Titel
Fallstudien. Theorie - Geschichte - Methode.


Herausgeber
Süßmann, Johannes; Scholz, Susanne; Engel, Gisela
Erschienen
Berlin 2007: Trafo Verlag
Anzahl Seiten
273 S.
Preis
€ 17,80
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Michael Geiss, Pädagogisches Institut, Universität Zürich

Jede historische Arbeit steht vor dem Dilemma, einen bestimmten Fall zu untersuchen, dennoch aber Aussagen über den Fall hinaus machen zu wollen. Selbst wenn dieser Anspruch von sich gewiesen würde, bestünde die Erwartung an die Untersuchung fort, mehr als nur eine Klärung des Einzelfalls zu leisten. Auch für den von Johannes Süßmann, Susanne Scholz und Gisela Engel herausgegebenen Tagungsband stellt sich dieses Problem, wenn versucht wird, anhand einer Reihe von Einzelfallstudien die Geschichte des Falls zu rekonstruieren und auch noch etwas zur theoretischen Klärung des Genres beizutragen. Das Problem wird nicht gelöst, dennoch tragen die fünfzehn Artikel zur Differenzierung des Phänomens bei.

Den Aufsätzen vorangestellt ist eine hilfreiche Einleitung vom Mitherausgeber Johannes Süßmann, der eine ganze Reihe von Unterscheidungen ins Feld führt, um die vielfältigen Verwendungsweisen des Falls in den Blick zu bekommen. So lassen sich verschiedene wissenschaftliche Zugänge aufzeigen und sozialwissenschaftliche, psychoanalytische oder literatur- und geschichtswissenschaftliche Konzepte unterscheiden, wobei letztere über keine eigenständige Thematisierung der Einzelfallforschung verfügen, da ihnen diese als das „(vermeintlich) Selbstverständliche“ (S. 14) erscheine. Auch in der Rhetorik hat der Fall als Fallbeispiel seinen angestammten Platz. Von diesen wissenschaftlichen Formen der Verwendung lässt sich aber auch der vorwissenschaftliche, praktisch angelegte Gebrauch unterscheiden, wie er sich etwa in der Ausbildung und Praxis des Rechts, der Medizin und in didaktischen oder moralischen Zusammenhängen zeigt. Der Tagungsband ist darauf angelegt, diesem aus unterschiedlichen Funktionen und Herkünften resultierenden „konzeptionellen Durcheinander“ (S. 18) durch den interdisziplinären Austausch beizukommen. Als Ausgangspunkt bietet Süßmann ein Analyseraster bestehend aus den Ebenen Narrativik, Epistemik und Pragmatik der Fallstudie an und entwirft eine mögliche Typologie unterschiedlicher Verwendungsweisen des Falls.

Welche Schwierigkeiten sich aber aus dieser Anlage des Bandes ergeben, zeigt sich gleich im ersten inhaltlichen Aufsatz von Carlo Ginzburg, der sich mitnichten an das Raster von Süßmann hält, sondern mit der Unterscheidung von Kasus, Beispiel und Exempel weiter zur Verkomplizierung des Phänomens beiträgt. Sein Gegenstand ist die europäische Kasuistik und die Rolle niedergeschriebener Normen bei ihrer Genese in der Frühen Neuzeit. Im 10. Jahrhundert und in einem anderen Kulturkreis ist die Untersuchung von Charlotte Furth angesiedelt, die sich der Funktion des Falldenkens im vormodernen China annimmt. Sie zeigt auf, wie sich Fälle im chinesischen Recht, der Medizin und der Philosophie anboten, aktuelles Geschehen und den althergebrachten Kanon miteinander in Einklang zu bringen.

Das Verhältnis von juristischer Norm und alltäglicher Erfahrung steht auch in Simona Ceruttis Darstellung im Zentrum. Sie konzentriert sich auf das sogenannte „summarische Verfahren“, ein vereinfachtes Rechtsverfahren, das an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert in Westeuropa und vor allem in Italien eingesetzt wurde und ohne eine „Übersetzung von Fakten und sozialen Praktiken in die Rechtssprache“ (S. 73) auskam. Ebenfalls in der Frühen Neuzeit angesiedelt ist die anschließende Untersuchung von Michael Stolberg, der anhand von medizinischen Fallberichtssammlungen die Entwicklung des Genres nachzeichnet. Zwischen der Untersuchung des medizinischen und juristischen Umgangs mit Fallberichten ist Bettina Wahrigs Analyse der Bedeutung von Vergiftungsfällen zwischen 1750 und 1850 situiert. Sie versucht einen Anschluss an Süßmanns Systematik, verweist aber auch auf die Schwierigkeit der Einordnung der Fälle.

Hatten bis zu diesem Punkt vor allem die Historiker das Wort, kommt mit George Rosenwalds Artikel auch die Psychologie zu ihrem Recht bei der Behandlung der Fallstudie. Rosenwald stellt den sogenannten Multiple-Case-Ansatz vor und weist auf das Paradox hin, dass durch die intensive Auseinandersetzung mit einer Vielzahl von Fällen ein viel besseres Bild dessen, „was die objektive Welt ausmacht“ (S. 118), entstünde, als dies bei sozialwissenschaftlichen Verfahren der Fall sein könne. Von der Psychologie ist es ein eher großer Schritt hin zur Philologie, wenn Lorenz Rumpf anhand der Texte von Ennius, Livius, Dionysos von Halikarnassos, Cicero und Platon eine „Fallstudienphilologie“ erprobt und Ulrich Oevermanns objektive Hermeneutik fruchtbar zu machen versucht.

Einen wichtigen Beitrag zum Thema liefert der Soziologe Thomas Loer in seinen Überlegungen, inwiefern sich das Ruhrgebiet als ein Fall betrachten lasse. Loers zugrunde liegende Unterscheidung ist die von Fallbeschreibung und Fallrekonstruktion, für die er wie Lorenz Rumpf auch auf Oevermann zurückgreift. Anhand einer sozialgeographischen, einer historischen und einer soziologischen Beschreibung des Ruhrgebiets zeigt er verschiedene Möglichkeiten auf, die Region als Fall zu betrachten. Heinz D. Kittsteiner macht sich anschließend Gedanken zu Fallstudie und Analogiebildung bei Karl Marx und Oswald Spengler, kommt auf den Fall aber erst in einer Nachbemerkung zu sprechen und liefert im Hauptteil eher Bedenkenswertes zur Analogie als Mittel der Erkenntnis.

Susanne Scholz führt mit ihrer Frage, warum sich literarische Texte am Ende des 19. Jahrhunderts als Fallstudien gerieren, zurück ins thematische Zentrum. Die Mitherausgeberin des Bandes widmet sich Stevensons The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde (1886) und kann überzeugend darlegen, wie hier zum einen die wissenschaftliche Debatte der Zeit aufgenommen, zugleich aber die Sicherheit des neu generierten Wissens in Frage gestellt wird. Das Problem des Wissens behandelt auch Anita Traninger, indem sie anhand von einer Reihe von Texten aus dem 17. Jahrhundert der Frage nachgeht, inwiefern der Sündenfall als Fall fungierte, an dem sich das Verhältnis von universalem Wissen und dem beschränkten menschlichen Dasein thematisieren ließ.

Petra Schulte widmet sich dem spätmittelalterlichen Exemplum und untersucht die Bedeutung des Exempels als didaktisches Mittel im Frankreich Karls VI. Sie zeigt auf, dass das Exempel stärker emotionalisieren konnte als die abstrakte Lehre. Auch Xenia von Tippelskirch liefert einen Beitrag zur Exempelforschung und verdeutlicht anhand eines Textes von Giovan Battista Petruccini (1621), wie sich Beispielgeschichten pädagogisch verwenden ließen. Anregend sind ihre generelleren Überlegungen zur Historiographie, die einen „Bezug zwischen Einzelnem und Allgemeinem“ (S. 227) herstellen und in diesem Zusammenhang immer auch exemplarisch erzählen müsse.

Einen kuriosen Gegenstand behandelt Ulrike Bergermann, wenn sie die Übungsbeispiele in William Ross Ashbys Einführung in die Kybernetik (1956) analysiert. Bergermann setzt diese in eine Beziehung zu Thomas Kuhns wissenschaftstheoretischen und -geschichtlichen Darstellungen und was sie dann zu Kuhns Paradigmenkonzept und zu den Eigenarten kybernetischer Argumentationsformen zu sagen hat, gehört sicher zu den klügeren Überlegungen im Rahmen dieses Themenkomplexes. Sie liest Kuhns Paradigma nicht – wie häufig üblich – synonym zum Begriff der Mentalität, sondern verweist auf die Bedeutung standardisierter Lehrbeispiele für die Stabilisierung eines geteilten wissenschaftlichen Ansatzes. Den Band schließt Joachim Jacob mit seiner Rekonstruktion der ästhetiktheoretischen Vorgeschichte der Fallstudie im 18. Jahrhundert ab.

Wie bereits angedeutet, bleibt das Problem, ob es einen erkenntnistheoretischen Zusammenhang zwischen dem medizinischen, juristischen und psychologischen Fall, der rhetorischen Tradition desselben, dem alltäglichen Beispiel, der wissenschaftlichen Fallstudie und dem Fall als didaktischem Mittel gibt, am Ende ungelöst. Süßmanns konzeptionelle Überlegungen können die Kluft zwischen den unterschiedlichen disziplinären Zugängen und disparaten Themenfeldern, in denen Fälle eine Rolle spielen, kaum überbrücken – das wäre sicherlich auch zu viel erwartet. Auch die in den Artikeln immer wieder durchscheinende Formulierung, dass im Fall das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem seine Gestaltung erfahre, taugt kaum als Begrenzung dessen, was als Fall gelten soll.

Der Fall als historischer Fall ist kein geschichtswissenschaftlicher Gegenstand wie jeder andere. Er hat zugleich ein ausgeprägtes wissenschaftspolitisches Moment. So nutzt eine ganze Reihe der Autorinnen und Autoren den Tagungsband für ein abschließendes Statement, das sich kritisch mit bestimmten wissenschaftlichen Entwicklungen auseinandersetzt. Ginzburg etwa ruft zur Verteidigung der Grenze von Naturwissenschaft und Gesellschaft auf, Furth spricht von einer „modernen Besessenheit, einzelnen Daten nur Bedeutung als Teil von stabilen allgemeinen Mustern zuzugestehen“ (S. 65) und lobt in diesem Zusammenhang das Falldenken, auch bei Cerutti findet sich ein Seitenhieb auf den aktuellen Empirizismus. Die Entdeckung der Fallstudie als Gegenstand durch die Geschichtswissenschaft kommt also nicht von ungefähr, sie kann als Versuch gelesen werden, sich angesichts aktueller wissenschaftspolitischer Herausforderungen seiner eigenen Daseinsberechtigung zu vergewissern.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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