Das 2008 erschienene Buch zeigt auf dem Titelblatt das Hoheitszeichen der Bundesrepublik Deutschland wie es im Deutschen Bundestag zu sehen ist bzw. in Bonn zu sehen war. Sein Titel lautet „Top-Spione im Westen“. Titel und Gestaltung suggerieren so etwas wie: Politiker als Top-Spione, die folgerichtig im Klappentext als erste benannt werden. Und dann heißt es: „Als überzeugte Demokraten schützten sie ihr Land, indem sie es davor bewahrten, sich in aberwitzige Kriegsabenteuer zu stürzen. Deshalb informierten sie die Gegenseite.“ Und wer wollte die Bundesrepublik in aberwitzige Kriegsabenteuer stürzen? Und weil die DDR durch die Agenten, Kundschafter und Spione informiert worden war, schützte der erste deutsche Arbeiter- und Bauern-Staat die Bundesrepublik vor einem Kriegsabenteuer? Die Analytiker der Hauptverwaltung A (HV A) des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS), des Nachrichtendienstes der DDR also, hatten auch schon einmal bessere Tage, denn solch einen Unsinn hätten sie nicht einmal der SED-Führung als operative Erkenntnis zugemutet.
Doch die krude Selbstwahrnehmung beschränkt sich nicht allein darauf, denn dem Leser wird noch mehr versprochen: „Das Buch ist eine Sensation“. Nun, tatsächlich gibt es in dem Buch keinen einzigen Bundespolitiker, der sich zur Spionage für die DDR bekennt, und ein Buch, das bereits seit fünf Jahren auf dem Markt ist, bedarf ein beachtliches Abstraktionsvermögens, um es noch als Sensation zu empfinden.
Bereits im Jahre 2003 erschien es unter dem Titel „Kundschafter im Westen“ und war seinerzeit sicher ein ungewöhnliches Buch. Denn damals berichteten noch 35 inoffizielle Mitarbeiter der DDR-Staatssicherheit über ihre nachrichtendienstliche Arbeit im „Operationsgebiet“, meist über ihre Informationsbeschaffung in der Bundesrepublik. So etwas hatte es bislang für ein breites Publikum nicht gegeben. Zu Zeiten der DDR gab es zwar schon sorgfältig bearbeitete Erinnerungen wie die des Kanzlerreferenten Günter Guillaume, teils zum Ruhme der Auslandsspionage gedacht, teils zur pädagogisch-politischen Erbauung noch aktiver Agenten oder ihrer hauptamtlichen Vorgangsführer. Lediglich in kleinen hausinternen Anthologien gab es mehrere Erinnerungsberichte von Inoffiziellen, hochstilisiert zu Politagenten.
In der überarbeiteten Fassung sind drei der vormals 30 Beiträge fallengelassen worden: So der Beitrag des Sicherheitsbeauftragten von IBM Wilhelmshaven, Karl Gebauer, der 1994 zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden war und im Jahre 2002 verstarb und der des zu 30 Monaten Haft verurteilten Hamburger Landespolitikers Gerd Löffler. Bei dem dritten Beitrag handelt es sich um „Alfred“, der in den 1980er-Jahren Informationen aus der Rüstungsforschung beschafft hatte. Der Leser wird über diese Veränderungen in den Vorbemerkungen nicht unterrichtet. In der Sprache der HV A klingt das so: „Und jene Autoren, die eine Bearbeitung für nötig hielten, haben diese vorgenommen. Sie haben aktualisiert. Aber nichts von dem weggenommen, was sie damals selbstbewusst schrieben und mit unveränderter Überzeugung vertreten.“ (S. 10) Ein Grund für die Kürzung des Bandes (er hat 60 Seiten weniger) hätte sein können, dass sich die nunmehrige Ausgabe als „Band 3 der Geschichte der HV A“ versteht, und deshalb auf die Beiträge auf Gebauer und Löffler, die für die Spionageabwehr des MfS bzw. der Militäraufklärung des Verteidigungsministeriums aktiv waren, ausgespart werden mussten. Doch geht auch das nicht auf, denn der gleichfalls ausgeschlossene Beitrag „Alfreds“ trifft einen Konfidenten der HV A, und im nun vorgelegten Band werden die Seiten wie zuvor mit Aktivisten der Militäraufklärung wie Heinz H. Werner oder Dieter Popp aufgefüllt. Offenbar können die Herausgeber nicht allzu viele Quellen der HV A vorzeigen, was wohl die eigentliche „Sensation“ darstellt.
Die Herausgeber Klaus Eichner und Gotthold Schramm haben ein breites Spektrum inoffizieller Stimmen zusammengetragen. Das besticht. Eichner als Analytiker der Gegenspionage kann wie Schramm, zuletzt zuständig für Fragen der Zivilen Verteidigung und möglicherweise auch Sabotage, auf über drei Jahrzehnte Arbeit bei der HV A verweisen. Das prägt, vor allem politisch. Gleichwohl sind sie um historisch-politische Aufklärung vor allem der nachrichtendienstlichen Seite des Staatssicherheitsdienstes bemüht. Schon in „Kundschafter im Westen“ bzw. nun in „Top-Spione im Westen“ findet das seinen Ausdruck.
Die Verbundenheit mit den ehemaligen stellvertretenden Ministern Wolf und Großmann findet im Vorwort ihren Niederschlag, das, anders als viele Schilderungen der Spione selbst, stilisiert: Das Buch würde Einblicke in das „Innerste“ geben, politische und ideologische Motive beschreiben. Anders, als die Generäle meinen, stimmt es fast. Sicherlich hatten viele Spione der DDR ein politisches Motiv, aber nicht wenige waren materiell bestimmt – der Verfassungsschützer Klaus Kuron mag dazu gehören. Andere Motive waren jedoch apolitischer Natur: Erpressung, die es auch bei der HV A gab, oder schlicht persönliche Freundschaft. Ein linkes Motiv ist bei jenen, die nicht ahnten, wem sie Nachrichten gaben, kaum anzunehmen. Wolfgang Hartmann („Karl Kneske“), der einzige DDR-Instrukteur in dem Band, beschreibt anschaulich die „fremde Flagge“, die in dieser Form seit den 1950er-Jahren geführt worden ist. Unpolitische Motive passen nicht ins Bild der „Kundschafter des Friedens“, weshalb sie weggeblendet werden. Ein Manko.
Unangenehm fällt im Vorwort der Hass gegen „Verräter“ auf, was wohl nur eigenes „Versagen“ bei der Aktenvernichtung kaschieren soll, mit der Folge, das über 1.000 Inoffizielle in der Bundesrepublik enttarnt worden sind. Großmann wird als Leiter für diesen unzulänglichen Quellenschutz die Verantwortung übernehmen müssen, wonach dankenswerterweise die Zeitgeschichtsforschung mit Hilfe von verfilmten Karteien („Rosenholz“), elektronischen Informationsspeichern („SIRA“) und den Informationsberichten an die Parteiführung die DDR-Spionage zu den entblößtesten Nachrichtendiensten in der Weltgeschichte gemacht hat.
Diese Erinnerungsberichte zeigen den Variantenreichtum nachrichtendienstlicher Arbeit: Selbstanbieter kommen ebenso zu Wort wie in die Bundesrepublik übergesiedelte, dort geworbene oder mit falscher Identität ‘rüber geschleuste. Freilich fehlt es nicht an bekannten Namen: Alfred und Ludwig Spuhler, Gabriele Gast, Christel und Günter Guillaume oder Rainer Rupp, um nur einige zu nennen. Interessanter noch und auch mit Akten nicht zu erhellen, ist etwa die „Aktion 100“. Ein Unternehmen, bei dem in den 1950er-Jahren gleich mehrere Kundschafter in den Westen geschleust worden sind. Oder der Bericht von Dieter W. Feuerstein („Petermann“), der die nachrichtendienstliche Arbeit seines Vaters Gerhard („Donat“) fortsetzte.
Oftmals wenig beachtet, erinnern gleich mehrere Beiträge an die schon oben erwähnte „Aufklärung“ des DDR-Verteidigungsministeriums, die recht rührig war: Bald 20 Jahre war das Duo Egon Streffer und Dieter Popp („Asriel“ und „Aurikel“) aktiv, das von 1969 bis 1989 Unterlagen aus dem Planungsstab des bundesdeutschen Verteidigungsministeriums beschaffte. Schließlich der aus der DDR übergesiedelte Dieter Görsdorf, der aus dem Marinebereich Informationen zu beschaffen hatte und nach siebenjährigem Einsatz 1974 enttarnt worden ist.
Freilich hat dieses Buch die Funktion, die nachrichtendienstliche Arbeit der DDR zu legitimieren. Nicht wenige der Autoren machen sicher zu Recht politische Motive für ihr jahrelanges Doppelleben geltend. Meist wirkt dies etwas schrill. Selten nur schimmert das Wahre im falschen Leben durch. Etwa, wenn Peter Wolter („Pirol“) an die „menschlichen Verluste“ erinnert, von den psychischen Spuren spricht, wenn er sein wahres Gesicht verbergen musste. Klaus von Raussendorff („Brede“), ehemals Botschaftsrat, fragt: „Würde ich je wirklich Freunde haben? Würde ich eine Frau finden? Erwartete mich nicht ein Leben in Isolierung und innerster Einsamkeit?“ (S. 76). Hinzu kam die permanente Furcht, „aufzuplatzen“, also enttarnt und verhaftet zu werden, das sich stete Kontrollieren. Mehr noch die Strapazen der Tätigkeit selbst – Informationen entwenden, fotografieren, verstecken, bisweilen funken. Mitunter das Leiden darunter, ausgerechnet eine politische Einstellung zu leben, die manch einer der Spione ablehnt. Einflussagent in gegnerischen Angelegenheiten, also, um im Bild zu bleiben, „aberwitzige Kriegsabenteuer“ zu forcieren. Das triste Leben in falscher Haut.
Dieses „Innerste“ erreichen nur wenige Beiträge. Durchgehend wird absolut gesetzt, und das muss wohl so sein, dass all diese Opfer nützlich waren, Informationen den „Frieden sicherten“. Woher stammt dieser Optimismus, wonach dieses Wissen wirklich jene erreichte, die es umsetzen konnten? Keiner erwähnt auch nur, dass Agentendasein auch eine Art zweites Leben war, in das geflüchtet werden konnte, wenn das wirkliche Leben grau war. Das stete Trauma der Inhaftierung ließ Haft dann als besonders tiefen Einschnitt erscheinen. Die meisten Autoren beschrieben ihr Gerichtsverfahren und ihre Haft beim „Klassenfeind“ als fair, andere, wie Gabriele Gast, erlebten sie als Isolationshaft. Sie alle waren sich ihrer strafbaren Handlungen bewusst, doch keiner erhellt dies in seinem Beitrag. Mehr noch hatte alle Konspiration darauf gezielt, nicht enttarnt zu werden.
Wer das Buch „Top-Spione im Westen“ auch zwischen den Zeilen liest, erkennt, dass hier Leben für eine Sache verbraucht wurde, für die es sich wirklich nicht gelohnt hat. Sie ist untergegangen. Geblieben sind neben oftmals gescheiterten Lebensentwürfen eben Stilblüten wie die von den vereitelten aberwitzigen Kriegsabenteuern - etwa durch Klaus Kuron, der die Quellen des Bundesamtes für Verfassungsschutz in der DDR verraten hat. Das mit Kriegsabenteuern zu verbinden, ist aber witzig.