Titel
"Vor allem bin ich ich...". Judentum, Akkulturation und Antisemitismus in Arthur Schnitzlers Leben und Werk


Autor(en)
Beier, Nikolaj
Erschienen
Göttingen 2008: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
620 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Caspar Battegay, Hebräische und Jüdische Literatur, Hochschule für Jüdische Studien

In einer sehr berühmt gewordenen Stelle aus dem 74. Brief aus Paris hielt Ludwig Börne 1832 fest: „Die einen werfen mir vor, daß ich ein Jude sei; die Anderen verzeihen es mir; der Dritte lobt mich gar darfür; aber alle denken daran. Sie sind wie gebannt in diesem magischen Judenkreise, es kann keiner hinaus.“1 Der junge Baron Georg von Wergenthin-Recco scheint allerdings achtzig Jahre später in Wien nicht mehr „wie gebannt“ im „Judenkreise“ zu sein, eher „enerviert“ 2 darüber, dass seine jüdischen Bekannten dauernd ihre „Zugehörigkeit zum Judentum“ bekunden. So tut sich dem Leser von Arthur Schnitzlers Roman „Der Weg ins Freie“ (1908) eine Situation auf, die sich zu der Börnes spiegelverkehrt verhält: „[...] aber warum fingen sie denn immer selbst davon zu reden an? Wo er auch hinkam, er begegnete nur Juden, die sich schämten, dass sie Juden waren, oder solchen, die darauf stolz waren und Angst hatten, man könnte glauben, sie schämten sich.“3 Der große Gesellschaftsroman war ironischerweise Schnitzlers eigene, erste ausdrückliche confessio judaica – über die sich seine katholische Romanfigur bestimmt geärgert hätte. Anspielungen, Notizen und Figuren, die auf eine andauernde Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Identität hindeuten, finden sich aber überall in Schnitzlers umfangreichem literarischem Werk, sowie seinen tausenden von Tagebuchseiten und Briefen.

Mit geradezu enzyklopädischem Gestus unternimmt es die Dissertation von Nikolaj Beier, den „Judenkreise“ bei Schnitzler auf über 600 Druckseiten auszumessen. Dabei werden – ein Verdienst der Arbeit – auch unveröffentlichte Quellen aus verschiedenen Archiven mit einbezogen. „Das Interessante an dieser Dissertation“, so sagt es ihr Autor selbst, sei „die angestrebte interdisziplinäre Herangehensweise [...].“ (S. 11) Mittels zeitgeschichtlichen Darstellungen, literaturwissenschaftlichen Analysen und theaterhistorischen Ansätzen will Baier einen systematischen Überblick über Schnitzler und seine jüdische Identität liefern, wobei programmatisch am Dualismus von poetischen und biographischen Texten festgehalten wird: Die „biographischen Niederschriften und die schriftstellerischen Werke“ sollen „synkretistisch analysiert und damit die Übereinstimmungen und Unterschiede in den Anschauungen und Überzeugungen des Menschen und Künstlers Arthur Schnitzler“ aufgezeigt werden (ebd.). Beier schildert detailliert die politischen Verhältnisse in Österreich vor und nach 1918 und zeichnet ein Panorama der politischen Parteienlandschaft, wobei er die verschiedenen Schattierungen und Spielarten der österreichischen Judenfeindschaft vom traditionell christlichen Vorurteil bis zum rassistischen Antisemitismus sehr genau aufzeigt. In dieser Landschaft werden in zwei ausführlichen Kapiteln der Roman „Der Weg ins Freie“ (1908) und das Schauspiel „Professor Bernhardi“ (1912) verortet, die beiden für Schnitzlers Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Identität zentralen Werke. Thematisiert werden jeweils die Entstehungsgeschichte und die autobiographische Dimension, wobei das Figurenpersonal der Werke eingehend auf die „Entsprechung in der Wirklichkeit“ hin analysiert wird. Auch geht Baier in anregend zu lesenden Teilen der zum Teil skandalgesättigten Rezeptions- und Aufführungsgeschichte nach, was modellhaft die Wechselwirkungen von Literatur- und Sozialgeschichte vorführt.

Spannend ist die Auseinandersetzung mit dem Zensurverbot, das in Österreich gegen das Theaterstück für sechs Jahre bis 1918 Geltung hatte. Frappierend erscheint die Beobachtung, dass die zahlreichen negativen Reaktionen, Demonstrationen oder kleineren Affären, die auf die Publikation, auf Lesungen oder Inszenierungen des „Professor Bernhardi“ folgten, den in der Komödie erzählten skandalösen Begebenheiten um einen zu Unrecht verurteilten jüdischen Arzt, der einer katholischen Patientin die letzte Ölung verweigert, ganz ähnlich waren (S. 445f.). Das Stück stieß in ein Wespennest und die meisten Zeitgenossen – auch freundlich gesinnte Theaterkritiker und Schriftsteller – beurteilten es weniger nach ästhetischen, denn nach politischen und moralischen Maßstäben. So schrieb Stefan Zweig in einem Brief an Schnitzler: „Und noch immer habe ich keine Ruhe, um den Bernhardi als Kunstwerk oder gar auf den Theatererfolg hin betrachten zu können, ich bin zu passioniert davon, zu sehr mit Sympathie und Zorn gegen und für seine so herrlich lebendigen, so atemnahen Menschen. Nostra ipsissima res agitur – ich spür es zu sehr und kann gar nicht recht heraus, mir’s zu betrachten, so sehr bin ich darin.“ (S. 484) Wenn heute wieder vermehrt nach der politischen Dimension oder dem ‚Engagement‘ der Literatur gefragt wird, dann lohnt sich ein Blick auf die hier präsentierten Werke Schnitzlers.

Gemäß seinem Programm kontrastiert Beier die Darstellung der Werke mit Schnitzlers Äußerungen in Tagebüchern oder Briefen, wobei zum einen ersichtlich wird, wie sehr Schnitzler an einem von ihm selbst schon kritisch gesehenen Liberalismus festhielt, auch nachdem sich der Antisemitismus in den 1920er-Jahren zusehends radikalisierte. Damit erscheint Schnitzler als Figur, die die Widersprüche einer Epoche, Glanz und Elend des Wiener Fin de Siècle, in sich verkörpert. Als solche wurde er z.B. von Peter Gay auch schon gedeutet – in einem Buch, das leider im Literaturverzeichnis der anzuzeigenden Studie nicht erscheint.4 Andererseits wird anhand von Schnitzlers Eintragungen auch deutlich, dass sich die kategorielle Trennung von Tagebuch und literarischem Werk nicht aufrechterhalten lässt oder zumindest thematisiert werden müsste, was Beier jedoch unterlässt.

Überhaupt fällt ein grundlegender Mangel an methodischen Überlegungen auf. Der Verdacht kann am Schluss des Buches, wo ein Fazit oder eine Zusammenfassung der Ergebnisse schlicht fehlt, nicht zerstreut werden, dass die beeindruckende Menge an zitierten oder behandelten Texten und verarbeiteten Informationen eine tragende These ersetzt. So stellt sich die Frage, ob eine genaue Auflistung der Hochzeiten, bei welchen Schnitzler als Trauzeuge fungierte, für das Thema wirklich von Belang ist. Der Rezensent fragt sich, ob sich aus der Information, in welchen Lebensphasen Schnitzler zu Prostituierten ging, relevante Erkenntnisse über das gewinnen lässt, was die Literaturwissenschaft eigentlich interessiert: die Literatur. Doch die Detailfreudigkeit des Buches ist es nicht, die das Unbehagen erzeugt.

Das Problem geht tiefer: Was hat der Autor zu Schnitzler eigentlich zu sagen? Dass der jüdische Bürger sich über Antisemitismus ärgerte und sich davor fürchtete? Das ist sicherlich eine Selbstverständlichkeit. Dass der Schriftsteller trotz seiner Ablehnung religiöser und zionistischer Argumentationen irgendwie Jude blieb und dies in seinen Texten erkennbar ist? Dann müsste dieses Irgendwie am Text gefasst und theoretisch gedacht werden und dafür reicht es kaum, in einer Tabelle im Anhang „jüdische“ und „nicht-jüdische Figuren“ im „Weg ins Freie“ positivistisch mit ihren „realen Vorbildern“ zusammenzustellen und schon gar nicht, mit einer anderen Tabelle die „Erwähnung katholischer Feiertage in den Tagebüchern und Briefen“ Schnitzlers zu zählen. Angesichts solcher Kuriositäten wird erschreckend deutlich, dass „die Benennung des Jüdischen im akademischen Diskurs [...] längst selbst zu einem loslösbaren Marker, ja einem Klischee geworden ist“, wie Eva Lezzi vor kurzem in anderem Zusammenhang diagnostizierte.5 Baier verharrt in der bloßen Benennung des Jüdischen, anstatt die spezifische poetische Funktion von jüdischer Identität, bzw. der poetischen Kraft, welche die Auseinandersetzung mit dem Jüdisch-Sein und den antisemitischen Angriffen erst für den Text freisetzt, am Text zu untersuchen. Dabei sind in der Sekundärliteratur, die Baier freilich als „unvollständig und unsystematisch“ (S. 11) zurückweist, einige spannende Modelle für die poetische Wirkungsmächtigkeit von Schnitzlers Auseinandersetzung mit seiner problematischen jüdischen Identität geliefert worden, etwa in einer inspirierenden Kurzstudie von Daniel Hoffmann, die Schnitzlers Schreibweise – auf dem durchaus fragwürdigen Hintergrund eines mystischen Textverständnis des Zohars – als Thematisieren einer unauflösbaren Dialektik von Text und Sinn, Mimesis und Belebung, Illusion und Wirklichkeit begreift.6 Hoffmanns Versuch könnte die Richtung weisen, in die ein kreatives und eindringliches Nachdenken über das Thema gehen könnte.

Der methodische Mangel führt zu einer Sprachblindheit. Wenn über eine antisemitische Romanfigur behauptet wird, dass deren „diskriminierende Ansichten“ noch unberechtigter seien, „weil er als fauler Schmarotzer bei seinen Eltern wohnt [...]“ (S. 88), dann schlägt das gut Gemeinte in sein Gegenteil um. Dass der Autor gar nicht grundsätzlich über sein (und Schnitzlers) Medium – die Sprache! – reflektiert hat, beweist er schlagend auch mit folgender Mitteilung: „Neben dem von Nicht-Juden betriebenen Antisemitismus existiert allerdings auch ein Antisemitismus von Juden gegenüber ihren eigenen Stammesgenossen.“ (S. 141) Das Wort „Stammesgenossen“ wurde vor 1945 und vielleicht noch nachher allgemein benutzt, verbreitet auch von Juden selber. Im zionistischen Diskurs – etwa in Martin Bubers frühen Schriften – ist die Rede vom „jüdischen Stamm“ üblich. Diese biologisierende Redeweise ist heute aber historisch und kann nicht ohne Distanzierung verwendet werden. Gerade wenn es um das fragwürdige Phänomen eines „Antisemitismus von Juden“ geht, der vielleicht eher ein gestörtes Verhältnis zur eigenen Identität offenbart, sollte mit der Terminologie sorgfältig umgegangen werden.

Schnitzler gibt im Tagebuch ein Gespräch mit einem Kritiker wieder, das verdichtend seine ganze Meisterschaft als Theaterautor zeigt: „Ich: Sind sie eigentlich Halbblut –? Er: ‚Wenn sie mich nicht verraten... sogar Ganzblut...‘ Ich: Schämen sie sich etwa?! – Er: Ich habe ja nur einen Scherz gemacht... – Nichts hat tieferen Sinn als solche Scherze.“ Baier vermerkt dazu: „Er [Schnitzler] nutzte diese Bestimmungen zumeist nicht, um Juden diskriminierend zu stigmatisieren, sondern um aufzuzeigen, wie wichtig der ‚rassische‘ Grad für gewisse Juden seiner Bekanntschaft war, die gesinnungsmäßige Schwierigkeiten mit ihren jüdischen Abstammungsanteilen hatten.“ (S. 185) Baier scheint den „tieferen Sinn“ von Schnitzlers Scherzen nicht zu erfassen. Verweise darauf, wie sich das soziale Stigma über die Ebene der Sprache (etwa dem schlimmen Wort „Abstammungsanteil“) konstituiert und wie dieser Prozess in den Texten subversiv und witzig offen gelegt wird, fehlen vollkommen.

An sich viel versprechende und hoch interessante Passagen, wie die Aufarbeitung des Verhältnisses zwischen Schnitzler und Theodor Herzl, werden durch solche Fehlgriffe nicht gerade aufgewertet. Dazu kommt noch, dass Vieles, was Baier hier zu erzählen unternimmt, schon einmal erzählt wurde. Bettina Riedmann hat in ihrer einschlägigen Studie, auf die Baier zwar in den Anmerkungen gern zurückgreift, sie aber explizit keines Wortes würdigt, Schnitzlers Verhältnis zum Zionismus bereits ausführlich und differenziert betrachtet. Dort wird in Lektüren der Tagebücher berechtigterweise von einer instabilen, sich wandelnden jüdischen Identität ausgegangen, die sich nicht zu einem festen Bild fügt, sondern komplexen Konstituierungsprozessen ausgesetzt ist. Riedmann hat vorgemacht, wie sich die Literaturwissenschaft „zwischen Philosemitismus und Stigmatisierung“ immer auf einer „methodologischen Gratwanderung“ befindet.7 Solche Überlegungen hätten einen festen Grund geboten, von dem aus man weitere und ergiebigere Wege aus dem „Judenkreises“ hätte einschlagen können. Diese Publikation aber bleibt von ihm gebannt, ohne einen neuen „Weg ins Freie“ zu finden.

Anmerkungen:
1 Ludwig Börne, Börnes Werke. Historisch-kritische Ausgabe in zwölf Bänden, hrsg. von Ludwig Geiger et al., Band 7: Briefe aus Paris II – Menzel der Franzosenfresser, Berlin / Leipzig / Wien / Stuttgart 1913, S. 72.
2 Arthur Schnitzler, Der Weg ins Freie. Roman, Frankfurt am Main 1990, S. 37.
3 Ebd.
4 Hier sei es nachgeholt: Peter Gay, Das Zeitalter des Doktor Arthur Schnitzler. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2002.
5 Eva Lezzi, „‚...ewig rein wie die heilige Jungfrau...‘ – Zur Enthüllung des Jüdischen in der Rezeption von deutschsprachigen Romanen um 1800“, in: Willi Jasper / Eva Lezzi / Elke Liebs / Helmut Peitsch (Hrsg.), Juden und Judentum in der deutschsprachigen Literatur, Wiesbaden 2006 (Jüdische Kultur, Studien zur Geistesgeschichte, Religion und Literatur 15), S. 78.
6 Daniel Hoffmann, „Die Masken des Lebens – Die Wiener Moderne im Lichte jüdischer Hermeneutik“, in: Ders. (Hrsg.), Handbuch zur deutsch-jüdischen Literatur des 20. Jahrhunderts, Paderborn u.a. 2002, S. 235-270, hier v.a. S. 261-268.
7 Bettina Riedmann, „Ich bin Jude, Österreicher, Deutscher“. Judentum in Arthur Schnitzlers Tagebüchern und Briefen, Tübingen 2002 (Conditio judaica; Studien und Quellen zur deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte 36), S. 424.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension