Robert Michels, einer der „Klassiker“ der Soziologie, dessen Hauptwerk, die „Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie“, bis heute überraschend stichhaltige Einsichten bereithält, gilt aufgrund seines späteren Bekenntnisses zum italienischen Faschismus weithin als kompromittiert. Dies leistet der Versuchung Vorschub, Michels' gesamtes Oevre unter Faschismusverdacht zu stellen und seine Lebensgeschichte quasi vom Ende her zu erzählen. Mit seiner großangelegten Studie zu Leben und Werk von Robert Michels warnt Timm Genett vor allzu kurzschlüssigen Deutungen, die Michels' politische Entwicklung vom Syndikalisten Sorelscher Prägung zum präfaschistischen Theoretiker und Parteigänger Mussolinis mit einer Folgerichtigkeit belegen, die ihr tatsächlich nicht zukam. Derartige Legenden – Genett spricht auch von „Einbahnstraßentheorien“ – würden Michels nicht gerecht. Gerade dem „Diskontinuierlichen“ des Michelsschen Lebensweges gilt daher sein Interesse, und so zeichnet er in seiner nicht nur gründlichen, sondern auch elegant komponierten und gut geschriebenen Studie ein oft überraschend orientierungsloses Intellektuellenleben vor europäischer Krisenkulisse überzeugend nach.
Gerade der junge Michels wies, wenn man Genett folgt, alle Züge eines „radikalliberalen Intellektuellen“ auf. 1876 in Köln geboren, trat er um die Jahrhundertwende der SPD bei, die er als Erbin des liberalen Gedankens, als Emanzipationsbewegung und Modernisierungsmotor empfand. Bei alledem leitete ihn die „Überzeugung von der besonderen Rolle des bürgerlichen Intellektuellen bei der Formierung progressiver Denkanstöße und Bewegungen in der Gesellschaft“ (S. 144) und wollte er als Erzieher und Aufklärer, als Lehrer der Massen wirken. Sein Parteibeitritt bedeutete einen totalen Bruch mit seinem großbürgerlichen Elternhaus und – wie sich zeigen sollte – die Verunmöglichung einer akademischen Karriere zumindest in Deutschland. Mit seinem Konzept intellektueller Führerschaft musste Michels in der SPD jedoch scheitern. Zwar stand er auf dem Dresdner Parteitag von 1903 noch fest zu August Bebels und Karl Kautskys „antirevisionistischem“ Kurs. Doch gerade die danach verstärkt zu verzeichnende „Intellektuellenfeindschaft“ schreckte ihn ab. Michels war – wie Genett zeigt – im Grunde Pluralist, der es mit seinem Konzept innerparteilicher Demokratie und Meinungsfreiheit ernst meinte, der weder „radikale“ noch „reformistische“ Konzepte per se abtun, sondern sie als komplementäre Waffen im Kampf gegen Militarismus und monarchische Autokratie schärfen wollte. Was ihn von den Syndikalisten trennte, war seine prinzipielle Ablehnung revolutionärer Gewalt – schon allein deshalb ist eine direkte Ableitung seines späteren faschistischen Engagements aus der Sorelschen Gedankenwelt problematisch.
Aber nicht nur revolutionäre, auch militärische Gewalt fand in Michels einen überzeugten Gegner, und so wurde gerade der Antimilitarismus zum Movens seiner Entfremdung von der SPD. Seit den Reichstagswahlen von 1907 sah er die Partei endgültig auf dem Weg in eine nationalistisch verblendete Partnerschaft mit dem kaiserlichen Reich, dessen kriegerischen Ambitionen – so sah er voraus – sich die SPD nicht widersetzen werde. Die Bedrohung des Friedens ging für Michels eindeutig von Deutschland aus, und so forderte er 1907 sogar „die Vereinigung aller freiheitlichen Kräfte in Europa gegen Deutschland“ (S. 380). Das sorgte auch unter Sozialdemokraten für Empörung, und so isolierte sich der „bekannte Wirrkopf Robert Michels“ – mit solchen und ähnlichen Etiketten wurde er in der Partei- und Gewerkschaftspresse bedacht – mit seinem internationalistisch-pazifistischen Engagement in einer zunehmend pragmatisch, auch patriotisch ausgerichteten SPD. Tief enttäuscht trennte er sich von jener Partei, die die von ihm postulierte Lebenskraft, Diskurs und Dynamik, zugunsten eines trägen Organisationsfetischismus und jede Glaubwürdigkeit in Fragen der internationalen Friedenssicherung im Zeichen eines verlogenen „Sozialpatriotismus“ eingebüßt hätte. Hier hatte er die Wirkmuster jener „oligarchischen Tendenzen“ erkannt, denen er in der Folgezeit – mittlerweile Privatdozent in Turin – sein Hauptwerk widmen sollte.
Als Parteiensoziologe betrieb Michels – mit unerbittlicher Nüchternheit – eine Art Vivisektion der Demokratie, indem er vor jeder Teleologie und verklärenden Romantik warnte: Demokratie sei eben der Kampf der Interessen und damit zwangsläufig die Herrschaft der Interessengruppen, deren oligarchisch strukturierte Führungscliquen im ewigen Kampf unter- und gegeneinander kein anderes Ziel als Machterhalt und Machtgewinnung verfolgten. In dieser Perspektive schreckte er auch vor der Demontage aufklärerischer Wertbestände nicht zurück, wenn er jede ethische Norm als beliebiges „Kampfesmittel“ der politischen Parteien entlarvte, die sich in zunehmendem Maße nicht mehr als bloße Interessenvertreter verständen, sondern als Sachwalter universaler Werte aufspielten. Dass ihm hierbei der weithin vergessene Soziologe Ludwig Gumplowicz weitaus mehr zur Seite stand als der sonst immer angeführte Sorel, wird von Genett plausibel herausgearbeitet. Was bedauerlicherweise etwas zu kurz kommt, ist der ganze Komplex der nach dem Dresdner Parteitag statuierten Parteiordnungs- und Parteiausschlussverfahren gegen andere intellektuelle Außenseiter in der SPD, die, wie Genett zwar betont, in seiner Parteiensoziologie „eine prominente Rolle“ (S. 507) gespielt, die aber gerade deshalb eine eingehendere Betrachtung verdient hätten.1
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs war für den Herzensitaliener Michels, seit 1913 Professor in Basel, ein „traumatisches Erlebnis [...], auf das er aus einer europäischen und geradezu pazifistischen Haltung mit tiefer Abscheu“ (S. 597) reagierte. Noch im September 1914 trat er mit dem Plan einer kontinentaleuropäischen Verständigung im Rahmen einer Zollunion hervor, bei dem er sich auf die Konzepte Richard Calwers, eines anderen sozialdemokratischen Renegaten, stützte. Mit dem Eintritt Italiens in den Krieg schlug im Mai 1915 jedoch auch für Michels die Stunde der Entscheidung: Fortan betätigte er sich als moderater Propagandist der italienischen Kriegsziele und galt in Deutschland als „Verräter“: „Sie aber sind Ihrem Heimatland in der Zeit schwerster Todesnot in den Rücken gefallen“, schrieb ihm sein langjähriger Freund und Förderer Max Weber 1915: „Anders kann kein Deutscher Ihr Verhalten auffassen“ (S. 641). In der Schweiz trat Michels in Kontakt mit pazifistischen Emigrantenzirkeln, vor allem mit Friedrich Wilhelm Foerster und Wilhelm Muehlon, sowie mit Wilsons Sonderbotschafter George Davis Herron. Auch zu Eduard Bernstein und Kurt Eisner, den er als Fackelträger der Wahrheit in einem auch nach 1918 von den „Mächten der Dunkelheit“ beherrschten Lande pries, sind enge Verbindungen belegt.
Nach Kriegende, schreibt Genett, würde man Michels weiterhin „problemlos dem politischen Liberalismus mit sozialpolitischer Orientierung zuordnen können“ (S. 672). Noch im April 1921 entdeckte er in der faschistischen Bewegung ein „Element der Unordnung und Indisziplin“ (S. 737), einen revolutionären Störfaktor, den er seit dem Regierungsantritt Mussolinis jedoch einem Prozess der Zähmung und Mäßigung unterworfen sah. Damit steht Michels „exemplarisch für die Faszinationskraft des Faschismus angesichts der Krise der parlamentarischen Institutionen“ (S. 732), der etwa auch Theodor Wolff und Emil Ludwig, liberale Demokraten, oder der Pazifist Friedrich Wilhelm Foerster erlegen sind. Bei alledem weist Genett die Mär von Michels' frühem Parteibeitritt in das Reich der – auch von ihm selbst gestrickten – Legenden. Tatsächlich ist er erst 1928 – mit dem Antritt seiner Professur in Perugia – dem Partito Nazionale Fascista beigetreten. Ein „Faschist der ersten Stunde“, zu dem er sich in seinen späteren Schriften stilisierte, ist Michels also nie gewesen. Auch hat er in Italien keineswegs jenen Einfluss erlangt, der ihm verschiedentlich attestiert wird. Und insbesondere seine Warnungen vor einem Bündnis mit dem nationalsozialistischen Deutschland, vor Hitlers Antisemitismus zeigen ihn als einen weiterhin wachsamen Intellektuellen, der seiner Begeisterung für die faschistischen Modernisierungsleistungen viele, aber eben nicht alle liberalen Grundüberzeugungen opferte.
Mag man die Gründe für Michels' Apologie der faschistischen Eliteherrschaft auch in seiner Demokratiekritik von 1911 verorten wollen – als einen „schwärmerischen Revolutionär“, den ein gerader Weg vom revolutionären Syndikalismus zum Faschismus geführt habe, wird man ihn nach Genetts kenntnisreicher Studie kaum mehr deuten können.2 Sein Ziel, die These einer „faschistischen Präfiguration“ von Michels' Werk zu widerlegen, hat Gennett somit erreicht und einen fesselnd zu lesenden Beitrag zur Politik- und Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts vorgelegt. Auf kleinere Fehler sei an dieser Stelle nur hingewiesen: So sagte am 9. Mai 1915 nicht Reichskanzler von Bülow, sondern Reichskanzler von Bethmann Hollweg den Italienern Tirol als Kriegsbeute zu; Eduard David ist niemals Staatssekretär, sondern Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt gewesen.
Anmerkungen:
1 Vgl. hierzu: Max Bloch, Die Sozialistischen Monatshefte und die Akademikerdebatte in der deutschen Sozialdemokratie vor 1914: Die „Fälle“ Göhre, Schippel, Calwer und Hildebrand, in: Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen 40 (2008), S. 7-22.
2 So etwa: Andreas Burtscheidt, Mehr Bewunderung als Kritik? Mussolini und das faschistische Italien in der Analyse von Robert Michels und Edmund Raitz von Frentz, in: Erik Gieseking (Hrsg.), Zum Ideologieproblem in der Geschichte. Herbert Hömig zum 65. Geburtstag, Lauf an der Pegnitz 2006, S. 413.