F. Bösch: Öffentliche Geheimnisse

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Title
Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Großbritannien 1880-1914


Author(s)
Bösch, Frank
Series
Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London Bd 65
Published
München 2009: Oldenbourg Verlag
Extent
540 S.
Price
€ 59,80
Reviewed for H-Soz-Kult by
Henning Holsten, Friedrich-Meinecke Institut, Freie Universität Berlin

„Leider gibt es über Skandale kaum Literatur, die nicht selbst skandalös wäre.“ Dieses Diktum Niklas Luhmanns stammt aus dem Jahre 1968, einer Zeit, in der Skandalprozesse noch vorwiegend ein Thema der Pitaval-Literatur waren.1 In der Wissenschaft ging man hingegen eher naserümpfend hinweg über die causes célèbres der Vergangenheit, mit ihren schlüpfrigen Details, unverständlichen Emotionsausbrüchen und überkommenen Moralvorstellungen. Seitdem sich die Gesellschaftswissenschaften von ihrem kulturkritischen Ballast befreit haben, hat das Thema hingegen Konjunktur bekommen. Soziologen und Politikwissenschaftler sehen im Skandal heute nicht mehr wertezersetzende Ausbrüche des Pöbelressentiments oder massenmediale Ablenkungsmanöver herrschender Eliten, sondern öffentliche Normkonflikte und politische Selbstreinigungsmechanismen, die zum Alltag der demokratischen Mediengesellschaft gehören wie Parlamentsdebatten und Politbarometer.2 Im Zuge des medial turns der Neuen Politikgeschichte hat sich schließlich auch die Historie des lang vernachlässigten Phänomens angenommen.3 Die vorliegende Arbeit von Frank Bösch, seit 2007 Inhaber der Professur für Fachjournalistik Geschichte in Gießen, liefert nun für die Zeit um 1900 ein erstes Resümee der noch jungen historischen Skandalforschung.

Die drei Jahrzehnte vor dem 1. Weltkrieg bieten besonders reiches Anschauungsmaterial für eine kulturgeschichtliche Untersuchung politischer Skandale und Affären. Die West End Scandals in London, der Fall Dreyfus in Frankreich und die Daily-Telegraph-Affäre Wilhelms II. sind noch heute vielen ein Begriff. Spektakuläre Prozesse wie die gegen Oscar Wilde und Philipp von Eulenburg wegen „Unzucht“ und „Perversität“ (gemeint war ihre homosexuelle Neigung) bildeten wochenlang das Stadtgespräch in ganz Europa. Die in dieser Zeit entstehende moderne Massenpresse schuf die Nachfrage für derartige Enthüllungsgeschichten, die in Spezialzeitschriften wie dem Leipziger „Pitaval der Gegenwart“ archiviert wurden. In Wien erschien sogar ein kleines Sensationsblatt mit dem Namen „Der Skandal“. Bekannter wurde ein lokales Konkurrenzunternehmen, Karl Kraus’ „Fackel“, die dem Vorbild der Berliner „Zukunft“ von Maximilian Harden folgte, der wiederum von Henri Rocheforts Pariser „Laterne“ inspiriert wurde; in der englischen Presse erreichte William T. Stead eine ähnliche Prominenz, während jenseits des Atlantiks Theodore Roosevelt das abschätzige Wort von den Muckrackers für diesen neuen Typus des Enthüllungsjournalisten prägte. Die „Skandalsucht“ der modernen Massenmedien war ein schon damals viel beklagtes internationales Phänomen.

Es ist deshalb zu begrüßen, dass Bösch seine Studie von vornherein thematisch sehr breit und transnational vergleichend angelegt hat. Untersucht werden insgesamt etwa 30 politische Skandale in Deutschland und Großbritannien im Zeitraum zwischen 1880 und 1914. Hinzu kommen noch einmal zwei Dutzend weitere Affären, die zur weiteren Kontextualisierung der repräsentativen Beispielfälle herangezogen werden. Obwohl die Arbeit damit fast schon den Charakter eines Kompendiums erhält, bietet Bösch weitaus mehr als nur einen politischen Pitaval des fin de siècle. Es geht ihm mit seinem konsequent systematisch-vergleichenden Zugriff vielmehr darum, strukturelle Gemeinsamkeiten, Entwicklungen und nationale Besonderheiten der jeweiligen Skandalkultur herauszuarbeiten. Ausgehend von einem weiten Begriff von Öffentlichkeit zieht er dafür ein beeindruckend vielschichtiges Quellenmaterial heran: von den Archivunterlagen der am Skandal beteiligten Personen und Institutionen, Parlaments- und Gerichtsprotokollen über ein breites Spektrum von Zeitungen und Zeitschriften bis hin zu Polizeiberichten über die Kneipengespräche Hamburger Arbeiter. Dadurch gelingt es ihm, Grundmuster des Zusammenwirkens von Politik und Presse, Versammlungs- und Medienöffentlichkeit, Zeitung und Leserschaft im Skandal offenzulegen.

Dabei kommt Bösch zu manch unerwarteten Ergebnissen. So waren in fast allen Fällen auf journalistischer Seite keineswegs die viel gescholtenen Boulevardblätter die Initiatoren der „Politik der Sensationen“, sondern Qualitätszeitungen wie die Londoner „Times“ und das „Berliner Tageblatt“, oder radikale politische Zeitschriften wie Hardens „Zukunft“ und Henry Labouchères „Truth“. Doch auch diese berühmten Vorkämpfer des New Journalism agierten selten unabhängig von politischen Einflüssen und ermittelten die Beweise für ihre spektakulären Enthüllungen häufig erst im Verlaufe von Gerichtsprozessen. Es waren also weniger die neuen Techniken des investigativen Journalismus, die die Skandale hervorbrachten, vielmehr förderten erst die Skandalprozesse das Aufkommen eigenständiger journalistischer Recherchen. Eine bedeutende Rolle spielten deshalb die jeweiligen Rechtsordnungen und Justizapparate. So sorgte etwa das britische Scheidungsrecht, das eine formale Trennung nur bei nachgewiesener Untreue eines Ehepartners erlaubte, für die öffentliche Bloßstellung prominenter Politiker, die aufgrund eines Seitensprungs einen empfindlichen Karriereknick erlitten. In Deutschland hingegen spielten, auch wegen des liberaleren Scheidungsrechts, Ehebruchskandale kaum eine Rolle. In beiden Ländern nutzen hingegen Regierungen ihren Einfluss auf die Justiz, um peinliche Fehltritte von hohen Politikern oder Angehörigen des Herrscherhauses unter den Teppich zu kehren. Die Aufdeckung solcher Vertuschungsmanöver brachte allerdings oft erst eine Skandaldynamik in Gang, die auch von den Regierenden nicht mehr zu kontrollieren war.

Neben dem Gerichtssaal bildeten die Parlamente die zweite wichtige Bühne der Skandalinszenierungen. Erst das enge Zusammenspiel von Journalisten und Politikern (welche oft identisch waren) ermöglichte in vielen Fällen die Eskalation der öffentlichen Empörung, die hohe Beamte, Parteiführer oder Regierungsmitglieder zum Rücktritt zwangen. Treibende Kraft waren dabei häufig oppositionelle Minderheitsparteien wie die Iren und die Radicals in Großbritannien oder die Sozialdemokraten im Deutschen Reich. Ihnen boten die Skandale die Möglichkeit, trotz ihrer Ausgrenzung aus dem etablierten politischen Diskurs Themen zu setzen, Aufmerksamkeit auf Missstände zu lenken und mitunter sogar Personalwechsel und Reformen zu erzwingen. Dieser Befund relativiert zum einen das Selbstverständnis insbesondere der britischen Presse als von Parteien und Regierung unabhängiger „Vierter Gewalt“; zum anderen zeigt Bösch, dass Medienskandale den Handlungsspielraum des Parlamentes beträchtlich erweitern konnten, was beispielsweise die Stellung des verfassungsrechtlich relativ ohnmächtigen Reichstages gegenüber der Regierung deutlich aufwertet.

Skandale waren jedoch nicht nur Arenen politischer Machtkämpfe, sie waren auch Austragungsort gesellschaftlicher Normkonflikte. Bösch unterscheidet hier sechs thematische Bereiche, die anhand exemplarischer Skandalbeispiele kapitelweise untersucht werden: Homosexualität, Ehebruch, Kolonialverbrechen, Journalismus/Pressepolitik, Herrscherhäuser und Korruption. Skandale wirkten hier vielfach als Katalysatoren, die Veränderungen von Wertordnungen nicht nur anzeigten, sondern erst ermöglichten und vorantrieben. Indem sie verdrängte Probleme und Missstände aufdeckten und ihre öffentliche Diskussion erzwangen, stellten die Skandale herrschende Vorstellungen von der Moralität der gesellschaftlichen Ordnung in Frage, erweiterten die Grenzen des Sagbaren und beschleunigten damit vielfach den Wertewandel in der Übergangszeit zur Moderne. Dennoch wäre es verfehlt, die neuartige Skandalkultur der Jahrhundertwende pauschal als Motor gesellschaftlicher Liberalisierung und politischer Demokratisierung zu bezeichnen. So führten beispielsweise in beiden Ländern die durch eine Reihe prominenter Skandalfälle entfachten Debatten um die Homosexualität zwar zu einer Verbreiterung des kollektiven Wissens um das Phänomen der gleichgeschlechtlichen Liebe, in der Praxis jedoch zu einer Verschärfung bestehender Repressionen.

Weitgehende Gemeinsamkeiten sind auch allgemein das Ergebnis des transnationalen Vergleichs zwischen britischer und deutscher Skandalkultur. Zwar hinkte die deutsche Entwicklung der britischen aufgrund der restriktiveren Pressepolitik im Kaiserreich zumeist um 10 bis 20 Jahre hinterher – in den meisten Themenfeldern entwickelten sich im wilhelminischen Obrigkeitsstaat jedoch ähnliche Skandaldynamiken wie im liberalen Inselreich. Als Fazit hält Bösch deshalb fest, dass im Verhältnis von Staat und Öffentlichkeit der oft beschworene Gegensatz zwischen deutschem Untertanengeist und britischer Liberalität deutlich zu relativieren ist. Was die Transferprozesse zwischen beiden Ländern betrifft, so hatte Großbritannien allerdings in fast allen Bereichen eine Vorreiterrolle für die deutschen Skandale, auch wenn sich direkte Bezüge nur selten nachweisen lassen. Dies lag wohl auch daran, dass für beide Gesellschaften Frankreich als das „Mutterland des Skandals“ galt, gegenüber dem man sich politisch-kulturell abgrenzte. „Halsband-Affäre“ und „Panama-Skandal“ galten als Inbegriff politischer Intrige und Korruption, die als Menetekel für den drohenden Zusammenbruch der politischen und moralischen Ordnung im Skandal immer wieder beschworen wurden. Es ist insofern bedauerlich, dass Bösch auf die ursprünglich geplante Einbeziehung Frankreichs in die vergleichende Untersuchung aus (nachvollziehbaren) arbeitsökonomischen Gründen verzichtet hat.

Kritisch anzumerken wäre noch, dass Bösch die Intellektuellen als Akteure im Skandal – man denke nur an Émile Zolas berühmtes „J’accuse!“ – nicht explizit berücksichtigt. Auch werden Literatur und Theater als wichtige Medien der Austragung gesellschaftlicher Normkonflikte nicht herangezogen. Der Spezialist wird zudem einige Lücken in Böschs Skandalchronik bemerken (für Deutschland beispielsweise den „Fall Heinze“, die „Hibernia-Affäre“ oder den „Hauptmann von Köpenick“). Doch diese Auslassungen sprechen weniger gegen Böschs Arbeit, als für das weite Feld viel versprechender Folgestudien.

Mit den „Öffentlichen Geheimnissen“ liegt erstmals eine große Synthese der historischen Skandalforschung vor. In einer sehr klaren und präzisen Sprache veranschaulicht der Autor die Funktionsweisen, Verlaufsmuster und Auswirkungen politischer Skandale in einer Schlüsselperiode der Entstehung der modernen Massenkommunikationsgesellschaften. Auf einer beeindruckend breiten und vielschichtigen Quellenbasis wird eine Vielzahl von Beispielfällen vorgestellt und miteinander in Zusammenhang gebracht. Dabei werden einige Skandale sogar erstmals anhand kulturwissenschaftlicher Methoden näher untersucht. Dies gilt, zumindest was das deutsche Publikum betrifft, in erster Linie für viele hierzulande kaum oder gar nicht bekannte britische Fälle. Da der umgekehrte Fall auch für Großbritannien zu vermuten ist, wäre es im Interesse des transnationalen Wissenstransfers sehr zu begrüßen, wenn eine englische Übersetzung nicht all zu lange auf sich warten ließe.

Anmerkungen:
1 Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, Bd.1, Reinbek 1972, S. 62.
2 Siehe John B. Thompson, Political Scandal. Power and Visibility in the Media Age, Cambridge 2000 und Karl Otto Hondrich, Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals, Frankfurt am Main 2002.
3 Siehe Martin Kohlrausch, Der Monarch im Skandal. Die Logik der Massenmedien und die Transformation der wilhelminischen Monarchie, Berlin 2005 und Martin Sabrow (Hrsg.), Skandal und Diktatur. Formen öffentlicher Empörung im NS-Staat und in der DDR, Göttingen 2004.

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