Cover
Titel
Zeitenwende. Die SPÖ-FPÖ-Koalition 1983-1987 in der historischen Analyse, aus der Sicht der politischen Akteure und in den Karikaturen von Ironimus


Autor(en)
Kriechbaumer, Robert
Erschienen
Anzahl Seiten
626 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Suppanz, Universität Graz

Über 600 Seiten widmet Robert Kriechbaumer, Historiker und Politikwissenschaftler an der Universität Salzburg, in seinem neuesten Buch einem Zeitraum von rund vier Jahren, die in der politischen Geschichte der österreichischen Zweiten Republik tatsächlich singulären Charakter haben: den Jahren 1983 bis (Anfang) 1987, in denen eine „rot-blaue“ Koalition aus Sozialistischer und Freiheitlicher Partei die Regierung bildete. Der durch zahlreiche Publikationen zur österreichischen Geschichte insbesondere nach 1945 ausgewiesene Autor untersucht diese Periode unter dem Titel gebenden Aspekt der „Zeitenwende“. Die Phase der SPÖ-FPÖ-Koalition wird als Transitorium analysiert, in dem eine außergewöhnliche „Vielzahl von Stressfaktoren, Tabubrüchen und Paradigmenwechseln“ die Regierungstätigkeit prägte (S. 8).

Kriechbaumers Darstellung behandelt zentrale Themen der politischen und der Finanz- und Wirtschaftsgeschichte sowie deren Wechselbeziehungen, konzentriert auf das Handeln der Bundesregierung und der Parteien und somit auf staatspolitische Geschichte im herkömmlichen Sinn. Der Sicht der politischen Akteure wird dabei breiter Raum geboten. Nach dem circa 530 Seiten umfassenden Hauptteil „Die Kleine Koalition 1983-1986/87 in der historischen Analyse“ folgt ein rund 75 Seiten umfassender Anhang mit Interviews mit fünf maßgeblichen Männern der Koalition: Fred Sinowatz (1929-2008), Franz Vranitzky (die Bundeskanzler der „rot-blauen“ Regierung) und Ferdinand Lacina (Verkehrs- und als Nachfolger Vranitzkys Finanzminister) von der SPÖ sowie Norbert Steger (Vizekanzler) und Friedhelm Frischenschlager (Verteidigungsminister) von der FPÖ. 16 zeitgenössische Zeichnungen des Karikaturisten Ironimus illustrieren den Interviewteil.

Die „historische Analyse“ beginnt mit einem Überblick über die soziokulturellen Aspekte der „Zeitenwende“ in den späten 1970er- und den 1980er-Jahren. Er behandelt jene Veränderungen, die sich in Schlagworten wie „Wertewandel und Postmaterialismus“ oder „Pluralisierung der Lebenswelten“ festmachen lassen und auch auf die politische Kultur Auswirkungen haben. Ein Teil dieses Kapitels befasst sich mit der „Affäre Waldheim“, der am Schluss des Hauptteils noch ein eigener Abschnitt gewidmet ist. Die zentralen Ereignisse der Kabinette Sinowatz und Vranitzky I sind das Thema des nächsten Teils, bevor die Geschichte der Parteien SPÖ, ÖVP, FPÖ und Grüne von 1983 bis 1986/87 behandelt wird. „Zwentendorf und Hainburg“ als symbolische Orte des politischen Wandels und des Eintritts des Faktors Ökologie in den politischen Diskurs stehen im Mittelpunkt des nächsten Kapitels.1 Ein wirtschafts- und finanzpolitischer Teil thematisiert die zunehmende Infragestellung des Austro-Keynesianismus und die Krisen der verstaatlichten Industriebetriebe und Banken. Der ORF, die Außenpolitik der SPÖ-FPÖ-Regierung und nochmals die Bundespräsidentenwahl 1986 sind weitere Themen des historisch-analytischen Hauptteils.

Neben dem erwähnten soziokulturellen Wertewandel sind es in politischer Hinsicht der Übergang von der 13-jährigen SPÖ-Alleinregierung Kreisky bis 1983 zur Großen Koalition aus SPÖ und ÖVP ab 1987, das Aufbrechen des Dreiparteiensystems aus zwei Großparteien und der FPÖ als wesentlich kleinerer „dritten Kraft“ durch den Einzug der Grünen in den Nationalrat, der Aufstieg Jörg Haiders in der FPÖ, die neue Qualität der Auseinandersetzung über die NS-Vergangenheit in der „Waldheim-Affäre“, die zunehmende Durchsetzung von Neokonservatismus und -liberalismus in der Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik etc., die unter dem Aspekt der „Zeitenwende“ relevant sind. Methodisch gesehen bleibt die Frage offen, ob ungeachtet der paradigmatischen Bedeutung mancher dieser Veränderungen die generelle Hervorhebung dieser Jahre im Vergleich zu anderen Phasen der Zweiten Republik gerechtfertigt ist, aber selbstverständlich handelt es sich um eine argumentierbare Ausgangshypothese.

Der Band bietet eine Fülle an Zitaten und Einzelheiten zur politischen Geschichte Österreichs zwischen 1983 und 1987, die es den LeserInnen ermöglicht, die Ereignisse und zentrale Debatten aus zeitgenössischer Sicht detailliert zu verfolgen. Kriechbaumer zieht allerdings ausschließlich gedruckte, großteils journalistische Quellen wie zeitgenössische Tages- und Wochenzeitungen sowie Publikationen und Memoiren von Politikern heran. Das Buch reproduziert damit vorrangig die mediale politische Berichterstattung und die Innensicht von Politikern und formt sie zu einer zusammenhängenden Nacherzählung. Die ausführlichen Zitate aus den Belegstellen werden dabei nur wenig kommentiert und kontextualisiert. Auch die verwendete politik- und geschichtswissenschaftliche Literatur stammt fast ausschließlich aus den 1980er-Jahren und fungiert vorwiegend als zeitgenössischer Kommentar. Ohne die zukünftig noch zu leistende Bearbeitung beispielsweise von parteiinternen Archivmaterialien oder der Ministerratsprotokolle fehlt dieser hauptsächlich auf journalistisch vermittelten Informationen beruhenden Erzählung von der SPÖ-FPÖ-Koalition eine wesentliche Fundierung.

Nachteilig ist auch, dass die Untersuchung sich sehr exakt an den im Titel angegebenen Zeitraum hält. Kontinuität und Wandel ließen sich schärfer herausarbeiten, wenn Entwicklungslinien in der Analyse ausführlicher weitergeführt würden, statt primär ereignisgeschichtlich dargestellt mit Anfang 1987 abzubrechen. Dasselbe gilt auch für die verwendeten Statistiken. Generell geht trotz der expliziten Ausgangshypothese der „Zeitenwende“ die Theorie- und Problemorientierung ab. Das lässt sich auch an der weitgehenden Abwesenheit geschichts- und politikwissenschaftlicher Sekundärliteratur als theoretischer Grundlage erkennen, mit der die behandelten Themen beispielsweise aus Sicht der Gedächtnisgeschichte („Waldheim-Affäre“) oder der Politische-Kultur-Forschung (Parteien, Sozialpartnerschaft, Populismus, Governance etc.) gedeutet und analysiert werden könnten.

Kriechbaumer tendiert stattdessen stark dazu, in erster Linie seine zeitgenössischen Quellen sprechen zu lassen. Dieser Zugang ist vermutlich Programm, denn deutlich sympathisierend verweist er auf Barbara Tuchmans Empfehlung, dass der Historiker sich seinem Material unterwerfen, da es dann zu ihm selbst sprechen werde (S. 48), und zunächst die Tatsachen zusammenstellen solle, um dann aufgrund des Materials eine Theorie oder Verallgemeinerung zu entdecken (S. 527). Diesem Anspruch, möglichst voraussetzungsfrei Material zu sammeln und vorzustellen, entsprechen auch der Aufbau des Bandes und die Organisation seines Inhalts.

Dass diese induktive Methode aus der Sicht der Theoriediskussionen der letzten Jahrzehnte als äußerst problematisch zu betrachten ist, kann hier nur konstatiert werden. Jedenfalls wird dieser Zugang von Kriechbaumer zwar favorisiert, aber auch in Frage gestellt. Das geschieht einerseits explizit, indem er selbst darauf hinweist, dass das historische Material zu den Diskursparteien in der „Waldheim-Affäre“ völlig unterschiedlich gesprochen habe – womit die (generationellen) Voraussetzungen sich als wesentlich für die Interpretation erweisen. Vor allem aber schlägt die Darstellung bei der Behandlung bestimmter Themen teils in heftige Polemik um. Die RepräsentantInnen des unter „Postmaterialismus“ zusammengefassten Wertewandels werden fast ausschließlich mit pejorativen Begriffen und Deutungsmustern versehen (siehe z.B. S. 23f.). Vor allem aber die „Waldheim-Affäre“ emotionalisiert Kriechbaumer in hohem Maße. Er argumentiert nicht seine Position der Kritik an der Waldheim-Kritik anhand der Debattenbeiträge durch, er verfällt vielmehr in wütende Polemik. Da werden der Charakter Gerhard Botz’, des Exponenten der Waldheim-Gegner in der Zeitgeschichtsforschung, und der „selbstgerechten linken intellektuellen Szene“ zum Thema und Argument. Da wird es zum Ziel der Untersuchung, „eigentliche Motive“ (nämlich rein parteipolitische) der KritikerInnen, die pauschal keinerlei Interesse an differenzierender Analyse und Aufklärung gehabt hätten, festzumachen (S. 47f., S. 526).

Ist schon diese Darstellung nicht differenzierter als die Haltungen, die er seinem auf diese Weise erzeugten Feindbild zuschreibt, so wird es noch zusätzlich problematisch, wenn Kriechbaumer in einem Unterkapitel ausführlich „die amerikanischen Juden“ (als anscheinend eindeutig identifizierbare und homogene Gruppe) behandelt und explizit ihre „Befindlichkeit“ erklärt (S. 513-525). Seine Intention, Waldheim gewissermaßen historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ist mit Stereotypisierungen dieser Art eng gekoppelt. So werden „die amerikanischen Juden“ pauschal als „die wohlhabendste, gebildetste und einflussreichste Gruppe in der amerikanischen Gesellschaft“ (S. 516) bezeichnet. Dennoch habe diese Gruppe sich zunehmend als „Gemeinschaft der Opfer“ gefühlt, eine „mit moralischen Privilegien verbundene Victimisierung“ (S. 516). Dabei wird eine Unterscheidung zwischen anscheinend generell privilegierten „amerikanischen Juden“ und den „europäischen Juden“ als den echten Opfern eingeführt, die die zahlreichen von Flucht aus Europa und Exil in den USA geprägten jüdischen Biographien ignoriert. Kriechbaumer zitiert auch kritische Stimmen im innerjüdischen Diskurs, letztlich läuft die Erzählung aber durchwegs auf die Konstruktion einer homogenen (Interessens-)Gemeinschaft hinaus: „In den USA entschieden die Juden den Kampf um die Erinnerung und die Große Erzählung für sich.“ (S. 516) Die Logik des Innen und Außen, des „Wir ÖsterreicherInnen“ gegen „die Anderen“, die den Bundespräsidentschaftswahlkampf 1986 so stark prägte, wird hier nicht problematisiert und dekonstruiert, sondern reproduziert. Besonders bedauerlich ist, dass Kriechbaumer dabei Stereotype verwendet, deren Nähe zu antisemitischen Denkfiguren unbedingt zu bedenken gewesen wäre. 2

„Zeitenwende“ ist daher ein Band, der hinsichtlich seines Anspruchs auf eine historische Analyse unbefriedigend bleibt. Zu positivistisch ist der theoretisch-methodische Zugang, zu sehr gehen wesentliche, bisher unbearbeitete Quellenbestände ab, zu sehr fehlen theoriegeleitete Fragestellungen und Kontextualisierungen. Ärgerlich wird das Buch allerdings in jenen Passagen, in denen die kulturkritische oder politische Positionierung des Autors in Schmähungen von Feindbildern kippt. Dort geht es nicht mehr um Information und Analyse, dort scheint Polemik der Zweck der Darstellung.

Anmerkungen:
1 Die Inbetriebnahme des AKW Zwentendorf wurde 1978 durch eine Volksabstimmung verhindert. Die Debatte über eine Revision dieses Referendums dauerte bis zur Katastrophe von Tschernobyl an. Das geplante Donaukraftwerk von Hainburg, für das sich Bundesregierung und beide Sozialpartner einsetzten, wurde durch die „Aubesetzung“ ökologisch motivierter Kraftwerksgegner und eine Kampagne der „Kronenzeitung“ verhindert.
2 Gleiches gilt für die Formulierung, dass „die maßlos überzogenen Angriffe vor allem des Jüdischen Weltkongresses […] zum Aufkommen antisemitischer Ressentiments und Verschwörungstheorien“ führten (S. 44), die (jüdischen) Waldheim-KritikerInnen somit Antisemitismus provoziert hätten. Kriechbaumer widerspricht ihr übrigens später selbst mit dem gegenteiligen Befund, dass ein generelles Anwachsen des Antisemitismus im Bundespräsidentschaftswahlkampf 1986 „empirisch nicht belegbar“ wäre (S. 588).

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