M.Y. Arani: Fotografische Selbst- und Fremdbilder

Cover
Title
Fotografische Selbst- und Fremdbilder von Deutschen und Polen im Reichsgau Wartheland 1939-45. Unter besonderer Berücksichtigung der Region Wielkopolska


Author(s)
Arani, Miriam Y.
Series
Schriften zur Medienwissenschaft 19
Published
Extent
988 S. in 2 Teilbänden, zahlr. Abb.
Price
€ 128,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Detlef Hoffmann, München

In seiner an „Deutsche Hörer“ gerichteten Radioansprache sagt Thomas Mann im November 1941: „Das Unaussprechliche, das in Russland, das mit Polen und Juden geschehen ist und geschieht, wißt Ihr, wollt es aber lieber nicht wissen aus berechtigtem Grauen vor dem ebenfalls unaussprechlichen, dem ins Riesenhafte herangewachsenen Haß, der eines Tages, wenn Eure Volks- und Maschinenkraft erlahmt, über Euren Köpfen zusammenschlagen muß.“1 An diese Sätze musste ich denken, als ich die minutiösen Schilderungen von Miriam Y. Arani las, in denen sie beschreibt, wie „unsäglich niederträchtig“ – um noch einmal Thomas Mann zu zitieren – die Deutschen die Polen im 1939 besetzten „Reichsgau Wartheland“ behandelten. Die oft weitschweifige und manchmal recht umständliche Arbeit findet immer dann zu einer hervorragenden Qualität, wenn sie über die Herabsetzung der Polen in dem besetzten Gebiet berichtet. Hier überzeugt sie durch ausgezeichnete, detaillierte Kenntnisse, die auch der Dechiffrierung fotografierter Motive dienen. Die Fotos werfen dann wieder in ihrer von der Sprache nicht einzuholenden Präzision den Blick auf die Geschehnisse zurück. Insofern ist das Buch ein Beitrag zu der Debatte über Fotografien als Quellen der historischen Forschung. Dies wird durch das lesefreundliche Layout gefördert, das Abbildung und Text möglichst auf einer Seite zusammenbringt.

Der Text ist in sieben Kapitel gegliedert, denen ein äußerst nützlicher Anhang beigefügt ist – mit einem Verzeichnis der im Reichsgau Wartheland 1939–1945 tätigen Fotografen und ihrer Auftraggeber sowie einem weiteren Verzeichnis der überlieferten Kontaktbögen des NSDAP-Gaupresseamts Posen. In solchen Verzeichnissen, die nun der weiteren Forschung zugänglich sind, materialisiert sich sehr viel Arbeit, die nur derjenige nachvollziehen kann, der sie selbst einmal gemacht hat. Die 67 Seiten lange Einleitung deutet allerdings bereits die Schwächen der vorliegenden Dissertation an: Es fehlt an Stringenz, Zielstrebigkeit und Orientierung auf klare Thesen. Stattdessen gibt sich der Text so, als behandle er zum ersten Mal die Situation eines von Deutschen besetzten Landes. Die Grenze zwischen einer populären und einer wissenschaftlichen Arbeit wird in dem gesamten Buch nicht beachtet, was die Geduld eines Lesers heftig beansprucht. So wird die Kontroverse zwischen Martin Broszat und Saul Friedländer auf drei Seiten abgehandelt (S. 36-39), obwohl sie jedem Zeithistoriker bekannt ist. Das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zu Polen seit 1945 wird relativ eingehend umrissen (S. 29-36), aber man vermisst eine Zuspitzung auf die Absichten der vorliegenden Arbeit, das heißt auf den politischen Kontext des Kalten Krieges und dessen Bedeutung für die fotogeschichtliche Überlieferung, obwohl hier ein besonderes Verdienst liegt.

Das zweite Kapitel (S. 67-174) widmet sich der Methode. Für die „Quellenkritik“ bekennt sich Miriam Arani zu einer archäologischen Methode des genauen Hinsehens und der Überprüfung der materiellen Gegebenheiten der jeweils zu untersuchenden Fotos. Hier liegt wiederum die Stärke der Arbeit. Wo die Autorin konkret wird und einzelne Fotos untersucht, wird die Lektüre faszinierend – allerdings braucht man dafür nicht die Ikonologie Erwin Panofskys, auf die Arani vielfach verweist (z.B. S. 16, S. 67). Mit Rückgriff auf die Soziologie legt sie zudem dar, dass die einzelnen Bilder in Kontexten behandelt werden müssen. Doch ähnlich wie der Bezug auf Panofsky ist auch derjenige auf Pierre Bourdieu (S. 90-93) überflüssig, weil er in den praktischen Untersuchungen nicht eingelöst wird. Die Ikonologie verlangt die Behandlung der Gewordenheit von Bildthemen. In dem eindringlichen Kapitel über Fotografien von Erschießungen (S. 628-641) wird die Bildgeschichte dieses Motivs (beginnend mit Francisco de Goya) jedoch nicht untersucht. Auch die Fotos, in denen der Habitus intensiv ins Auge fällt – etwa bei dem Paar unter dem Weihnachtsbaum (S. 696), dem arbeitenden Fotolaboranten (S. 703) oder den Gruppenbildnissen (S. 486ff.) – werden nicht unter diesem Aspekt behandelt. Vielmehr interessieren Miriam Arani die Selbst- und Fremdbilder. Dabei bezieht sie die Form der Überlieferung der Fotografien mit ein. Schon Johann Gustav Droysen machte in seiner „Historik“ darauf aufmerksam, dass die institutionelle Überlieferung das überlieferte Material prägen kann. Hierfür findet die Autorin viele sehr gut recherchierte Beispiele aus ihrem Untersuchungsfeld. So blieben bei der Übersiedlung der Deutschen aus dem polnischen Westpreußen in das Altreich Fotos und Alben zurück, die dann in polnische Archive wanderten. Hier bezeugen sie anderes als zur Zeit der Aufnahme (S. 137-145). Besonders gelungen ist der darauf folgende Abschnitt, in dem das deutsche Selbstbild mit dem Motiv Auto (S. 145-153) und das polnische Selbstbild mit dem Motiv der zerstörten Bauwerke des Katholizismus (S. 154-173) kontrastiert werden. In diesem Abschnitt sind auch jüdische Monumente berücksichtigt, doch steht in der gesamten Arbeit die Misshandlung der nichtjüdischen Polen in Vordergrund.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit der nationalsozialistischen Presselenkung und Fotopublizistik (S. 175-430). Es beginnt mit einer sehr instruktiven Schilderung der antipolnischen „Gräuelpropaganda“ zu Kriegsbeginn und dem Bromberger Blutsonntag. Hier werden die Rolle und die Wirkung der Fotos präzise untersucht (S. 175-225). Ich selbst bin 1940 geboren und erinnere mich sehr genau, dass das von der deutschen Propaganda vermittelte Polenbild meine Kindheit und Jugend bestimmte. Miriam Arani ist nicht die erste, die hier klärend wirkt; sie denunziert die Infamie aber besonders nachhaltig, indem sie den Umgang mit Fotografien untersucht. Das nächste Kapitel behandelt die Selbstdarstellung der deutschen Machthaber. Hier – insbesondere in der Diskussion der Rassenlehre des Nationalsozialismus (S. 350-430) – wären erhebliche Kürzungen der Sache förderlich gewesen. Die Debatte um „Das deutsche Volksgesicht“ (S. 357) führt auf Abwege. Sie ist zu lang in diesem Kontext, aber zu kurz, wollte man sie sorgfältig behandeln, denn das Stilcharakteristikum „fotorealistisch“ (S. 375) hilft wenig, bedenkt man die Beziehung zur „Neuen Sachlichkeit“. Die NS-Ästhetik – und die NS-Fotografie auf spezifische Weise – besaß durchaus eine Modernität, die mit der suggestiven Wirkung eng zusammenhängt. Aber derartige Probleme führen von der Fragestellung der Arbeit weg.

Das vierte Kapitel informiert ausführlich über die Bedingungen, unter denen polnische Fotografen arbeiteten – eine reichlich euphemistische Formulierung, denn wir erfahren sehr genau von der Enteignung der polnischen Betriebe, der Übergabe an Baltendeutsche und dem Verbot des Besitzes von Fotoapparaten. Die Deutschen wussten oft nicht, was sie mit den eingelieferten veralteten Modellen anfangen sollten. Wenn man Satz für Satz die schikanöse Behandlung der polnischen Bevölkerung liest, kann man sich – Thomas Manns oben angeführtes Zitat im Ohr – nur wundern, wie freundlich einem die Menschen auf Reisen in Polen heute begegnen. Der fünfte Teil (S. 449-624) führt uns in das weite Gebiet der Polizeifotografie sowie anderer Institutionen, die sich des Fotos bedienten – etwa der Bildstellen auf der Ebene von Stadt, Kreis und Land oder der Organisatoren von Umsiedlungsaktionen. Das letzte Kapitel zur Nutzung der Fotografie durch Polen für ihre privaten und politischen Zwecke – beides oft nicht voneinander zu trennen – ist schließlich wieder ein Glanzstück der Arbeit (S. 723-752). Erstaunt hat mich eine faszinierende Serie der im Untergrund tätigen katholischen Pfadfinder, die sich bei ihrer Arbeit fotografiert haben – ungewöhnlich und für die Nachgeborenen von unersetzlichem Wert.

Die Zusammenfassung fällt wiederum nicht gerade kurz aus (S. 753-822); es empfiehlt sich, sie zuerst zu lesen. Denn es wurde aus dieser Dissertation ein Buch zum Nachschlagen, weniger zum Lesen. Vor dem Hintergrund der Diskussion um ein „sichtbares Zeichen“ und die Erinnerung an die Schicksale der deutschen Vertriebenen wäre es wissenschaftlich und politisch nützlich gewesen, die Ergebnisse der intensiven und bewundernswerten Recherchen zur Fotogeschichte der deutschen Besatzungszeit Polens zugespitzt zu präsentieren. Aber was nicht ist, kann vielleicht noch werden.

Anmerkung:
1 Thomas Mann, Deutsche Hörer! Radiosendungen nach Deutschland aus den Jahren 1940 bis 1945, Frankfurt am Main 1986, S. 46.

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