R. Rossfeld u.a. (Hrsg.): Schweizer Unternehmen im Ersten Weltkrieg

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Titel
Der vergessene Wirtschaftskrieg. Schweizer Unternehmen im Ersten Weltkrieg


Herausgeber
Rossfeld, Roman; Straumann, Tobias
Erschienen
Zürich 2008: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
548 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcel Boldorf, Vergleichende Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

In einer politikgeschichtlichen Betrachtungsweise wird der Erste Weltkrieg als tiefe Zäsur, ja als Zusammenbruch der westlichen Zivilisation wahrgenommen. Lenin hat als Zeitgenosse den Konflikt auch in wirtschaftlicher Hinsicht als Zusammenbruch gedeutet, eine Einschätzung, die in wirtschafts- und besonders in unternehmenshistorischer Perspektive grundlegend in Frage zu stellen ist. Hierbei genügt bereits ein Blick auf den Munitionskrieg, denn als wesentlicher Effekt des Stellungskrieges lässt sich festhalten, dass die Vorräte, z.B. an schweren Granaten, schon nach wenigen Wochen erschöpft waren. Zumindest für die rüstungsrelevanten Industrien ergaben sich daraus hervorragende Absatzmöglichkeiten. Inwiefern diese Einschätzung auch für andere Branchen zutraf, untersucht der vorliegende Sammelband am Beispiel der neutralen Schweiz.

Die einzelnen Beiträge folgen einem einheitlichen Schema, was für einen Sammelband besonders lobend herauszustellen ist. Sie betrachten alle zumindest das Jahrzehnt um die Kriegsperiode herum und betten die Unternehmensperformance dadurch in eine längere Perspektive ein. Jeder Beitrag liefert zudem in übersichtlichen Grafiken Basisdaten zu Gewinn, Umsatz und Absatz, sodass ein Vergleich leicht möglich ist. Auch weitere Gliederungsaspekte werden relativ einheitlich gehandhabt: Alle Texte stellen der eigentlichen Darstellung beispielsweise einen kurzen inhaltlichen Überblick voran. Der Band gliedert sich in fünf Abteilungen: a) Textil-, Maschinen- und Elektroindustrie, b) Uhren-, Metall- und Rüstungsindustrie, c) Chemische und Pharmaindustrie, d) Ernährungs- und Genussmittelindustrie und e) Banken und Versicherungen.

Die Studie zur Thalwiler Seidenfirma Schwarzenbach, geschrieben von Alexis Schwarzenbach, stellt heraus, dass der international agierende Betrieb starke Gewinne erwirtschaftete, was nicht zuletzt auf seine internationale Präsenz mit Produktionsstätten in Deutschland, Frankreich, Italien und den USA zurückzuführen war. Besonders das Amerikageschäft boomte, stoppte aber in der Nachkriegskrise, sodass die ausgebauten Produktionskapazitäten nicht mehr ausgelastet waren. Mit dieser Entwicklung steht der Betrieb stellvertretend für viele der behandelten Beispiele: Der kriegsbedingten Hochkonjunktur folgte ein relativer Fall in der Nachkriegsperiode. Dieses Muster wurde bereits 1928 von Traugott Geering, einem vormaligen Sekretär der Basler Handelskammer, allgemein für die Schweizer Wirtschaft der Kriegszeit herausgearbeitet.

Florian Adank stellt für die Sulzer Unternehmungen Winterthur, einen wichtigen Maschinenbauer, ebenfalls eine Internationalisierung heraus, die unter anderem auf dem Aufbau einer Rohstoffzulieferung aus den USA beruhte. Deutschland gegenüber ließ man eine gewisse politisch motivierte Vorsicht walten und erweiterte das Unternehmen unter Reinvestition der Kriegsgewinne 1918 um eine Fabrik in Frankreich. In die gleiche Richtung weist der Fall der Maschinenfabrik Oerlikon (Martin Pally), die stark an der Elektrifizierung der Schweizer Bahn partizipierte, die Nachkriegsrezession aber vor allem durch den starken Rekonstruktionsbedarf der nordfranzösischen und belgischen Bahn meisterte.

Hélène Pasquier konstatiert für den Uhrenhersteller Longines in den ersten Kriegsjahren einen Einbruch gegenüber der vorangehenden Phase einer beschleunigten Unternehmensexpansion. Andere Firmen dieser Sparte kompensierten den Einbruch durch den Umstieg auf Zünder für die Rüstungsproduktion. Aus Angst vor Reputationsverlusten verzichtete Longines darauf, sodass die Umsätze im Kerngeschäft erst wieder Mitte der 1920er-Jahre angenähert werden konnten.

Adrian Knoepfli untersucht das Schaffhausener Eisen- und Stahlwerk Georg Fischer, das auf dem Schweizer Markt eine Monopolstellung beim Absatz von Fittings und Stahlguss einnahm. Dank eines Zweigwerkes in Singen (Hohentwiel) verfügte man auch über eine gute Stellung auf dem deutschen Markt. Die Gewinne erreichten 1916 einen Höchststand, was während der Periode bis 1921 zu starken Investitionen, teils im Deutschen Reich, in Elektrostahlwerke führte. Auch die von Hanspeter Lussy untersuchten Moos’schen Eisenwerke in Luzern reinvestierten die Kriegsgewinne, sodass die Kriegsjahre bei gleichzeitiger Rationalisierung und personellen Wechseln in der Unternehmensleitung als Periode der Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit gelten können. Die Schweizer Industrie-Gesellschaft Neuhausen (Kanton Schaffhausen) kombinierte den angestammten Waggonbau mit der Waffenproduktion. Das Unternehmen meisterte die Kriegszeit nicht nur „problemlos“ (S. 217), wie Christian Koller herausstellt, sondern strich Höchstgewinne ein, zumal unmittelbar nach Kriegsende wieder Aufträge zur Wiederherstellung der Eisenbahninfrastruktur einsetzten.

Die beiden Beiträge zur Savonnerie Sunlight von Sabine Flaschberger und zum Basler Chemiewerk Ciba von Mitherausgeber Straumann kommen zu ähnlichen Ergebnissen. Das erstgenannte englische Tochterunternehmen dehnte seine Produktion auf Ersatzstoffe aus, z.B. pulverförmige Seife, die einen geringeren Fettanteil als das herkömmliche Produkt aufwies. In die USA, aber auch nach Deutschland exportierte man Glyzerin als kriegswichtiges Nebenprodukt der Seifenherstellung. Die Ciba profitierte von den ausfallenden Exporten der großen deutschen Konkurrenten und wurde zum wichtigsten Farbstofflieferanten für die englische Textilindustrie. Die Kriegsgewinne paarten sich mit einer Internationalisierung der Geschäftskontakte.

Auch die folgenden vier Beiträge zu den größten Schweizer Konzernen der Genuss- und Konsumgüterproduktion scheren aus dem positiven Tenor zur Interpretation des Zeitabschnitts nicht aus. Nestlé (Thomas Fenner) produzierte Kondensmilch als Proviant für Soldaten und trat damit in einen innovativen Produktionszweig ein. Maggi (Annatina Seifert) orientierte sich zwar auf dem inländischen Markt, stellte aber zugleich Tütensuppen für die Versorgung der Truppen im Feld her, was ebenfalls eine zukunftsweisende Innovation darstellte. In ähnlicher Weise trat die Konservenfabrik Hero (Raffaela Lütolf) in neue Bereiche ein, wobei der Export zu einer Stärkung des Unternehmens beitrug. Auch die Schokoladenfabrik Suchard (Mitherausgeber Rossfeld) erfuhr eine Popularisierung ihrer Kakaoprodukte, nachdem diese zur Versorgung der Armeen hinzugezogen wurden. Obwohl politisch beschädigt, da als deutsch-freundlich eingestuft, trat das Unternehmen gestärkt in den Nachkriegswettbewerb ein.

In der letzten Abteilung wird die Schweiz als Finanzplatz sowie die Züricher Versicherung (Thomas Inglin) und Schweizer Rückversicherung (Raffael C. Bach) untersucht. Am Beispiel des in Basel ansässigen Schweizerischen Bankvereins zeigt Malik Mazbouri die entscheidenden Standortvorteile der Alpenrepublik auf: Neutralität, innere Stabilität, Zurückhaltung in der Steuerpolitik und Geldstabilität. Der Bankverein nahm ausländischen Konkurrenten Marktanteile dauerhaft ab, ohne seine Position im Bereich der Vermögensverwaltung und als Kreditgeber des Schweizer Staates zu verlieren. Die Züricher Versicherung ist abermals ein Beispiel für das erfolgreiche Einschlagen einer internationalen Unternehmensstrategie. Und auch die Rückversicherung erweiterte ihren Geschäftsradius auf diesem Feld erheblich. Insgesamt kann der Erste Weltkrieg nicht nur als gewinnträchtige Periode sondern auch als Phase des Durchbruchs im Hinblick auf die Internationalisierung der Schweizer Wirtschaft gelten.

Diesem unternehmenshistorischen Fazit sind einige Anmerkungen über die Arbeitsweise der Autoren anzuschließen. Alle Beiträge werten betriebliche Archivbestände für ihre Zwecke vorbildlich aus und liefern sehr fundierte Analysen ihres Untersuchungsgegenstandes, die hier nur skizzenhaft präsentiert werden konnten. Mit dem Sammelband liegt eine umfassende und repräsentative Auswertung der Schweizer Unternehmensgeschichte vor, die für andere europäische Länder – darunter auch Deutschland – als Vorbild dienen kann. Diesbezüglich ist die homogene Struktur der Beiträge, die stets eine Vergleichbarkeit ermöglicht, noch einmal hervorzuheben. In diesem Sinne ist dem Buch eine umfassende Rezeption in der unternehmenshistorischen Forschung zu wünschen.

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