A. Brendecke u.a. (Hrsg.): Information in der Frühen Neuzeit

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Titel
Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien


Herausgeber
Brendecke, Arndt; Friedrich, Markus; Friedrich, Susanne
Erschienen
Berlin 2008: LIT Verlag
Anzahl Seiten
488 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Pohlig, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Wir meinen zu wissen, dass wir in einer Wissens- oder Informationsgesellschaft leben, für die das Sammeln politischer und ökonomischer Daten charakteristisch ist. Auch in der historischen Forschung sind Wissen und Information längst zu zentralen Kategorien aufgestiegen. Allerdings, so bemängeln die Herausgeber des anzuzeigenden Sammelbandes, werde das Problem der Information und ihrer Nutzung noch zu exklusiv in wissenschafts- oder wissensgeschichtlicher Perspektive verhandelt. Daneben stünden allenfalls Studien zur Diplomatie oder der Nachrichtenübermittlung. Forschungsstrategisch verschiebt der Band den Fokus auf politische (hier zumeist: innenpolitische) und verwaltungsgeschichtliche Probleme und nimmt die Beschaffung und Nutzung von Information vor allem durch die frühneuzeitliche Kirche, den Staat und seine Bürokratien in den Blick. Wer meinte wann welche Informationen zu welchem Zweck zu brauchen und wie erhielt er sie? Das Spektrum der behandelten Themen ist breit und belegt, dass Information tatsächlich ein Schlüsselphänomen der frühneuzeitlichen Geschichte darstellt. Der Band ist wichtig, durchdacht und eine große Leistung.

Nach einer Diskussion begriffsgeschichtlicher und systematischer Befunde entscheiden die Herausgeber sich dafür, ihren Überlegungen im Wesentlichen Peter Burkes Unterscheidung von Information und Wissen zugrunde zu legen: Information als „roh“, spezifisch und praktisch, Wissen als „gekocht“ und verarbeitet. Die Thesen der Herausgeber zur frühneuzeitlichen Informationsentwicklung zielen auf die „steigende Dichte und systematische Anhäufung“ (S. 32), das „Bedürfnis nach Akkumulation, Aufbewahrung und Operationalisierung von Informationsbeständen“ sowie die „Methodisierung frühneuzeitlicher Informationserhebung“ (S. 33). Von Peter Burke und Justin Stagl stammen zwei einführende Reflexionen. Auch Burke fordert, Informationsgeschichte als Teil der Politikgeschichte zu behandeln, und formuliert die Frage, ob verschiedene politische Regimes unterschiedlich mit Information umgehen. Stagl sieht in der Fremd- und Selbsterkundung ein wichtiges Element des europäischen Sonderwegs: Die frühneuzeitliche Reise- und Utopieliteratur zeigte ein neues Interesse für empirisches Wissen und seine Gewinnung.

Es ist natürlich unmöglich, alle Beiträge einzeln zu würdigen – die allermeisten lohnen allerdings eine intensive Lektüre. Das Spektrum der Themen reicht von der Professionalisierung und Ausdifferenzierung der habsburgischen Finanzverwaltung im Zuge der Akkumulation von Information (Mark Hengerer) über das wachsende politische Interesse an empirischem Wissen über die Bevölkerung im Rahmen von „Policey“ und Bevölkerungsbeschreibung (André Holenstein, Susanne Friedrich, Peter Becker, zu einer nicht-staatlichen Initiative: Gerrendina Gerber-Visser) bis hin zum sich verschiebenden Verhältnis von tradiertem (oft humanistischem) Wissen und empirisch zu erfassender Information (Wolfgang E.J. Weber, Jacob Soll). Dass die staatliche und auch nicht-staatliche Informationserhebung über Bevölkerungen, deren ökonomische Verhältnisse und deren Sitten und Gebräuche unter anderem auch Teil der komplizierten Entstehungsgeschichte der empirischen Sozialwissenschaften war, verdeutlicht Marian Füssel am Beispiel der proto-volkskundlichen Befragungen Friedrich Frieses zum Handwerkerbrauchtum.

Die empirisch sehr verschiedenen Studien kreisen immer wieder um dieselben systematischen Probleme struktureller Art: So einerseits die Frage nach den Methoden der Informationsbeschaffung, andererseits nach dem Erfolg der Informationsinitiativen.
Die Methoden der Informationsbeschaffung reichten von standardisierten, oft schnell veraltenden Fragebögen bis hin zum „Augenschein“. Wie wichtig waren Befragungen, die Interpretationen nicht schon durch ein vorgefertigtes Raster vorgaben, wie wichtig die Informationsbeschaffung vor Ort?

Jürgen Dendorfer zeigt am zum Kurienreformprojekt Alexanders VI., dass gerade der berüchtigte Borgia-Papst sich als Modernisierer erwies, der sich im Unterschied zu vorherigen Reformen bemüht habe, durch ergebnisoffene Befragungen empirische Informationen über den Zustand der Kurie zu sammeln. Die verschiedenen Präferenzen der Informationsbeschaffung im Jesuitenorden um 1600 untersucht Markus Friedrich. In der Frage des Umgangs mit local knowledge ging es weniger um das Ob als um das Wie: Einem Zentralismus mit einem straff organisierten Netz von Berichterstattern stand zeitweilig die Position eines partikularen, auf persönlichen Augenschein setzenden (und damit die römischen Kompetenzen begrenzenden) Informationssystems gegenüber. Langfristig stabilisierte sich aber das System der Entkopplung von Beobachtung und Interpretation.

Susanne Friedrich beschreibt herrschaftliche Landeserfassungen kartographischer, demographischer und ökonomischer Art in Reichsterritorien im 16. und 17. Jahrhundert. Zunehmend machten sich Regierungsbeauftragte und lokale Amtsträger selbst ein Bild – auch hier wurde, wie im Fall des Jesuitenordens, der „Augenschein“ ein wichtiger Erhebungsgrundsatz. Einen ganz anderen Weg, der Informationsbeschaffung, beschreibt Anton Tantners Beitrag über „Adress-„ oder „Intelligenzbüros“ in der Habsburgermonarchie und den deutschen Territorien. Diese Agenturen, in denen Funktionen späterer Arbeitsvermittlungen, Leihstellen, Reisebüros etc. zusammenflossen, waren privatwirtschaftliche Instanzen, die aus der Initative einzelner entstanden; entsprechend diskontinuierlich verlief ihre Geschichte. Sie arbeiteten sich an der Frage ab, wie der einzelne in einer zunehmend als unübersichtlich empfundenen Welt Wissen über praktische, meist ökonomisch relevante Fakten erlangen konnte. Ein Effekt dieser frühen Suchmaschinen (aber sicher auch deren Voraussetzung) war die „Entpersonalisierung sozialer Beziehungen“ (S. 232).

Ein zweiter Problembereich, den viele der Aufsätze diskutieren, betrifft den Hiatus zwischen obrigkeitlicher Initiative und dem realen Erfolg bei der Beschaffung von Information – ein Problem, das in variierter Form aus vielen Sektoren frühneuzeitlicher Staatlichkeit (sei es Sozialdisziplinierung, sei es Konfessionalisierung) bekannt ist. In einer Fallstudie zur Frage, was das Heilige Römische Reich über sich selbst wusste, beleuchtet Winfried Schulze den Zusammenhang von Geld und Information. Die defizitäre Reichsmatrikel (1521), die den Steuerberechnungen des Reichs zugrunde lag, wurde im 16. und 17. Jahrhundert durch „Moderationen“ partiell revidiert und mit empirischem Wissen über die Lage, Größe und Finanzkraft der Reichsstände unterfüttert – ein Beleg dafür, dass das Reich zwar kein Staat, aber auch nicht vollständig ineffizient war.

Justus Nipperdey untersucht die Bedeutung, die ökonomische Traktate des 17. und 18. Jahrhundert der Empirie zuwiesen. Das Interesse der Merkantilisten für Handelsströme und wirtschaftliches Handeln statt nur für Besitzverhältnisse zielte auf die Nutzung dieses Wissens für politische Steuerungsprozesse. Das „Ideal vollständiger wirtschaftlicher Information“ (S. 288) wurde aber nicht einmal im Ansatz erreicht. Hier wie in anderen Fällen ist ein Hiatus zwischen Plan und Ausführbarkeit zu konstatieren. Diesen Befund muss man zwar mit Markus Friedrichs Hinweis kontern, dass Informationssysteme prinzipiell „defizitär“ seien (S. 129), dennoch ist ein Charakteristikum vieler hier dargestellter Fälle ein spezifisch frühneuzeitliches Unvermögen, den Schritt vom Projekt zur Realität zu vollziehen.

Dies zeigt in differenzierter Weise auch Arndt Brendeckes Aufsatz über ein Rudiment gebliebenes Projekt, das ‚Buch der Beschreibungen’ (1573), das der spanischen Krone Informationen aus Amerika liefern sollte. Die Fragebögen, die jeder Amtsträger kontinuierlich ausfüllen sollte, waren bereits kurzzeitig in Gebrauch. Doch das Projekt wurde abgebrochen, weil die Patronagezwecke, von denen es abhing, inzwischen erfüllt waren. Brendecke zeigt erstens, dass der frühmoderne Staat theoretisch auf eine quasitotalitäre Informiertheit drängte, zweitens, dass eben oft eine Differenz zwischen administrativem Funktionalismus und „vormodernen“ Interessenlagen (etwa Patronage) bestand; drittens gibt er aber zu bedenken, dass der moderne Versachlichungsschub gegenüber der Frühneuzeit auch klischeehafte Züge trägt und die Informationseffizienz der Moderne ebenfalls auf den Prüfstand gehört.

Die zwei den Band beschließenden Kommentare stammen von Cornel Zwierlein und Lars Behrisch. Zwierlein behandelt allgemein Modelle kultureller Evolution, diskutiert unter anderem biologische und kulturanthropologische Theorieangebote und schlägt schließlich vor, nicht den Buchdruck, sondern die Entstehung gedruckter wie handschriftlicher „Aktualitätsmedien“ (S. 444) als Ausgangspunkt der „Methodisierung von Reflexivität und Empirie“ (S. 446) anzusetzen. Behrisch postuliert, dass die frühneuzeitliche Entwicklung eher durch eine Formveränderung als durch die quantitative Zunahme von Information charakterisiert sei. Zu Recht verweist er darauf, dass Information oft (immer?) weniger gesammelt als durch neue Frageprozeduren erst geschaffen wurde. Generell sieht Behrisch das Spezifikum der Frühneuzeit in einer wachsenden Abstrahierung und Standardisierung von Information. Und doch: Ist nicht auch die schiere Quantitätsexplosion bemerkenswert?

Ein gedanklich und empirisch so reicher Band stimuliert natürlich auch Einwände. So wäre zu fragen, ob „Information“ begrifflich nicht doch oft ohne großen systematischen Verlust durch „empirisches Wissen“ oder „Empirie“ ersetzbar wäre – und was dies für die zukünftige Karriere des Informationsbegriffs bedeuten würde. Die Konzentration auf die Innenpolitik bringt mit sich, dass die außenpolitische Informationsgewinnung, um deren Wichtigkeit die Herausgeber wissen, unberücksichtigt bleibt, obwohl gerade die Verknüpfung innen- und außenpolitischer Informationsprozesse vielversprechend wäre. Schließlich drängt sich die Frage auf, ob sich beim jetzigen Stand der Forschung eine Entwicklungsthese formulieren ließe, um die Beobachtungen der Beiträge zu integrieren. Man könnte sie ja semi-ironisch „Informationalisierung“ nennen. Provokativ fragt Burke, wann eigentlich die Hochzeit der staatlichen Informationssammlung war: um 1700, um 1800, um 1900? (S. 59) Und Dendorfer legt eine Fundierung der Entwicklung im Spätmittelalter nahe (S. 104). Handelt es sich also bei den beschriebenen Prozessen um „alteuropäische“ Phänomene, denen moderne gegenüberzustellen wären, oder erweist sich die Frühneuzeit tatsächlich als eine „frühe“ Neuzeit mit neuzeitspezifischen Charakteristika und einem Epochenschnitt um 1500? Und was werden die Mediävisten dazu sagen?

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