A. Brown: Seven Years That Changed the World

Titel
Seven Years That Changed the World. Perestroika in Perspective


Autor(en)
Brown, Archie
Erschienen
Anzahl Seiten
378 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Schattenberg, Forschungsstelle Osteuropa, Universität Bremen

Der Machtantritt Gorbatschows liegt 2010 bereits 25 Jahre oder eine ganze Generation zurück. Es verwundert daher nicht, dass langsam die Historisierung von Glasnost und Perestrojka beginnt und der Autor der großen Chruschtschow Biographie, William Taubman, nun an einem Monumentalwerk über Gorbatschow arbeitet. Die Fragen haben sich seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 kaum verändert: War die Auflösung unvermeidlich, was waren die Ursachen für den Kollaps, was die Motive der Reformer?

Archie Brown, emeritierter Professor für Political Sciences in Oxford, hat nun bereits sein zweites Buch über die letzten Jahre der Sowjetunion vorgelegt und es vielsagend in Anlehnung an den berühmten Augenzeugenbericht von John Reed „Ten days that shook the world“ über die Oktoberrevolution 1917 „Seven years that changed the world“ genannt. Es ist eine Mischung aus altbekannten Fakten und realpolitischen Darlegungen einerseits sowie pointierten Thesen und wichtigen Denkanstößen andererseits geworden.

Sehr angenehm ist, dass Brown sich nicht scheut, klar Stellung zu beziehen und dem Leser ein ermüdendes Für-und-Wider erspart. So stehen am Anfang zwei sehr pointierte, wenn auch nicht neue Thesen: Erstens habe sich die Sowjetunion 1985 in keiner Weise am Rande des Zusammenbruchs befunden, im Gegenteil: die Dissidenten waren erfolgreich dezimiert worden, die Instrumente zur Meinungsmanipulation voll intakt, es gab Vollbeschäftigung, keine Auslandsschulden und keine Unruhen. Zweitens hätte sich die Perestrojka zum sowjetischen System wie der Protestantismus zur Katholischen Kirche verhalten: Sie war nicht aus der Not geboren, sondern aus der Überzeugung heraus, das alte System sei moralisch korrumpiert und an seine Stelle müsse wieder die wahre, reine Lehre treten. Ähnlich wie Luthers Thesen hatten Gorbatschows Glaubensreformen verheerende Folgen für das bestehende Machtgefüge. Leider benutzt Brown dieses Konzept eines moralischen Reformismus nicht als Sonde, um sich damit weiter dem Phänomen Gorbatschow zu nähern, sondern belässt es bei dieser Bemerkung in der Einleitung.

Es folgt Teil II des Buches mit vier Kapiteln zu Gorbatschows Biographie und seinem Aufstieg, die sehr konventionell, ereignisorientiert und positivistisch gehalten sind und von denen Brown selbst sagt, dass er sie bereits in den 1980er-Jahren verfasst hat. Umso inspirierender ist Teil III bzw. Kapitel 6, in dem Brown seine These von der „institutional amphibiousness“ aufstellt, die er allerdings von X.L. Ding übernommen hat und die auch von anderen vertreten worden ist: Institutionelle Amphibien waren der Form nach sowjetisch-staatstragend, ihr Personal setzte sich aber aus unabhängigen Intellektuellen zusammen, die mit ihrem Schirmherr einen Deal eingingen: bei der in Prag ansässigen Zeitschrift „Probleme des Friedens und Sozialismus’“, in der Internationalen Abteilung des ZK, im Institut für Weltwirtschaft und internationale Beziehungen, im Institut für die USA und Kanada sowie im Institut für Wirtschaft und das sozialistische Weltsystem wurde ihnen gegen Loyalität und Wohlverhalten Gedankenfreiheit gewährt.

Die Personen, die nach außen konform agierten und gleichzeitig unabhängige Ideen und Konzepte entwickelten, die seit den 1960er-Jahren das Freidenken übten und 1985 mit Gorbatschow die politische Bühne betraten, nannten sich selbst die „inneren Dissidenten“, „innersystemische Reformer“, „intrastrukturelle Dissidenten“, „Dissidenten im System“ oder „liberale Konformisten“. Es entwickelte sich eine kleine, aber feine Elite von Wissenschaftlern, Journalisten und Denkern, die keineswegs mit dem Regime konform gingen, aber anders als die Dissidenten nicht bereit waren, für freie Meinungsäußerung soziale Absicherung, Arbeitsplatz oder Arrest zu riskieren.

Hier wird nicht nur deutlich, dass es tatsächlich personelle Kontinuitäten von Chruschtschow zu Gorbatschow gab. Es offenbart sich auch das Strukturprinzip der Sowjetunion, die nach Personengruppen gegliedert war. So lange an der Spitze eines Instituts ein Patron stand, der seine Schützlinge behütete und selbst Klient eines Mitglieds der inneren Machtkreise war, hatten die Freidenker wenig zu befürchten. Da zum Beispiel der erste Direktor (1956-65) des Instituts für Weltwirtschaft mit einer Schwester Mikojans verheiratet war, wagte es niemand, sein Tun und Lassen zu hinterfragen.

In Kapitel 7 wartet Brown dann mit der These auf, dass das System sehr wohl reformierbar gewesen sei, ja, dass die Geschichte der Sowjetunion nach Stalin eigentlich eine der permanenten Reformen gewesen sei. Als Politikwissenschaftler hat Brown keine Scheu davor, Gorbatschow Fehler nachzuweisen, nämlich seine Entscheidung, den Präsidenten nicht direkt wählen zu lassen, und das Hinauszögern der Spaltung der KPdSU. Hätte Gorbatschow die Baltischen Staaten und andere Abtrünnige ziehen lassen, wäre eine Union mit neun Mitgliedern durchaus überlebensfähig gewesen.

Klar und ohne jeden Zweifel trägt Brown auch seine nächsten Thesen vor: Für den Reformkurs sei absolut ausländischer Einfluss wichtig gewesen, allerdings weniger der des revoltierenden Ostmitteleuropas, als das westliche Ausland und Gorbatschows Reisen dorthin. Brown lässt keinen Zweifel daran: Nicht die Satellitenstaaten brachten den Riesen zum Stürzen; Goliath selbst schuf den Rahmen, in dem sich David emanzipieren durfte.

Schließlich bezieht Brown gegen die weit verbreitete These der Realisten Stellung, die Sowjetunion habe sich den Kalten Krieg nicht mehr leisten können und ihn aus wirtschaftlichen Gründen beendet. Brown hält dagegen, dass nicht Strukturgründe, sondern der politische Wille zweier Männer, Gorbatschows und Reagans, das Wettrüsten beendeten, weil es ihren Werten und Idealen widersprach. Auch wenn Brown hier den „großen Männern“ und ihren Intentionen das Wort redet, spricht viel dafür, tatsächlich nach deren Gedankengebäuden und soziokulturellem Umfeld zu fragen, das sie und ihre Entscheidungen prägte.

Genau das unterlässt Brown aber leider. Er versucht gar nicht erst, Gorbatschows Handlungen zu entziffern und zu „lesen“. Er stellt fest, dass Gorbatschow fest an die Partei, Lenin und den Bolschewismus glaubte, ohne nach den Hintergründen dafür oder dessen Bedeutung zu fragen. Dies sind Fragen, die wohl Historiker, vielleicht ein William Taubman, werden beantworten müssen.

Auch wenn Brown hier viele Gedanken und Thesen äußert, die es weiter zu verfolgen lohnt, gibt es mehrere Entwicklungen dieser „sieben Jahre“, die er vollkommen ausblendet: so etwa die Erwartungshaltung und zunehmende Frustration der Bevölkerung und den Zorn und Hass in den Unionsrepubliken. Ob tatsächlich nach der Entlarvung des Mythos vom „freiwilligen Zusammenschluss’“ und der „Völkerfreundschaft“ eine Union der Neun noch möglich gewesen wäre, muss bezweifelt werden. Brown aber vermittelt zuweilen den Eindruck, als sei die Auflösung der Sowjetunion ein administratives Problem gewesen, das allein in der Machtzentrale in Moskau verhandelt wurde. Zwar wurde die Oktober“revolution“ im ZK beschlossen, die Auflösung der Sowjetunion aber auf der Straße entschieden. Doch das blendet Brown vollkommen aus.

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