Am Beispiel der Stadt Münster zeichnet Christoph Nübel nach, wie im Deutschland des Ersten Weltkrieges versucht wurde, aus der monarchisch grundierten Klassengesellschaft der Friedenszeit eine ‚nationale Kampfgemeinschaft’ zu schmieden, welche als „Heimatfront“ ihren Teil zum Sieg beizutragen imstande wäre. Während diese Thematik im Prinzip nicht neu ist, setzt Nübel zwei interessante Akzente: Zum einen versucht er, durch eine lokale Studie ein möglichst wirklichkeitsnahes Bild der damaligen „Kriegsgesellschaft“ zu zeichnen, anhand dessen auch einige reichsweite oder sogar transnationale Phänomene der Zeit besser erklärt werden können; zum anderen bedient er sich als theoretischer Basis Elementen der Diskurs- und der Systemtheorie. Es geht ihm darum zu zeigen, mit welchen kommunikativen Mitteln („Propaganda“) die städtischen Führungskreise daran gingen, die „Heimatfront“1 zu mobilisieren, und welche Art von „Gemeinschaft“ dabei, wenn überhaupt, entstand. Im Rahmen des zu Kriegsbeginn verkündeten „Burgfriedens“ sollten alle trennenden Faktoren im Innern suspendiert werden und die Nation sich im Kampf gegen die äußeren Feinde als handelnde Einheit empfinden und verhalten. Im Rückblick stellt sich hierbei jedoch die Frage, ob dieser Zustand der „Gemeinschaft“ im Sinne Ferdinand Tönnies’ nur für die Dauer des Krieges vorgesehen war oder ob er die Schaffung einer dauerhaft veränderten, egalitäreren Struktur der Nation mit sich bringen würde.
Es ist gut nachvollziehbar, dass Nübel als Leitbegriff seiner Betrachtung den „Einigkeitsdiskurs“ wählt, also den Ansatz, die innere Einheit der Nation im Angesicht der Feinde zu beschwören. Allerdings bestand hierbei seitens der im Kaiserreich sozial bevorteilten Kreise in der Frühphase des Krieges die Hoffnung, dies in rein appellativer Weise tun zu können, im Sinne einer gewissermaßen ständischen Gemeinschaft ohne echte Egalisierung. Nübel verfolgt in den weiteren Kapiteln, wie sich ideeller Anspruch und gesellschaftliche Wirklichkeit zueinander verhielten sowie welcher Entwicklung sie durch den sich immer länger hinziehenden Krieg unterlagen. Hier zeigt er vor allem, wie im Rahmen des Diskurses – entgegen den Intentionen der führenden Kreise – bis dato sozial periphere Gruppen wie die Arbeiterschaft durch ihre Kriegswichtigkeit (nicht zuletzt mithilfe der Militärbehörden) aufgewertet wurden und sich immer stärker artikulierten, beispielsweise in der Frage einer Reform des preußischen Wahlrechts. Auf der Ebene der behördlich gelenkten Organisation des öffentlichen Lebens zeigt Nübel die fortschreitende Erosion der Autorität der Behörden, die weder materiell noch organisatorisch auf einen langen Krieg vorbereitet waren und vor der Aufgabe versagten, die im „Einigkeitsdiskurs“ propagierte Einheit – und die damit in den Augen der unterprivilegierten Schichten implizierte Gleichheit – der Nation mit Leben zu erfüllen. Dies machte sich im von der britischen Blockade betroffenen Deutschland vor allem an der „Magenfrage“ (S. 156) fest, also der Nahrungsmittelversorgung, wo die in der Vorkriegszeit vorhandenen ungleichen Möglichkeiten der verschiedenen Klassen bestehen blieben, mit im Kriege allerdings gravierenden Folgen für die physische und moralische Integrität der Kriegsgesellschaft. Im Ergebnis unterminierten der Weltkrieg und die von ihm bewirkte ‚Zwangsmodernisierung’ die etablierte Gesellschaftsordnung des Kaiserreichs.
Vieles hiervon war schon allgemein bekannt, wird aber durch die quellengesättigte Darstellung Nübels auf der lokalen Ebene abgesichert und anschaulich vermittelt. Neben den zur Bereicherung des allgemeinen Wissens über den Weltkrieg geeigneten Ergebnissen treten zwei Punkte als für die Stadt Münster spezifisch hervor: Zum einen mussten die Honoratioren der überwiegend katholischen Hauptstadt der preußischen Provinz Westfalen im Rahmen des „Einigkeitsdiskurses“ wiederholt Spannungen mit der protestantischen Mehrheit im Reich kompensieren; dennoch kam es in der zweiten Kriegshälfte, angesichts wachsender sozialer Forderungen auch der katholischen Arbeiter, bei manchen der katholischen Führungspersonen zu einem zuvor kaum denkbaren Schulterschluss mit den protestantischen Konservativen. Zum anderen war Münster durch Beamte, Handwerker und andere überwiegend mittelständische Berufsgruppen geprägt, während die Arbeiterschaft (und mit ihr die SPD) relativ unbedeutend war; als Folge hiervon wirkte sich die mit Dauer des Krieges fortschreitende „Proletarisierung“ des Mittelstands samt ihren sozial destabilisierenden Folgen hier besonders markant aus. Durch diese Aspekte erscheint Nübels Arbeit als sinnvolle Ergänzung zu den Darstellungen der Situation größerer Städte wie etwa Berlins und anderer Hauptstädte.2
Für die Dokumentation kam Nübel die günstige Überlieferungssituation in Münster zugute, primär in Form der Akten des Stadtarchivs (inklusive mancher Akten des VII. stellvertretenden Generalkommandos), aber auch der lokalen Presse sowie weiterer Quellen wie etwa der Kriegschronik des Stadtarchivars oder der Lebenserinnerungen einiger Persönlichkeiten. Nübel gelingt eine balancierte Darstellung sowohl der kollektiven Prozesse innerhalb der Kriegsgesellschaft als auch, entsprechend der anfangs noch bestehenden Deutungshoheit der Ober- und Mittelschicht, einer Reihe von individuellen Interventionen, so etwa der Professoren der Westfälischen Wilhelms-Universität mit ihren Kriegsvorträgen, die sowohl der Mobilisierung der „Massen“ als auch der Sicherung der Führungsrolle der akademischen Eliten dienen sollten. Nübel hat die relevante Literatur nicht nur aus dem im engeren Sinne geschichtswissenschaftlichen Bereich herangezogen und gründlich verarbeitet, sondern auch aus einer Reihe von Nachbardisziplinen, darunter die als theoretische Basis dienenden Standardwerke der Diskurs- bzw. Systemtheorie.
Hier wäre auch einer der wenigen Kritikpunkte anzubringen: So sinnvoll sein Ansatz im Prinzip ist, so verweist Nübel im ersten Teil der Arbeit ein wenig zu oft auf die Autoritäten Bourdieu, Foucault oder Luhmann, wohl als Reverenz an die Volkskunde/Ethnologie, in deren disziplinärem Rahmen die Arbeit angesiedelt ist. Das Gleiche gilt für teilweise zu detaillierte Verweise in den Anmerkungen zu einzelnen Begriffen, die nicht immer extrem innovativ und erklärungsbedürftig sind. Insgesamt zeigen aber die vielfältigen Verweise in den Anmerkungen die multidisziplinäre Einbettung der Arbeit und erlauben das Weiterlesen in verschiedenen Richtungen.
Schließlich seien hier noch einige konkrete Anmerkungen gemacht:
1. Die mäßigenden Weisungen des preußischen Kriegsministers vom Juli 1914 bzgl. der Minderheitenpresse (S. 35f.) hatten nichts mit dem folgenden „Einigkeitsdiskurs“ zu tun, sondern dienten einzig der reibungslosen militärischen Mobilmachung. Nübel unterschätzt hier die ‚Polykratie’ der verschiedenen Mächte im Reich, darunter des autonomen und an „zivilen“ Fragen nur instrumentell interessierten Militärs.
2. Nübels Vermutung, dass bei den Kriegsvorträgen der akademische Rahmen und die professoralen Redner „die Zuhörerschaft von vornherein auf die oberen Schichten begrenzten“ (S. 57), ist nicht schlüssig; ihre Intention war es ja gerade, über diese Schichten hinauszuwirken, wie der Autor auf der nächsten Seite anhand der hohen Auflagen und geringen Preise der Druckfassungen selbst andeutet. Eher wäre die Frage zu stellen, ob die nichtprivilegierten Kreise die Zeit dazu hatten, sich diese Vorträge anzuhören.
3. Das Streben der Arbeiter nach „bürgerlicher“ Existenz (vgl. S. 66 und 93) war kein Novum, sondern war schon in den 1860er-Jahren der Ausgangspunkt der sozialdemokratischen Bewegung gewesen. Auch die Formulierung, „nationale Deutungsmuster [hätten] auch den Arbeitern nicht immer fern[gelegen]“ (S. 92), muss bezogen auf 1914 als eine überholte Sichtweise gelten; vielmehr hatte die in der SPD organisierte Arbeiterschaft eine alternative Nationsidee entwickelt, und selbst bei dieser ging es nicht primär um die Infragestellung der monarchischen Staatsform. Für die katholischen Arbeiter darf die Staatstreue, wie ja aus Nübels Arbeit selbst hervorgeht, erst recht angenommen werden.
4. Die Gegnerfigur auf dem Propagandaplakat von 1917 (S. 107) ist eindeutig John Bull als Symbol Englands.
Angesichts der in dieser Arbeit deutlich gewordenen Mängel der „Mobilisierung der Heimatfront“ sollte man aber nicht ins gegenteilige Extrem verfallen, nämlich anzunehmen, dass es in den Klassengesellschaften vor 1914 etwa keine Formen nationaler Gemeinschaft gegeben habe. Sie waren nur noch durch jene sozialen Konventionen gebunden, die dann im Weltkrieg und danach fortfielen.
Anmerkungen:
1 Gerd Krumeich, Kriegsfront – Heimatfront, in: Gerhard Hirschfeld u.a. (Hrsg.), Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkriegs. Essen 1997. S. 12–19.
2 Jay Winter / Jean-Louis Robert (Hrsg.), Capital Cities at War. Paris, London, Berlin 1914-1919. Volume 1: Cambridge 1997; Volume 2: A Cultural History, Cambridge 2007.