Vielleicht ist es ja ein Imageproblem: Auch die begeistertsten Historikerinnen und Historiker bekommen beim Stichwort „Akten“ keine leuchtenden Augen, und man assoziiert eher staubige, trockene Lektüre. Jedenfalls hat die Aktenkunde bislang in der historischen Forschung und vor allem in der universitären Lehre nicht die Aufmerksamkeit bekommen, die sie verdient. Immerhin ist sie vielleicht die quellenkundliche Schlüsseldisziplin für die neuzeitliche Geschichte, die Geschichte des „Aktenzeitalters“.
Das Angebot an einführender und dennoch anspruchsvoller Literatur zur Aktenkunde war bislang bescheiden. Neben den klassischen Darstellungen Heinrich Otto Meisners und den späteren Ergänzungen durch Gerhard Schmid1 gab es in jüngerer Zeit eine knappe Zusammenschau und verdienstvolle Systematisierung von Jürgen Kloosterhuis2 und ein eher mit paläografischem Schwerpunkt konzipiertes hilfreiches Übungsbuch von Hans Wilhelm Eckardt, Gabriele Stüber und Thomas Trumpp3, das gleichwohl einen Einstieg in die Aktenkunde bietet. Das hier zu besprechende Werk des Wiener Archivars Michael Hochedlinger will diesen Einführungen ein echtes Lehrwerk zur „Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit“ zur Seite stellen. Hochedlinger richtet sich dabei gezielt an Historiker und angehende Archivare.
Einer kurzen wissenschaftsgeschichtlichen Einleitung folgt der erste Hauptteil des Buchs, der sich definitorischen Fragen widmet. In einer nicht immer ganz überzeugenden Abfolge stellt der Autor in kurzen Abschnitten Archivalientypen und Überlieferungsformen dar, was die Grundlage für die folgenden Ausführungen bildet. Die Definitionen sind angenehm knapp und zuverlässig. In den folgenden Kapiteln stützt sich Hochedlinger auf die seit Meisner klassische Gliederung in genetische, analytische und systematische Aktenkunde.
Die genetische Aktenkunde befasst sich mit der Entstehung von Aktenschriftstücken im behördlichen Geschäftsgang (heute würde man vielleicht vom workflow sprechen). Wer ein Aktenstück verstehen will, muss wissen, ob man es mit einem Entwurf oder einer Ausfertigung zu tun hat, muss Paraphen entziffern und Bearbeitungsvermerke lesen können. Eine Einführung kann das nicht im Detail vermitteln, dafür sind die Unterschiede von Behörde zu Behörde zu groß. Aber Hochedlinger gelingt es, die Grundlagen der Arbeit in Kanzlei und Registratur überzeugend darzustellen und zu zeigen, wie sich behördliche Ordnungssysteme und Praktiken in der Akte niederschlagen.
Die analytische Aktenkunde kümmert sich um äußere und innere Merkmale von Aktenschriftstücken. Material und Layout können für die Interpretation von Akten ebenso aufschlussreich sein wie die Verwendung bestimmter Anreden oder grammatikalische Besonderheiten. Wo der Aufbau von Aktenschriftstücken analysiert wird, kann die Aktenkunde ihre Herkunft aus der (mittelalterlichen) Diplomatik nicht verleugnen.
Die systematische (klassifizierende) Aktenkunde richtet ihr Augenmerk vor allem auf den Schreibzweck und die Hierarchie zwischen Sender und Empfänger eines Schreibens. Je nachdem, welche grammatikalische Form ein Schreiber verwendet (Ich-Stil, Wir-Stil, objektiver Stil) oder ob man sich an höher, niedriger oder gleich Gestellte wendet, hat man es mit ganz unterschiedlichen Genres von behördlichem Schriftgut zu tun.
All diese Varianten arbeitet Hochedlinger gründlich, aber klar heraus – wer es kürzer haben will, kann zu Kloosterhuis oder Eckardt/Stüber/Trumpp greifen. Die vielen Beispiele und Illustrationen erleichtern das Verständnis erheblich.
Eine Besonderheit von Hochedlingers „Aktenkunde“ sind die zahlreichen Übungsbeispiele, die auf einer CD-ROM beiliegen, aber auch im Internet abrufbar sind.4 Sie bestehen aus qualitativ recht guten Scans von Aktenschriftstücken, die dann nach einem vorgegebenen Schema aktenkundlich analysiert werden. Auch wenn die Archivalien nicht transkribiert werden, eignen sie sich auch für paläografische Übungen. Die Beispiele sind als PDF-Dateien verfügbar, was sie von technischen Voraussetzungen weitgehend unabhängig macht. Auf eine Benutzerführung muss man dafür verzichten.
Es gibt wenig, was an dem besprochenen Werk stört. Vielleicht zwei Kleinigkeiten: Der regionale Fokus auf österreichische Behördenpraxis ist dem Entstehungskontext des Lehrbuchs geschuldet, bildet aber auch einen bewussten Gegenpol zur preußenlastigen Aktenkunde deutscher Provenienz. Dadurch kommt Hochedlinger gelegentlich auch zu anderen Akzentsetzungen, indem er zum Beispiel dem Stilbruch Anfang des 19. Jahrhunderts eine geringere Bedeutung zumisst als die preußische Aktenkunde. Manchmal hätte man aber gerne auch andere Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum – es gibt ja auch außerhalb von Österreich und Preußen wichtige Verwaltungstraditionen. In der Praxis stört der österreichische Blick aber nicht, zumal der Autor auch durchaus über den deutschsprachigen Tellerrand hinausschaut und immer wieder auch auf ausländische Fälle Bezug nimmt, vor allem auf die französische diplomatique moderne.
Eine größere Einschränkung stellt vielleicht die zeitliche Schwerpunktsetzung dar. Auf die letzten Drittel des 20. Jahrhunderts geht der Verfasser nur selten ein, auch das Gros der Beispiele stammt aus dem 16. bis 19. Jahrhundert. Das ist völlig ausreichend, um sich mit den Grundzügen der Aktenkunde vertraut zu machen, und von einem Lehrbuch sollte man vielleicht auch nicht mehr verlangen. Dennoch wäre es ein reizvolles Unterfangen, das 20. und das 21. Jahrhundert konsequent in aktenkundliche Überlegungen mit einzubeziehen: Wie entwickelt sich die Aktenführung nach der „Büroreform“? Was bedeutet das Aufkommen neuer Kommunikationsformen (Telefon, E-Mail) für die Aktenmäßigkeit von Verwaltungshandeln? Wie bilden sich aktenkundliche Merkmale in elektronischer Bürokommunikation ab und was bedeutet das für eine spätere Überlieferung? Diese Fragen werden nicht ignoriert, aber doch sehr kurz abgehandelt. Aber sie sind vielleicht auch Stoff für ein anderes Buch.
Michael Hochedlinger ist ein ausgezeichnetes und höchst erfreuliches Lehrbuch gelungen, das die Grundzüge der Aktenlehre schlüssig und gründlich darlegt und mit vielen Beispielen überzeugend präsentiert. Die „Aktenkunde“ liest sich angesichts des sperrigen Themas erstaunlich flüssig und angenehm. Die kleinschrittige Untergliederung und das detaillierte Register machen das Buch zudem zu einem handbuchartigen Nachschlagewerk, das auch denjenigen gute Dienste leistet, für die Aktenkunde kein Neuland mehr ist.
Dazu trägt auch die Mühe bei, die sich Autor und Verlag bei der Ausstattung des Werks gegeben haben. Gelegentlich auflockernd, aber meist unverzichtbar sind die vielen Randillustrationen und -faksimiles. Schlüsselbegriffe am Rand, ein ergonomisches Äußeres, ausführliche Anleitungen zum Selbststudium und eine ausführliche Literaturliste runden den positiven Gesamteindruck ab. Es bleibt zu wünschen, dass die geschichtswissenschaftliche Ausbildung auf das Angebot zurückgreift, das ihr mit diesem Lehrbuch vorliegt.
Anmerkungen:
1 Heinrich Otto Meisner, Aktenkunde. Ein Handbuch für Archivbenutzer mit besonderer Berücksichtigung Brandenburg-Preußens, Berlin 1935; ders., Urkunden- und Aktenlehre der Neuzeit, 2. Aufl., Leipzig 1952 (1. Aufl. 1950); ders., Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918, Leipzig 1969; Gerhard Schmid, Akten, in: Friedrich Beck / Eckhart Henning (Hrsg.), Die archivalischen Quellen. Mit einer Einführung in die Historischen Hilfswissenschaften, 4. Aufl., Köln 2004 (1. Aufl. 1994).
2 Jürgen Kloosterhuis, Amtliche Aktenkunde der Neuzeit. Ein hilfswissenschaftliches Kompendium, in: Archiv für Diplomatik 45 (1999), S. 465-563.
3 Hans Wilhelm Eckardt / Gabriele Stüber / Thomas Trumpp, Paläographie, archivalische textsorten, Aktenkunde. „Thund kund und zu wissen jedermänniglich“, Neustadt an der Aisch 2005.
4 Vgl. <http://www.univie.ac.at/Geschichtsforschung/ressourcen/aktenkunde/index.htm> (30.04.2009).