H. B. Sigurjónsdóttir u.a. (Hrsg.): Understanding Disability Throughout History

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Title
Understanding Disability Throughout History. Interdisciplinary Perspectives in Iceland from Settlement to 1936


Editor(s)
Sigurjónsdóttir, Hanna Björg; Rice, James G.
Series
Interdisciplinary Disability Studies
Published
Abingdon 2022: Routledge
Extent
198 S., 9 Abb.
Price
£ 120.00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Bianca Frohne, Historisches Seminar, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Der Sammelband mit dem vielversprechenden Titel „Understanding Disability Throughout History” wird seinem Anspruch gerecht, zum Verständnis von disability in der Geschichte beizutragen. Die Beiträge konzentrieren sich auf die Geschichte Islands; sie decken den Zeitraum vom 9./10. Jahrhundert bis 1936 ab. Diese Langzeitperspektive stand im Zentrum des interdisziplinären Forschungsprojekts „Disability before Disability“ (DbD) am „Research Centre for Disability Studies“ der University of Iceland. Ein solcher Zugang, der verschiedene Faktoren und methodische Perspektiven berücksichtigt und die vergleichende Gegenüberstellung von Begriffen, Vorstellungen und Erfahrungen ermöglicht, ist nötig, um dem komplexen Phänomen disability im historischen Zugriff gerecht werden zu können. Somit ist der Band auch ohne Vorkenntnisse auf dem Gebiet der isländischen Geschichte mit Gewinn zu lesen. Er bietet nicht nur Einblicke in die Erarbeitung einer umfassend angelegten historischen Fallstudie am Beispiel der überwiegend ländlich geprägten Gesellschaft Islands, sondern kann auch als Vorbild, geradezu als methodisches Handbuch für eine Disability History der Vormoderne genutzt werden.

Disability History ist nicht einfach mit der Geschichte behinderter Menschen gleichzusetzen. Im Anschluss an die Disability Studies wird über disability (als Arbeitsbegriff) Zugang zu einem sozial, kulturell und historisch höchst wandelbaren Phänomen gewonnen. In den letzten Jahren ist die Einsicht gewachsen, dass disability einen Sammelbegriff für eine große Zahl verschiedener, oft uneinheitlicher und widersprüchlicher Erfahrungen und Vorstellungen darstellt. Während älteren Arbeiten oft implizit das Ziel zugrunde lag, „die Behinderten“ in der Geschichte zu finden oder lineare Entwicklungslinien zu entwerfen, hat die neuere Disability History den Anspruch, disability und die damit verbundenen Konzepte, Kategorisierungen und Erfahrungen im Kontext der Gesamtgesellschaft zu untersuchen. Was überhaupt und in welchen sozialen Zusammenhängen als disability wahrgenommen wurde, ist damit Ausgangspunkt systematischer, quellengestützter Studien. Der zu besprechende Sammelband ging aus einem solchen Projekt hervor.

In der Einleitung legen Hanna Björg Sigurjónsdóttir und James G. Rice die Ziele und methodischen Grundlagen des interdisziplinären Verbundvorhabens dar: Das Interesse gilt den Erfahrungen und Lebensumständen behinderter Menschen, bevor das Konzept disability in sozialen, kulturellen oder rechtlich-administrativen Kontexten fassbar wurde. Damit untrennbar verbunden ist auch die Frage nach den zugrundeliegenden Vorstellungen und Konzepten. Der Endpunkt wurde mit dem Jahr 1936, als in der isländischen Gesetzgebung („Lög um almannatryggingar“) zum ersten Mal disability als rechtliche Kategorie erkennbar wurde, sinnvoll festgelegt. Zur Erforschung der vorhergehenden Jahrhunderte seit der Besiedelung Islands im 9./10. Jahrhundert kamen Forschende mit Schwerpunkten in den Disability Studies, der Geschichtswissenschaft, Archäologie, Literaturwissenschaft, Ethnologie, Anthropologie, Museums- und Archivwissenschaften zusammen. Die in dem Band versammelten Aufsätze lassen erste Ergebnisse im systematischen Vergleich sichtbar werden und geben zugleich Einblick in die Vielfalt der unterschiedlichen Forschungsansätze und Methoden.

Christopher Crocker, Yoav Tirosh und Ármann Jakobsson liefern einen methodologischen Beitrag, der auch unabhängig von der spezifischen Historie Islands von großem Wert für die Disability History der Vormoderne ist. Besondere Hervorhebung verdient auch der Aufsatz von Steinunn Kristjánsdóttir and Joe W. Walser III. Basierend auf der Ausgrabungsstätte des spätmittelalterlichen Klosters und Spitals Skriðuklaustur werden die Überreste von fünf Individuen aus archäologischer und osteobiographischer Perspektive mit der gebotenen Umsicht diskutiert. Die theoretische Anbindung an die Disability Studies und die Einbindung der Fallstudien in medizinische und kulturelle Kontexte ist vorbildlich und trägt zur Relativierung älterer Forschungsmeinungen bei.

Biographische und mikrohistorische Ansätze stehen im Mittelpunkt der Aufsätze von Sigurður Gylfi Magnússon sowie Guðrún V. Stefánsdóttir und Sólveig Ólafsdóttir. Letzterer befasst sich mit Bjargey Kristjánsdóttir (1927–1999), genannt Bíbí, die als „schwachsinnig“ (feebleminded) angesehen wurde. Anhand ihrer umfangreichen, im Geheimen angefertigten Autobiographie zeigen die Autorinnen Bíbís Sichtweisen auf, die häufig im Gegensatz zu denen ihrer sozialen Umwelt standen. Der Beitrag von Eva Þórdís Ebenezersdóttir und Sólveig Ólafsdóttir stellt mit Sigríður Benediktsdóttir (1815–1900), genannt Stutta-Sigga, ebenfalls eine Einzelperson in den Mittelpunkt. Das auf partizipative, kollaborative Forschung ausgerichtete Konzept bietet innovative Ansatzpunkte für den Einbezug von Ethnographie, Oral History und Erzählforschung in die Disability History. Die Möglichkeiten und Grenzen dieses Ansatzes, der die narrative Rekonstruktion von Siggas Standpunkten und Perspektiven verfolgt, werden nachvollziehbar diskutiert. Der museologisch ausgerichtete Beitrag von Arndís Bergsdóttir kann ebenso als methodisch wegweisend gelten. Die Autorin plädiert für das Konzept der absencepresence, das die materielle Abwesenheit der Spuren behinderter Menschen innerhalb der aktuellen Museumslandschaft zu einem eigenen Forschungsgegenstand macht.

In einem weiteren Beitrag geben Christopher Crocker und Yoav Tirosh Einblick in ihre Forschungen zu isländischen Sagas. Die diskutierten Beispiele verdeutlichen, dass Behinderungs- und Krankheitserfahrungen durch und über zwischenmenschliche Beziehungen konstituiert wurden. Um die räumliche Dimension von Behinderungserfahrungen in der noch überwiegend ländlichen Gesellschaft Islands im 19. und frühen 20. Jahrhundert geht es in dem Beitrag von Ólafur Rastrick. Er kontrastiert dabei die typischen Haus- und Haushaltsformen mit den im darauffolgenden Modernisierungsprozess entstandenen neuen Wohnformen.

Die letzten beiden Beiträge konzentrieren sich wiederum auf Einzelpersonen. Alice Bower untersucht die Texte von und über den Dichter Guðmundur Bergþórsson (1657–1705) aus erzähltheoretischer Perspektive. Haraldur Thor Hammer Haraldsson verfolgt einen experimentellen Ansatz, indem er eine fiktive Biographie auf der Grundlage von Knochenfunden konzipiert. Der Ansatz einer osteobiographischen Erzählung zur Ergänzung archäologisch-anthropologischer Untersuchungen erscheint zunächst durchaus vielversprechend. Leider werden der unbekannten, hier mit dem Namen Grímur bedachten Person fiktive Lebenserfahrungen und Haltungen zugeschrieben, die vielen bereits widerlegten oder relativierten Stereotypen entsprechen: So habe die Mutter das behinderte Kind nach der Geburt aussetzen wollen; als Erwachsener habe sich Grímur dafür geschämt, Assistenz in Anspruch zu nehmen und seine Schmerzen zu verbergen versucht; die Ehefrau habe seinen Tod als Erlösung von Schmerz und Unwohlsein verstanden („you were at long last serene and without pain“, S. 176). Fiktive Elemente dieser Art verschaffen nur begrenzt neuen Aufschluss über die osteologischen Funde. Die Gefahren, die von den damit verbundenen Aussagen für Menschen ausgehen, die heute mit Behinderung, chronischen Krankheiten und Schmerzen leben, sind zudem von Vertreter:innen der Disability Studies deutlich benannt worden.1 Der Beitrag lässt somit auch die Fallstricke, die mit fiktionaler Narration als Methode verbunden sind, deutlich werden.

Im Ganzen zeigt der interdisziplinäre Sammelband anschaulich das methodische Potential auf, das sich mit den hier verfolgten Ansätzen und Perspektiven erschließen lässt. Viele der vorgestellten Forschungskonzepte knüpfen an aktuelle Theorien und Methoden der kritischen Disability Studies und der Crip Theory an; intersektionale Perspektiven und partizipative Konzepte kommen zum Einsatz. Gerade für die Disability History der Vormoderne liegt darin ein großer Gewinn.

Anmerkung:
1 Zum Beispiel Tobin Siebers, In the Name of Pain, in: Jonathan M. Metzl / Anna Kirkland (Hrsg.), Against Health. How Health Became the New Morality, New York 2010, S. 183–194.

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