B. Engelking; J. Leociak: The Warsaw Ghetto

Cover
Titel
The Warsaw Ghetto. A Guide to the Perished City


Autor(en)
Engelking, Barbara; Leociak, Jacek
Erschienen
New Haven/London 2009: Yale University Press
Anzahl Seiten
906 S., mit zahlreichen Abb. und Karten
Preis
$ 75.00/40 £
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stephan Lehnstaedt, Institut für Zeitgeschichte

Deutsche Holocaust-Historiker haben sich in den letzten drei Jahren stark als Dienstleister für die Sozialgerichtsbarkeit betätigt. Im Zuge der so genannten Ghettorenten-Verfahren forderte die Justiz vielfältige Informationen zu den nationalsozialistischen Ghettos und den dortigen Lebensbedingungen an. Immer wieder war dabei festzustellen, dass abgesehen von wenigen Standardwerken kaum verlässliche Monographien vorliegen – und zwar selbst bei den größeren Ghettos. Der vorliegende Band stellt eine herausragende Ausnahme dar. Er erschien bereits 2001 auf Polnisch, und dank der von Yale University Press besorgten englischen Übersetzung durch Emma Harris sollte nun eine breite Rezeption möglich sein.

Barbara Engelking und Jacek Leociak, zwei Warschauer Historiker, demonstrieren in herausragender Weise die Qualität und Stärken der polnischen Geschichtswissenschaft, die im Westen nach wie vor viel zu wenig rezipiert wird. Das mag daran liegen, dass die Historiographie unseres östlichen Nachbarlandes durchaus als methodisch konservativ bezeichnet werden muss. Erkenntnisinteressen und Fragestellungen des cultural turn stehen dort stark hinter der klassischen Ereignisgeschichte zurück. Und obwohl sich gerade die beiden Autoren in ihren sonstigen Forschungen durchaus als offen für derartige Impulse gezeigt haben, ist das vorliegende Werk tatsächlich ein Führer zu einer untergegangenen Stadt: Ein umfassendes Kompendium, ein fakten- und detailgesättigtes Nachschlagewerk, das die verfügbaren Quellen ebenso wie die Literatur auswertet und darstellt, ohne dabei allzu große Deutungen und Interpretationen vorzunehmen.

Auf den über 900 Seiten des Buches findet sich indes fast alles, was über das Warschauer Ghetto herauszufinden ist. Auch auf Basis ihrer eigenen jahrelangen Beschäftigung mit dem Gegenstand können Engelking und Leociak Ergebnisse zu den verschiedensten Aspekten präsentieren, die die ganze Geschichte des Ghettos von dessen Errichtung 1940 bis zur Liquidation während des Aufstandes 1943 abdecken, ohne die Zeit vor 1939 und nach den Deportationen zu ignorieren. Der Leser kann Informationen zu den Besatzungsbehörden ebenso finden wie geographische Angaben zu den Ghettogrenzen oder Fakten zu Deportationen nach Warschau, aber auch aus der Stadt hinaus ins Vernichtungslager Treblinka; er erfährt etwas über den Judenrat unter Adam Czerniaków, den Jüdischen Ordnungsdienst, über Gesundheits- und Sozialfürsorge, Erziehung und sogar die Post. Das Wirtschaftsleben wird dargestellt anhand der Arbeitsmarktsituation, der Produktion, dem Verpflegungssystem, Handel und Dienstleistungen, aber auch von Schmuggel. Darüber hinaus wird die Kultur in Form von Musik oder Theater ausgebreitet, werden religiöse Strömungen illustriert und wird schlussendlich der Widerstand portraitiert; selbstverständlich fehlt auch eine umfassende Schilderung des Aufstandes von 1943 nicht.

Angesichts dieser beinahe als Universalgeschichte zu bezeichnenden Darstellung erscheint es nicht vermessen, dass dem Buch sechs Seiten vorangestellt sind, in denen ausgeführt wird, was nicht darin zu finden ist. Tatsächlich sind dies nur wenige Gesichtspunkte, die sich im Wesentlichen auf die Außenbeziehungen des Ghettos beschränken, also die jüdisch-polnischen Verhältnisse bzw. die damit verbundenen Fremdwahrnehmungen. Nachdem das Ziel der Autoren eine Alltagsgeschichte ist, wird ferner auf eine umfassende Diskussion der literarischen Zeugnisse der jüdischen Warschauer während des Krieges verzichtet.

So ist es nicht viel, was der Leser vermissen wird, und es wird sich künftig wohl jeder Historiker, der sich mit Juden in Warschau oder im Generalgouvernement beschäftigen will, an diesem Kompendium erfreuen. Die Nutzbarkeit des Buches wird durch die in wahrhaft enzyklopädischem Ausmaß vorgelegten Chronologien, Tabellen, Statistiken und Register erhöht. Darüber hinaus hat der Verlag die 250 Fotos der polnischen Ausgabe übernommen und auch die Kosten für eine Übersetzung des Kartenmaterials nicht gescheut. So sind zunächst drei großformatige, beigelegte Stadtpläne zu finden, die die Ausdehnung des Ghettos vor und nach den Deportationen vom Sommer 1942 bzw. die ursprüngliche Bebauung vor dem Hintergrund der Situation im Jahr 2001 zeigen. Dazu kommen 36 weitere, ebenfalls in Farbe gehaltene Kartenseiten, die die verschiedensten Informationen aufbereiten und etwa Straßenbahnlinien, Wirtschafts-, Handels- und Dienstleistungsbetriebe, Verwaltungs- und Sozialgebäude, Synagogen, Schulen, Theater und sogar Briefkästen zeigen und zudem die Aktivitäten des Widerstandes abbilden.

Zu monieren sind nur nebensächliche Kleinigkeiten, etwa eine doppelt abgedruckte Kartenseite, die den Wert des Buches keinesfalls schmälern: Insgesamt liegt hier ein Spitzenprodukt der Holocaustforschung vor, dessen Gültigkeit in den nächsten Jahrzehnten unbestritten sein dürfte. Darüber hinaus kann es bei etwaigen Warschau-Aufenthalten – trotz seines Umfangs – ganz im Sinne der Autoren als wohl zuverlässigster und detailliertester Führer zum vormaligen Ghettogelände dienen.

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