Cover
Titel
Essen mit und als Methode. Zur Ethnographie außeralltäglicher Mahlzeiten


Autor(en)
Reimers, Inga
Reihe
Edition Kulturwissenschaft (261)
Anzahl Seiten
358 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Patrick Pollmer, Lehrstuhl für Vergleichende Kulturwissenschaft, Universität Regensburg

Durch die Omnipräsenz gesellschaftlicher Aushandlungen von Ernährungsthemen sei, so könnte man meinen, das Essen in aller Munde – zumindest im globalen Norden. Inga Reimers, die Autorin des zu besprechenden Werks, würde dem widersprechen. Zu stark sei die kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem weiten Themenfeld der Ernährung um die leibliche Ebene des Essens als körperliche Praktik beschnitten worden – so eine der Legitimationen des Forschungsvorhabens, die aus einer deutschsprachigen, postvolkskundlichen Warte durchaus ihre Berechtigung hat, verweist sie doch auf ein wesentliches Desiderat der kulturwissenschaftlichen Nahrungsforschung.

Neben inhaltlichen Interessen an den Zuschreibungen und Kontexten konkreter Verzehrsituationen stellt Reimers die methodologische Frage, „inwiefern Essen, Kochen und Mahlzeiten als Forschung betrachtet und nutzbar gemacht werden können“ (S. 17), in den erkenntnisleitenden Fluchtpunkt ihrer Dissertation. Die Kulturwissenschaftlerin möchte dies mithilfe von „Forschungsdinnern“ (S. 17) herausfinden. Neben diesen methodischen Fragen stehen auch solche nach dem „Verbindungs- und Erkenntnispotential der untersuchten kollektiven Mahlzeiten“ (S. 19) im Blickpunkt der Arbeit.

Eingangs werden Fachdiskurse über künstlerisch-ethnografische Methoden und die Feldeigenheiten diskutiert, um zu einem Vorschlag einer „sinnlich-informierte[n], ethnographische[n] Nahrungsforschung“ (S. 51) zu gelangen. „Ess-Settings“ (S. 23), die das grundlegende Feld der Studie darstellen, werden als „Situationen und Veranstaltungen verstanden, in denen kollektiv gegessen und teilweise auch gekocht wird“, wobei „dies mit einem vorab kommunizierten Thema oder Zweck verbunden“ (S. 23) wurde. Weiter sind die Außeralltäglichkeit, Teilöffentlichkeit und ein Inszenierungscharakter der Veranstaltung als Kriterien verankert. Solche Verzehrsituationen wurden im Rahmen der Forschung besucht, beforscht, teilweise sogar mitorganisiert und gestaltet.

Die von ihr veranstalteten Dinner begreift Inga Reimers als „Experimente“ (S. 32), die dazu dienen sollen „bestehende (soziale, kulturelle, ästhetische etc.) Grenzen auszuloten oder auch zu erweitern“ (S. 33). Durch deren Perspektivierung als „Weiterführung bzw. eine[s] anderen Teil[s] ein und derselben Realität“ (S. 36), scheint auch die Legitimität eines ethnografischen Zugangs gegeben. Methodisch wird dabei ein „mixing“ in den Erhebungssituationen vollzogen – ebenso in der Auswertung, wo Reimers auf eine Palette von Auswertungsverfahren und auf die begleitende Feldforschungssupervisionsgruppe verweist.

Ferner stützt sie sich auf Literatur aus der kulturwissenschaftlichen Nahrungsforschung und unternimmt den Versuch einer Verknüpfung mit Standpunkten aus der Leibtheorie. Für die (deutschsprachige) Nahrungsethnologie konstatiert die Autorin eine „vernachlässigte empirische Beforschung der Sinne im Bereich der Nahrungsforschung“ (S. 51) und knüpft besonders an Befunde an, die sozial konjunktive Aspekte des Essens betonen – insbesondere die Konzepte von Gastlichkeit und Mahlzeit. Leibtheoretische Erweiterungen führen zum Arbeitsbegriff des „essende[n] Leib/körper[s]“ (S. 86), welcher die duale Innen-/Ausrichtung „des fühlenden, handelnden und interagierenden Selbsts“ (S. 86) abdeckt und integrationsfähig für die anderen genannten Konzepte ist – wie beispielsweise Habitus oder Emotionspraktiken. Besonders die Perspektivierung des „Leibkörper[s] als relationale Vielheit unter einem bestimmten Fokus“ (S. 87) liest sich vielsprechend, da so die soziomateriellen Umwelten des gemeinsamen Essens ein stärkeres Gewicht in der Analyse bekommen können.

Vor dem Hauptteil wird noch ein „Katalog“ (S. 91) der Forschungsszenarien präsentiert. Die Autorin möchte keine „dominante Lesart“ (S. 20) vorgeben und multiple Ausdeutungen ermöglichen, weshalb sie mit Querverweisen unter den Kapiteln arbeitet. Diese laufen hier zusammen und können so Pfade für ein Setting-zentriertes Lesen eröffnen.

Analytisch setzt sich Reimers zuerst auf Basis der Ankündigungstexte der Ess-Settings und diverser Print- und Online-Artikel mit fünf diskursiven Figurationen auseinander, da in jenen menschliche Erfahrungen und Alltagspraxen präformiert und diskursiv mitkonstruiert werden. Gemeinsam ist diesen, „dass sie sich mit dem Menschen als sozialem Wesen auseinandersetzen“ (S. 163). Bei der Thematisierung des (Ess-)Tisches geraten so neben seiner Performativität auch die Verbindungslinien zu dessen kultureller Normativität in den Blick – zentral bleibt aber die Bedeutung des Versammelns von Menschen. Valorisierungen der Küche als sozialer Ort (städtischer Lebensstile) zeichnen sich in der weiteren Analyse ab. Thematisierungen des Feuers legen die universalisierende und (a)historisierende Dimension des Denkens über Mahlzeiten offen. Gelesen werden die Verweise auf urzeitliche Verhältnisse im Konnex mit gegenwärtigen Problemlagen der Lebensmittelindustrie. Weitere Deutungen des kon- und disjunktiven Potenzials von Mahlzeiten bilden den Abschluss. Besonders hervorzuheben ist hier weniger der Übergang von Narrativen in den Alltagsverstand, sondern vielmehr die Konstatierung einer „Vermischung von Alltags- und wissenschaftlichem Wissen“ (S. 179), die die Blaupause für alltägliches Ernährungswissen darstellt.

Körperliche Praxen, wie beispielsweise das Abschmecken gemeinsam gekochter Mahlzeiten, rücken im Folgenden in den Fokus. Deutlich wird dabei die soziale Dimension leiblicher Vollzüge, wenn die Geschmacksprobe als „Beziehungsarbeit“ (S. 184) zwischen den Beteiligten verstanden wird. Dass in manchen Forschungssituationen „der schmeckende Leib in Konkurrenz zu dem sich unwohl fühlenden Leib“ (S. 189) geraten kann, ist ein wichtiger Befund für weitere leibinteressierte Arbeiten auf dem Gebiet der Nahrungsforschung. Deutlich werden hier auch Konflikte zwischen inkorporiertem Ernährungswissen und den Anforderungen der ästhetisierenden Ess-Settings, wenn beispielsweise Schweigen während der Mahlzeit oder das gemeinsame Essen aus einer Schüssel gefordert wurden. „Essen als Medium“ (S. 191) findet nicht nur im so benannten Kapitel über visuelle Präformierungen und Imaginationswelten rund um das Esserlebnis seine Thematisierung, sondern darüber hinaus auch in folgenden Textpassagen, in welchen die vielgestaltigen Praktiken des Erinnerns zentral sind.

Schließlich wird die „Herstellung und Stabilisierung sozialer Gruppen“ (S. 236) analysiert. Dabei arbeitet die Autorin neben den sozialen Binneneffekten auch das distinktive Potenzial der Mahlzeiten heraus. Positioniert werden diese Gruppen im Bereich „urbane[r], ethische[r] Lebensstil[e]“ (S. 243), welche als Form eines „singularistischen Lebenstils“ nach Reckwitz (S. 250) mit Moralisierungen der Alltagspraxis verbunden sind. Andere Themen in diesem Abschnitt tangieren beispielsweise die Reproduktion von Hierarchien in Solidarisierungsformaten oder tauschtheoretische Perspektiven auf Gastlichkeit in Veranstaltungen mit Geflüchteten. Dabei stehen immer wieder Aspekte der Inszenierung und Performanz im Blickpunkt der Analyse. Im Hinblick auf die Einschränkung der praktizierten Methode sind die Ausführungen über die „Grenzen von Teilhabe in den Ess-Settings“ (S. 277) aufschlussreich: Deutlich wird hier, dass Menschen womöglich aufgrund fehlenden Sozialkapitals beziehungsweise wegen ihrer sozioökonomischen Lage keinen Zugang zu oder keine Verhaltenssicherheit in solchen Formaten finden. Raum-zeitliche Deutungen schließen den Hauptteil.

Mit einer finalen „Synthese“ (S. 301) resümiert die Autorin noch einmal ihre Befunde in Bezug auf ihr leitendes Interesse. Einer kritischen Einordnung des Formats der Ess-Settings folgt eine Bilanzierung der methodologischen Absichten der Arbeit. Redlich wird hier eingeräumt, dass die Blickrichtungen der Leibtheorie nur bedingt ethnografisch erfasst werden konnten. So muss „die Versprachlichung weiterhin [als] der zentrale Zugang zu Geschmacks- und Geruchswahrnehmungen“ (S. 311) betrachtet werden. Weder den teil-autoethnografischen Zugang noch die experimentell ausgelösten Irritationen möchte die Autorin jedoch missen. Schließlich hätten diese auch Widerständigkeiten hervorgebracht und somit Zugänge zu deren Analyse geboten. Als Abwandlung von „Go-Alongs“ schlägt Reimers neben interventionsbasierten Zugängen nun „Eat-Alongs“ (S. 321) als Forschungsstrategie vor. Diese Überlegung scheint gleichermaßen richtig wie wichtig, wie die Arbeiten David Suttons im Bereich der Anthropology of Food gezeigt haben. In Bezug auf die inhaltlich-thematischen Fragen wird schlussendlich noch einmal das Essen im Rückgriff auf Susan Leigh Star und James Griesemer als „boundary object“ perspektiviert, das Menschen trotz verschiedener Ausdeutungen der Situation zusammenbringt. Mehr als Metapher wird der transformative Charakter gemeinsamer Mahlzeiten herausgestellt, dass sich innerhalb der Settings „ein alternativer Raum für alternative Denkweisen und Praktiken eröffnet“ (S. 327) hätte.

Was Inga Reimers mit Essen mit und als Methode vorgelegt hat, ist ein gleichermaßen kreativer wie ambitionierter Ansatz: Einerseits, um methodische Impulse für eine experimentierfreudige Ethnografie beizutragen, andererseits, um eine bedeutsame Forschungslücke der kulturwissenschaftlichen Nahrungsforschung zu schließen. Reimers‘ Beitrag kann hierbei als Schritt auf einem noch längeren Weg gesehen werden. Da die in urbanen Kreativitätsmilieus gängigen Maßstäbe für Experimentierfreudigkeit und Offenheit kaum gesamtgesellschaftlich anzunehmen sind, müssen für andere Sozialgruppen wohl aber andere Instrumente entwickelt oder genutzt werden. Hier könnten aber womöglich die am Ende aufgeworfenen „Eat-Alongs“ ein probater Zugang sein.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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