischer Regime im Moskauer Machtbereich nicht möglich sei. Panzer walzten einmal mehr, wie etwa bereits 1956 in Ungarn oder 1953 in der DDR, die Hoffnung auf Freiheit brutal und rücksichtslos nieder. „1968“ stand aber zugleich für Zeitzeugen auch dafür, dass ein „demokratischer Sozialismus“ machbar sei. Denn die Prager Reformkommunisten glaubten ja nicht nur an diesen, sie hatten auch erste praktische Schritte unternommen. Niemand kann sagen, wie ihr Gesellschaftsexperiment ausgegangen wäre. Viele Alternativen sind denkbar, alle aber spekulativ.
Die beiden vorliegenden voluminösen Bände markieren den aktuellen Forschungsstand. Der erste Band enthält 70 Beiträge von Wissenschaftlern und Zeitzeugen. Das internationale Mammutprojekt spiegelt sich nicht nur im Herausgeberkreis, sondern auch bei den Autoren. Die Autoren kommen nicht nur aus vielen Staaten Europas und aus Nordamerika, sondern selbst aus Aserbaidschan. Die über 230 abgedruckten Dokumente stammen aus russischen Archiven ebenso wie aus tschechischen, deutschen, polnischen, englischen, amerikanischen, österreichischen, aber auch aus bulgarischen, kroatischen, ungarischen, ukrainischen oder rumänischen, insgesamt aus 37 Archiven und Sammlungen. Jedes aufgenommene Dokument ist in Russisch und in Deutsch oder Englisch abgedruckt. Hier finden sich viele interessante Einzelstücke, die in ihrer Summe ein eindrucksvolles Bild der Vorgeschichte, Geschichte und den Folgen des „Prager Frühlings“ und seiner Niederschlagung malen. Zu kritisieren an der Auswahl ist jedoch, dass die Dokumente fast ausschließlich die Wahrnehmungen, die Diskussionen und die Entscheidungsfindungsprozesse in den kommunistischen Macht- und Herrschaftsapparaten spiegeln, lediglich durch Dokumente angereichert, die Beobachtungen und Reaktionen westlicher Regierungen enthalten. Das Bedeutsame am „Prager Frühling“ – sowohl vor, während wie nach 1968 – aber war eigentlich, dass auch die Gesellschaften im Ostblock in Bewegung geraten waren: in Polen brodelte es ebenso wie in Jugoslawien, in der UdSSR, in Ungarn oder der DDR kam es zu Protesten gegen den Einmarsch und vor allem natürlich ist das „östliche 68“ ohne die tschechoslowakische Gesellschaft nicht einmal ansatzweise zu erklären. Lediglich das berühmte „Manifest der 2000 Worte“ (Band 2, Dok. 28) stellt ein Dokument dar, das nicht in den Herrschaftsapparaten und Führungszirkeln entstanden ist. Angesichts des Umfangs der Bände kann diese bedauerliche Leerstelle nicht mit fehlendem Platz begründet werden, zumal eine Reihe von Dokumenten eher verzichtbar erscheinen und eine gewisse Redundanz erzeugen. Im Prinzip spiegelt der Dokumentenband eine eigentlich überwunden geglaubte Geschichtssicht, die noch immer mit den „großen Männern“, die Geschichte machen, trefflich beschrieben werden kann.
Beide Bände sind durch Orts- und Personenregister zu erschließen. Das vereinfacht die Arbeit mit ihnen. Auch wenn es beckmesserisch klingt, aber ein Sachregister hätte angesichts des Umfangs der beiden Bände die Arbeit mit ihnen erheblich vereinfacht. An knappen Ressourcen oder fehlenden Druckkapazitäten kann dies nicht gescheitert sein. Ebenso ist zu bemängeln, dass eine Übersicht über die aufgenommenen Dokumente fehlt, so dass die Arbeit mit dem Dokumentenband doch einige Mühen erfordert. Auch die Übersetzungen erscheinen nicht immer glücklich und sicher. SED-Politbürokandidat Axen gerät so in einer Übersetzung aus dem Russischen zu einem „Mitgliedskandidat“ (Band 2, S. 283), was freilich bei der anstrengenden Lektüre ein willkommenes Schmunzeln erzeugt.
Auch der Band mit den wissenschaftlichen und Zeitzeugenbeiträgen spiegelt die Fixierung auf die Machtzentren. Die Aufsätze sind in zwölf Kapitel gegliedert. Der „Prager Frühling“ selbst wird ausführlich von tschechischen Historikern analysiert, Reaktionen des Kremls werden ebenso wie der anderen Atommächte untersucht, aber auch die der Regierungen der anderen Ostblockländer oder europäischer Staaten nicht vergessen. Gerade die Aufsätze, die eher vermeintlich randständige Themen wie den Vatikan, Dänemark oder Finnland behandeln, sind besonders interessant. Das gilt auch für die Kapitel, die sich mit der militärischen Intervention sowie den Reaktionen östlicher wie westlicher Geheimdienste beschäftigen. Besonders hervorzuheben sind die Kapitel „Die sowjetische Gesellschaft“ bzw. das „Echo in den Sowjetrepubliken“. Denn hier erfährt die Leserschaft viel über gesellschaftliche Reaktionen, wenn sie Aufsätze etwa über das Baltikum, die Ukraine oder den Kaukasus gelesen hat. Auch die wichtige Episode der sowjetisch-tschechoslowakischen Sportgeschichte wird abgehandelt. Nicht nur dieser Beitrag ruft Assoziationen zwischen 1956 und 1968 wach. Die letzten Kapitel behandeln das „Nachbarland Österreich“ und es kommen schließlich Zeitzeugen aus mehreren Ländern zu Wort. Den Band schließt ein kleiner, aber sehr gelungener Essay über den „Streit um das Erbe des ‚Prager Frühlings’“ von Jan Pauer ab, einem der besten Kenner des „Prager Frühlings“. Das Buch enthält zudem vier Bildteile mit fast durchweg beeindruckenden Fotos, die die Atmosphäre vor allem beim Einmarsch und den gesellschaftlichen Reaktionen darauf eindrücklich erahnen lassen – weitaus besser jedenfalls als in den meisten Wortbeiträgen.
Ein solches Mammutwerk verdient Respekt und Anerkennung. Es ordnet sich in die mittlerweile mannigfaltige Literatur zum „Prager Frühling“ ein und gehört fortan zu den unverzichtbaren Werken, wenn man sich mit ihm beschäftigt. Vor allem die Analyse und Dokumentation des Regierungshandelns in den Ostblockstaaten markiert den aktuellen Forschungsstand, wenn auch – wie es einige Agentur- und Zeitungsmeldungen bei Erscheinen suggerierten – Neuigkeiten, Überraschungen oder gar „Sensationen“ nicht vorkommen. Die Stärke der Bücher liegt in historischen Details und in den breitgefächerten Länderstudien, die über den „Prager Frühling“ hinaus das globale Jahr 1968, wie es etwas Norbert Frei jüngst analysierte, weiter konturieren. Die dominierende Fokussierung beider Bände aber auf das Regierungshandeln verhindert, dass die im doppelten Wortsinne schwergewichtigen Bände zu Handbüchern avancieren könnten, denn die Gesellschaften und ihre facettenreichen Reaktionen kommen so deutlich zu kurz, dass ich davon sprechen möchte, dass hier leider nur die eine Seite der Medaille hinreichend beleuchtet wurde. Das ist auch deshalb schade, weil ein ähnliches internationales, finanzintensives Gemeinschaftsunternehmen wohl frühestens im Vorfeld des 100. Jahrestages des „Prager Frühlings“ neuerlich Aussichten haben dürfte, gefördert zu werden.