H. Schreyer: Das staatliche Archivwesen der DDR

Cover
Titel
Das staatliche Archivwesen der DDR. Ein Überblick


Autor(en)
Schreyer, Hermann
Reihe
Schriften des Bundesarchivs 70
Erschienen
Düsseldorf 2008: Droste Verlag
Anzahl Seiten
XII, 308 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anke Löbnitz, Bundesarchiv, Koblenz

Nachdem in den letzten Jahren Untersuchungen zum deutschen Archivwesen im Nationalsozialismus erschienen sind,1 hat sich Hermann Schreyer der wenig erforschten deutschen Archivgeschichte nach 19452 zugewandt und eine erste Überblicksdarstellung zum staatlichen Archivwesen der DDR für die Zeit 1945 bis 1990 vorgelegt – ein Buch, das für die bundesdeutsche Archivgeschichte noch geschrieben werden muss. Der Band weist die Instrumentalisierung des staatlichen Archivwesens für politische und behördliche Zwecke auf Kosten der eigentlichen Facharbeit nach und zeigt deren personelle, organisatorische und aufgabenbezogene Auswirkungen.

In fünf chronologisch angelegten Kapiteln werden entlang den Phasen der politischen Entwicklung der DDR archivpolitische Rahmenbedingungen und archivische Arbeitsschwerpunkte dargestellt sowie die deutsch-deutschen Archivbeziehungen angerissen. Im Mittelpunkt steht die Entwicklung archivischer Institutionen: die zum Ministerium des Innern gehörende Staatliche Archivverwaltung der DDR und „die ihr unterstellten großen Staatsarchive“ (S. 2) – Deutsches Zentralarchiv bzw. ab 1974 Zentrales Staatsarchiv der DDR sowie die Staatsarchive der Länder bzw. der 1952 gegründeten Bezirke. Deutlich knapper werden die nicht zum Verantwortungsbereich der Staatlichen Archivverwaltung zählenden Archivsparten abgehandelt, wie z.B. SED-Archive oder bei einigen Behörden eingerichteten Sonder- bzw. Endarchive. Das Parteiwesen der Blockparteien und Massenorganisationen bleibt unberücksichtigt.

Besondere Aufmerksamkeit widmet die Abhandlung personellen Fragen. Während in der „'bürgerliche[n] Phase'“ (S. 7) 1945-1957 die Leitungsebene des Staatlichen Archivwesens von der personellen Kontinuität in der NS-Zeit tätiger Archivare geprägt war – was Schreyer nicht hinterfragt –, wurde sie bald darauf zum Auffangbecken abservierter DDR-Funktionäre. Spätestens mit dem Einsatz des ehemaligen SED-Kaderchefs Karl Schirdewan als Leiter der Staatlichen Archivverwaltung im Jahr 1958 begann der kontinuierliche Umbau zu einem sozialistischen Archivwesen. Eine Folge war, dass ausgebildete Fachkräfte wegen mangelnder Systemkonformität schikaniert, aus Führungspositionen heraus gedrängt und durch politisch opportune, allerdings fachfremde Mitarbeiter ersetzt wurden. Etliche renommierte Archivare übersiedelten deshalb in die Bundesrepublik Deutschland.

Auf der Arbeitsebene schlug sich die sozialistische Umgestaltung in den 1960er-Jahren in der Einstellung so genannter „Forschungsbeauftragter“ in den Staatsarchiven nieder. Sie erhielten von dem vom MfS kontrollierten Dokumentationszentrum – dessen Geschichte im Band nachgezeichnet wird – politisch-propagandistische Arbeitsaufträge, z.B. belastende Unterlagen aus der Zeit 1933-1945 zu bekannten, in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Personen zu recherchieren. In den 1970er-Jahren kam es dann im Zuge eines gesteigerten Sicherheitswahns zur Etablierung von für den Geheimnisschutz verantwortlichen „Sicherheitsbeauftragten“. Deren Posten erhielten Offiziere und Unteroffiziere aus Armee und Grenztruppen, wodurch die Zahl der Mitarbeiter ohne Fachausbildung weiter anstieg. Zur gleichen Zeit wurde die Organisationsstruktur in den Staatsarchiven geändert: Man bildete für „Erschließung“ und „Auswertung“ getrennte Abteilungen, um letztere mit politisch zuverlässigen Mitarbeitern zu besetzen. Diese Entscheidung war archivfachlich fatal, verloren doch die „Erschließer“ den Benutzerkontakt und den „Auswertern“ fehlte die hinreichende Kenntnis der Bestände (S. 185).

Diese Maßnahmen trugen erheblich zum Politisierungsschub in den Staatsarchiven und zur Stärkung des SED-Einflusses bei. Sie brachten eine Verschiebung der Aufgaben weg vom klassischen Kerngeschäft der Ordnung und Verzeichnung hin zu einer politisch motivierten Auswertungstätigkeit. Mit der Einsetzung von Roland Leipold, „Offizier im besonderen Einsatz“ des MfS, im Jahr 1983 als Leiter der Staatlichen Archivverwaltung geriet das staatliche Archivwesen immer stärker unter die Kontrolle der Staatssicherheit, was die Wahrnehmung der eigentlichen Fachaufgaben zusätzlich erschwerte.

Von Beginn an sorgte die Beauftragung mit politischen Sonderaufgaben für einen Anstieg der ohnehin hohen Arbeitsbelastung in den staatlichen Archiven. Zu den Sonderaufgaben gehörten die Erarbeitung von Spezialinventaren zur Geschichte der Arbeiterbewegung in den 1950er-Jahren, Zuarbeiten für das Dokumentationszentrum seit den 1960er-Jahren und die Erfassung von Materialien zu Personen des antifaschistischen Widerstandskampfes in den 1980er-Jahren. Zugleich wurde die konstant mangelhafte Ausstattung in den Staatsarchiven nie wirklich behoben. Obwohl für eine Reihe von ihnen spätestens in den 1980er-Jahren konkrete Planungen einsetzten, um sachgerechte Lösungen für die zum Teil katastrophalen Lagerungsbedingungen von Archivgut zu schaffen, wurde – mit Ausnahme eines einzigen Baus Mitte der 1950er-Jahre – für kein Staatsarchiv ein Neu- oder Erweiterungszweckbau errichtet.

Gerade vor diesem Hintergrund lobt Schreyer die „Wiederaufbauleistung“ der DDR-Archivare in den 1950er-Jahren. Dazu zählen die aufwendige Erfassung und Integration kriegsbedingt verlagerten und von der UdSSR zurückgegebenen Archivguts, die Erstellung von Beständeübersichten, die Übernahme von Unterlagen der NS-Behörden sowie der in der Frühzeit der DDR aufgelösten Institutionen. Anerkennende Worte findet der Autor auch für die seit den 1960er-Jahren betriebenen archivfachlichen Forschungen, auf deren Einzelergebnisse, wie die Ordnungs- und Verzeichnungsgrundsätze oder das Lexikon des Archivwesens, er gesondert eingeht.

Die politische Instrumentalisierung des staatlichen Archivwesens zieht sich durch die gesamte Geschichte. Den Verstoß gegen anerkannte archivische Arbeitsprinzipien nahmen die Verantwortlichen dabei in Kauf. Beständeübersichten verschwiegen Archivgut, dessen Existenz für öffentliche – insbesondere westdeutsche – Benutzer nicht bekannt werden sollte; wertvolle Originale wurden ins Ausland verschenkt. Besonders gravierend war die Missachtung der festgelegten Zuständigkeit der Staatsarchive für staatliche Bestände. MfS und SED unterhielten eigene historische Archive mit staatlichen Unterlagen aus der Zeit vor 1945. Dadurch wurden Bestände zersplittert, blieben öffentlich unbekannt und wurden – wie im Fall des für politisch-operative Zwecke genutzten NS-Archivs des MfS – unter Missachtung des Provenienzprinzips völlig neu strukturiert und aus ihrem ursprünglichen Entstehungszusammenhang gerissen. Durch die Archivverordnung von 1965 sanktioniert, richteten etliche DDR-Stellen (z.B. die Ministerien des Innern, für Auswärtige Angelegenheiten und für Staatssicherheit) Endarchive ein. Das dort verwahrte Registraturgut wurde bis zum Ende der DDR nicht an das zuständige Staatsarchiv abgegeben, wodurch der Staatliche Archivfonds weiter geschmälert wurde. In den Behörden wurden zudem für Verschlusssachen Archive eingerichtet, deren Unterlagen größtenteils eigenmächtig vernichtet wurden. In dieser Entwicklung liegen wichtige Ursachen dafür, dass ältere Bestände in ihrer Überlieferung gestört sind und Bestände von DDR-Stellen große Lücken aufweisen. Das behindert die aktuelle Forschung.

Schreyers akribisch recherchierte Darstellung auf sprachlich hohem Niveau zeichnet sich für die zentrale Ebene des staatlichen Archivwesens durch die Einbeziehung umfassender DDR-Quellen aus dem Bundesarchiv und der BStU aus. Er hat sich die Mühe gemacht, eine Vielzahl zeitgenössischer archivfachlicher Veröffentlichungen auszuwerten, aktuelle Forschungen zur Archivgeschichte zusammenzuführen und Zeitzeugen zu interviewen – letzteres leider ohne den üblichen Nachweis im Quellenverzeichnis. Den Charakter eines Nachschlagewerkes unterstreicht der Band durch Kurzzusammenfassungen pro Kapitel sowie Registern zu Personen und Archiven, archivischen Einrichtungen und Strukturen.

Etwas problematisch ist die häufige Vermischung zwischen Darstellung und Wertung, was daran liegt, dass Schreyer, der von 1958-1990 selbst als wissenschaftlicher Archivar im Zentralen Staatsarchiv der DDR tätig war, als Betroffener eine sehr persönliche Beziehung zu seinem Forschungsgegenstand hat. Die eher unterschwellige These von den nicht mit Sonderaufgaben betrauten „wirklichen“ Archivaren als mehrheitlich politisch unangepassten, von der Staatssicherheit observierten, im DDR-Nischendasein agierenden Akteuren, sollte von biographischen Forschungen kritisch überprüft werden.

Die Lesbarkeit wird etwas geschmälert durch einige inhaltliche Redundanzen und die etwas dröge Charakterisierung von Archiven, Archivbeständen, Fachveranstaltungen und Publikationen. Ein weniger chronologisch und dafür stärker systematisierender Ansatz hätte dies verhindern können. Dieses für einzelne Aspekte des Archivwesens der DDR zu leisten, bleibt künftigen Forschungen vorbehalten. Interessant wäre es, die Auswirkungen politischer und ideologischer Vorgaben auf die Wahrnehmung der Fachaufgaben, wie Bewertung, Erschließung und Benutzung, unter die Lupe zunehmen.3 Dafür bietet der Band in jedem Fall eine gute Grundlage.

Anmerkungen:
1 Einen guten Überblick bietet der Sammelband: Das deutsche Archivwesen und der Nationalsozialismus. 75. Deutscher Archivtag 2005 in Stuttgart (= Tagungsdokumentationen zum Deutschen Archivtag, 19), Essen 2007. Unter den neuesten Veröffentlichungen ist insbesondere zu nennen: Stefan Lehr, Ein fast vergessener „Osteinsatz“. Deutsche Archivare im Generalgouvernement und im Reichskommissariat Ukraine (Schriften des Bundesarchivs, 68), Düsseldorf 2007.
2 Ausnahmen sind für die bundesdeutsche Archivgeschichte: Astrid M. Eckert, Kampf um die Akten. Die Westalliierten und die Rückgabe von deutschem Archivgut nach dem Zweiten Weltkrieg (= Transatlantische Historische Studien, 20), Stuttgart 2004 und zur DDR-Archivgeschichte: Simone Walther, Zum Umgang mit der NS-Vergangenheit beim personellen Neubeginn im zentralen Archivwesen der SBZ/DDR 1945-1952. Versuch einer Bestandsaufnahme, in: Friedrich Beck u.a. (Hrsg.), Archive und Gedächtnis. Festschrift für Botho Brachmann (= Schriftenreihe des Wilhelm-Fraenger-Instituts Potsdam, 8), Potsdam 2005, S. 217-236.
3 Einen Ansatz dazu bietet: Andreas Hanslok, Museologie und Archivwissenschaft in der DDR. Abgrenzung und Annäherung zweier Nachbarwissenschaften, Marburg 2008.

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