Wenn über die deutsche Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg gesprochen wird, verschwinden die Überlebenden des Holocaust und des NS-Terrors oft aus dem Blickfeld oder werden nur als passiv erscheinende Kollektive betrachtet, wie beispielsweise in der Frage der Displaced Persons. Für viele Angehörige der verfolgten Gruppen kam das Ende des NS-Regimes zu spät; für die Überlebenden stellte sich jedoch die Frage, wie und wo sie weiterleben wollten. Sobald sie sich entschieden, in einem (deutschen) Nachfolgestaat des NS-Regimes zu bleiben, hieß das auch, mit den vormaligen Tätern, Unterstützern und Zuschauern der Verbrechen zusammenleben zu müssen. Dem Willen, im Bewusstsein dieser Situation die Gesellschaft und die Geschichtsschreibung mitzugestalten, widmen die Herausgeber Katharina Stengel und Werner Konitzer den Sammelband „Opfer als Akteure. Interventionen ehemaliger NS-Verfolgter in der Nachkriegszeit“.
Der Namensgeber des Fritz Bauer Instituts, dem mit dem „Jahrbuch 2008 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust“ indirekt Tribut gezollt wird, steht für die justizielle Verfolgung der NS-Verbrechen in der Bundesrepublik.1 Der Ansatz des Jahrbuchs, den aktiven und öffentlichen Umgang von Opfern des NS-Systems mit ihren Erfahrungen darzustellen, hat den berechtigten Anspruch, die Passivität aufzuheben, die mit der Zuschreibung als „Opfer“ oftmals verbunden ist. Wie durch die Gesamtheit der Beiträge ersichtlich wird, haben viele Überlebende intensiv für eine „Wiedergutmachung“ und eine Verfolgung der Straftaten der Nationalsozialisten gekämpft und hier nicht selten eine neue Lebensaufgabe gefunden. In der Einleitung problematisiert Katharina Stengel den Begriff der „NS-Verfolgten“, um der Homogenisierung einer Gruppe vorzubeugen, die jenseits der erlittenen Diskriminierungen und Gewalttaten oft kaum etwas verband. Durch die Auswahl der Aufsätze werden bestimmte Teilgruppen der Verfolgten und mitunter auch Konfliktlinien zwischen ihnen deutlich.
Die Aktivitäten der Überlebenden hatten vor allem drei Ziele. Wichtig war zum einen die innerkollektive, mehr noch die öffentliche Erinnerung an die Ermordeten und die Gräueltaten der NS-Zeit; dazu kann auch die historiographische Aufarbeitung gezählt werden. Zum anderen war die strafrechtliche Anklage der hauptverantwortlichen Verbrecher zentral. Wie hier für die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft typische Paradoxien ihren Lauf nahmen, zeigt Kristina Meyer am Beispiel der SPD. Sie beschreibt die ausgeprägte Bereitschaft der Nachkriegsgesellschaft, „Mitläufer“ des Nationalsozialismus, aber auch die in der HIAG (Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS) organisierten über 900.000 früheren SS-Mitglieder zu integrieren oder vielmehr gar nicht erst auszugrenzen. Die Hervorhebung des erfahrenen Unrechts blieb selbst innerhalb der ehemals verfolgten SPD ein Anliegen von Minderheiten. Anhand der Aufsätze von Thomas Irmer und Stephan Stach wird deutlich, wie nötig die individuellen oder durch Opfer-Verbände initiierten Bemühungen waren, die Täter ausfindig zu machen und Beweise für eine Anklage an die zuständigen Behörden zu liefern. Dies zeugt neben einem Misstrauen für die Eigenaktivität der Justiz von einem gegenläufigen, durchaus erstaunlichen Vertrauen in ein Rechtssystem, das strukturell noch lange nicht „entnazifiziert“ war.2
Es fällt auf, dass der außerlegale Wunsch nach Rache3, Bestrafung oder auch Bloßstellung kaum Platz im Sammelband gefunden hat. Wenn im Fall der von Anne Klein porträtierten „Militants de la Mémoire“ tätliche Aktionen verübt wurden (Beate Klarsfeld ohrfeigte Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger und wurde zu vier Monaten Haft auf Bewährung verurteilt), so ist dies der einzige Beitrag zu zivilem Ungehorsam oder anderen außerlegalen Handlungsformen seitens einzelner NS-Opfer oder Angehöriger.
Ein nicht zu unterschätzendes drittes Aktionsfeld der Überlebenden aber wird in mehreren Aufsätzen angeschnitten und von Thomas Irmer explizit behandelt: die direkt nach Kriegsende beginnende und nach der deutschen Einheit in globalem Maßstab aktualisierte Debatte um „Wiedergutmachung“. Die Interessenvertretung für materielle Entschädigung war eines der Gebiete, bei dem Überlebende öffentlichkeitswirksam auftreten konnten, in den meisten Fällen unterstützt durch die Claims Conference.
Ein nicht überraschender Schwerpunkt des Sammelbands liegt auf dem Wirken der wenigen jüdischen Überlebenden in der Erinnerungsdebatte. Die zweite vermeintlich homogene Gruppe, die sich nicht selten mit der ersten überschnitt, waren die politischen Verfolgten. Immer wieder wird deutlich, dass die Konkurrenz zwischen einzelnen Häftlingsgruppen, die bereits innerhalb der Lager bestanden hatte und durch das Lagerpersonal systematisch forciert worden war, in der Debatte um die Anerkennung des Verfolgtenstatus des eigenen „Kollektivs“ nach 1945 fortwirkte. Hier wäre es für die weitere Forschung wünschenswert, wenn deutlich zu erkennende Ansätze des beanspruchten Märtyrertums näher untersucht werden könnten – und zwar mit Hinblick darauf, wie die verschiedenen Gruppen identitätsstiftende Merkmale wie Ethnie, Habitus etc. aus der NS-Ideologie übernahmen, transferierten und oder gar in der Nachkriegszeit erst ausbildeten. Die jahrzehntelange Kontinuität von Vorstellungen und Vorurteilen lässt sich anhand von Christa Pauls Beitrag insbesondere im Umgang mit so genannten „Asozialen“ und dem nachhaltigen Ausschluss dieser Menschen aus der Opfergemeinschaft beobachten.
In „Opfer als Akteure“ wird vor allem durch die Gesamtheit der Einzelbeiträge erkennbar, dass in beiden deutschen Nachfolgestaaten sowie auch in Nachbarstaaten wie Frankreich und Polen gerade die NS-Verfolgten oft die ersten Schritte taten – von der historisch-analytischen über die strafrechtliche Ebene bis hin zur erinnerungskulturellen Beschäftigung. So erläutern die Autoren des zweiten Kapitels („KZ-Überlebende als HistorikerInnen der Konzentrationslager“), dass es die Lagerkomitees waren, die einige der ersten umfassenden Publikationen über die einzelnen Lager ermöglichten. Zugleich wird deutlich, dass die im vorliegenden Band begonnenen Ansätze weiter ausgebaut werden müssen. Aufgrund fehlender Vorarbeiten sind einige Autoren genötigt, erst einmal die Organisationsgeschichte bestimmter Gruppen darzustellen.
Da etliche Aufsätze aus laufenden Forschungsprojekten und Promotionsvorhaben stammen, ist in den nächsten Jahren mit tiefergehenden Monographien zu rechnen. Dabei ist auch zu hoffen, dass ein noch genauerer Blick auf die ideologischen Grabenkämpfe der Parteien und Blöcke in Ost und West geworfen werden kann, wie etwa Harald Schmid es andeutet – am Beispiel der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) und ihrer strikt antikommunistischen Gegenorganisation, dem Bund der Verfolgten des Naziregimes (BVN). Während sich die Bundesrepublik auf europäischer und globaler Ebene heute als ein Land hervorzuheben versucht, das mit seiner Vergangenheit bewusst umzugehen weiß, dokumentieren solche Forschungen den mühsamen Weg zur Anerkennung der NS-Vergangenheit und die bis in die Gegenwart wirkenden Ambivalenzen.
Anmerkungen:
1 Irmtrud Wojak, Fritz Bauer 1903–1968. Eine Biographie, München 2009 (rezensiert von Claudia Moisel in: H-Soz-u-Kult, 09.07.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-3-028> (06.11.2009)).
2 Vgl. Joachim Perels, Entsorgung der NS-Herrschaft? Konfliktlinien im Umgang mit dem Hitler-Regime, Hannover 2004; Georg Wamhof (Hrsg.), Das Gericht als Tribunal oder: Wie der NS-Vergangenheit der Prozess gemacht wurde, Göttingen 2009 (rezensiert von Claudia Steurin, in: H-Soz-u-Kult, 03.07.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-3-012> (06.11.2009)).
3 Vgl. Jim G. Tobias / Peter Zinke, Nakam – Jüdische Rache an NS-Tätern, Hamburg 2000.