Die Erinnerungsgeschichte des Holocaust ist seit langem ein etabliertes Forschungsfeld. Die dabei entstandenen Studien griffen naturgemäß auf jeweils unterschiedliche Quellenbasen zurück. Dabei fehlte es aus fachwissenschaftlicher Sicht nicht an kritischen Einschätzungen, insbesondere was die Repräsentationen des Themas im Fernsehen angeht. Kaum einmal wurden die Quellen allerdings im Hinblick auf ihre spezifische Medialität analysiert.1 Man muss nicht gleich mit Marshall McLuhan das Medium selbst für die „message“ halten, um zu konzedieren, dass im Fernsehen die Beschäftigung mit der Judenvernichtung anderen Gesetzen folgt (und wohl auch folgen muss) als in einer Feuilletondebatte. Deshalb ist es begrüßenswert, dass sich dem Thema nun eine dezidiert kommunikationswissenschaftliche Arbeit widmet.
In ihrer an der FU Berlin entstandenen Dissertation konzentriert sich Dörte Hein auf das virtuelle Erinnern im Internet und untersucht Websites zu Nationalsozialismus und Holocaust. Besonders interessiert sie, ob sich mit der Etablierung dieses neuen Mediums „neue Repräsentationsformen und Problemlagen bei der Beschäftigung mit dem Thema abzeichnen“ (S. 16). Zugleich gilt ihr die Untersuchung als Lackmustest für das Internet als Ganzes: eignet es sich als „Medium der Erinnerung“ oder führt es im Gegenteil zu einer „Zerstörung von historischem Gedächtnis“ (S. 19)? Dem geht Hein in zwei großen, nur lose miteinander verbundenen Abschnitten ihrer Untersuchung nach. In einem ersten, eher theoretischen Teil werden die Besonderheiten der computervermittelten Kommunikation im WWW herausgearbeitet und verschiedene kulturwissenschaftliche Gedächtniskonzeptionen von Halbwachs bis zu Aleida und Jan Assmann referiert. Daran anschließend gewinnt Hein in enger Anlehnung an Überlegungen von Astrid Erll die Einsicht, dass auch das Internet als „Gedächtnismedium“ in kommunikative Prozesse eingebunden ist und somit nicht nur die dortigen Repräsentationen der Erinnerung, also die konkreten Websites, sondern gleichberechtigt damit ebenso Anbieter wie Nutzer dieser Angebote zu untersuchen sind.
Dies geschieht nach einer ausführlichen Darstellung des konkreten empirischen Untersuchungsdesigns und der verwendeten sozialwissenschaftlichen Methoden in einem sich anschließenden recht kurzen, aber wesentlich ertragreicheren zweiten Teil am Beispiel von zwölf deutschsprachigen Websites. Diese werden kurz vorgestellt, funktional und inhaltsanalytisch untersucht, ihre Anbieter in qualitativen Interviews und ihre Nutzer in einer Online-Umfrage befragt. Aus der Verbindung der drei Untersuchungsebenen ergeben sich klare Befunde, die insgesamt eindeutig dagegen sprechen, dass sich die Erinnerung an den Holocaust mit dem Medium Internet wesentlich verändern und eine neue Qualität gewinnen würde. Zwar ist zunächst von einer großen Heterogenität und Vielfalt auszugehen. Das betrifft sowohl die Inhalte und Funktionen der Websites wie auch die Anbieter. Neben anerkannten Akteuren der öffentlichen Gedenkkultur wie Gedenkstätten und Institutionen der historisch-politischen Bildung finden sich auch private Betreiber von Webseiten zum Thema Holocaust und Nationalsozialismus, die keinerlei institutionelle Anbindung haben und auch keine einschlägige Qualifikation, wie etwa ein Geschichtsstudium, aufweisen. Auch die Inhalte sind recht heterogen. Unterscheiden lassen sich laut Hein Websites mit informativem Charakter, die sich um die Vermittlung historischen Wissens bemühen. Dagegen grenzt sie serviceorientierte Websites ab, bei denen der gegenwärtige Umgang mit dem Holocaust in der historisch-politischen Bildungsarbeit im Vordergrund steht und die etwa Lehrern Material anbieten, auf Projekte hinweisen usw. Den dritten Typ schließlich, der meist an einen konkreten Ort wie eine Gedenkstätte angebunden ist, beschreibt Hein als Mischform aus Service und Selbstdarstellung.
Bei allen Unterschieden stellt sie aber auch viele Gemeinsamkeiten fest, die darauf hindeuten, dass sich in den Weiten des Netzes eben kein erinnerungskultureller Sonderraum mit eigenen Regeln des Diskurses gebildet hat, sondern die virtuelle Welt in diesem Bereich eng an die reale angekoppelt ist. Das wird schon in der Gestaltung deutlich. Auf den Websites wird von den multimedialen Möglichkeiten des Internets kaum Gebrauch gemacht. Die Vermittlung von historischen Hintergrundinformationen in Form von Bildern und vor allem von Texten dominiert. Die Möglichkeiten zur Partizipation sind für die Nutzer – mit wenigen Ausnahmen – sehr gering und werden, so vorhanden, kaum genutzt. Die dementsprechende Zurückhaltung und die inhaltliche Schwerpunktsetzung ist auch kaum verwunderlich, sehen doch sowohl die Anbieter als auch die Nutzer den Hauptzweck der Websites in der Information. Das Internet wird häufig komplementär zu anderen Informationsmöglichkeiten genutzt, als größten Vorteil bezeichnen die Nutzer die Ortsunabhängigkeit.
Eine gewisse Sonderstellung kommt der Website <http://www.nationalsozialismus.de> zu. Dieses Portal eines privaten Betreibers, im wesentlichen eine ohne sachlichen Ehrgeiz recht willkürlich zusammengestellte Sammlung von Materialien und Links, wird überproportional häufig von einer jugendlichen Nutzerschaft frequentiert, die überdurchschnittlich oft der Aussage „Ich finde die ständige öffentliche Diskussion über den Nationalsozialismus übertrieben“ zustimmt und für die das Internet einen „unverkrampfteren“ und „lockereren“ Umgang mit dem Holocaust pflegt als andere Medien.
Festzuhalten bleibt: In ihrer sorgfältigen Untersuchung hat Dörte Hein gezeigt, dass im World Wide Web Geschichte nicht anders „erinnert“ wird als in der realen Welt, jedenfalls nicht an den untersuchten Knotenpunkten. Offen bleibt, ob dieser Befund auch für die Orte des Web 2.0, wie etwa youtube.com gilt, die eben von vornherein Raum für Subjektivität und eigene Sinndeutung bieten und eine Loslösung von intersubjektiv abgesicherten historischen Rekonstruktionen viel eher ermöglichen. Jedenfalls scheint hier der Nationalsozialismus oft als „Rohstoff“ und Bezugspunkt für kreative (Selbst-)Inszenierungen und nachfolgende Diskussionen gerade einer jüngeren Nutzerschaft zu dienen. Aber dies wäre ein Thema für weitere Forschungen.
Anmerkung:
1 Eine markante Ausnahme: Habbo Knoch, Die Tat als Bild. Fotografien des deutschen Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001.