M. Gehler (Hrsg.): Vom gemeinsamen Markt zur Europäischen Unionsbildung

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Titel
Vom gemeinsamen Markt zur Europäischen Unionsbildung. 50 Jahre Römische Verträge 1957-2007. From Common Market to European Union Building. 50 years of the Rome Treaties 1957-2007


Herausgeber
Gehler, Michael
Reihe
Arbeitskreis Europäische Integration. Historische Forschungen. Veröffentlichungen 5
Erschienen
Anzahl Seiten
772 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Mittag, Institut für soziale Bewegungen, Ruhr-Universität Bochum

Obwohl die Geschichte der europäischen Integration mittlerweile auch im deutschsprachigen Raum zunehmend stärkeres Interesse der Wissenschaft auf sich zieht, spielt diese Forschungsrichtung auf der historiografischen Bühne weiterhin lediglich eine Neben-, oftmals sogar nur eine Statistenrolle. Zurückführen lässt sich dieser Umstand wohl in erster Linie auf die Beharrungskräfte nationalstaatlicher Strukturen und Sichtweisen, die selbst dann noch dominant sind, wenn europäische Zeitgeschichte transnational aufgebrochen wird. Dass die Integrationshistoriografie jedoch auch für die allgemeine Zeitgeschichte zahlreiche Impulse liefern kann, dokumentiert eindrucksvoll der hier vorzustellende, vom Hildesheimer Historiker Michael Gehler herausgegebene Sammelband über die Römischen Verträge. In Konzeption und Durchführung spiegelt er gewissermaßen exemplarisch den Stand und die Standards gegenwärtiger Integrationshistoriografie wider.

Den Ausgangspunkt der Publikation bzw. der ihr zugrunde liegenden wissenschaftlichen Tagung in Hildesheim bildete der 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25. März 1957. Die Konzentration auf dieses Datum ist − was im Band allerdings nicht eigens thematisiert wird − historisch nicht ganz unproblematisch, wenn man berücksichtigt, dass staatsrechtlich weniger die Unterzeichnung als vielmehr der Ratifizierungsprozess von Bedeutung ist und zudem die Europäische Kommission und die deutsche Bundeskanzlerin im Jahr 2007 aufriefen, „50 Jahre Europäische Union“ zu feiern. Ebenso wie bei einigen anderen Veranstaltungen1 mündeten auch im Fall der Hildesheimer Konferenz die Tagungspapiere in einen Sammelband. Die Konzentration auf Jahrestage macht ein Grundmuster der europäischen Integrationshistorie deutlich. Sofern Studien nicht entlang der Archivzugangsmöglichkeiten betrieben werden, bilden häufig Jubiläen den Impuls für Forschungs- und Publikationsvorhaben. Derartige Untersuchungen verharren jedoch selten auf ihrem Startpunkt, sondern nehmen diesen vielmehr zum Anstoß für weitergehende, längsschnittartige Betrachtungen. Dies gilt auch für den vorliegenden Band, der in seinem ersten Teil zwar die Ursprünge und Entstehungshintergründe der Römischen Verträge beleuchtet, in den weiteren vier Hauptabschnitten aber stärker auf deren unmittelbare und langfristige Wirkungen eingeht, um so der Prozessdimension der europäischen Integration mit ihren vielfach verschlungenen Wegen Rechnung zu tragen. Dass Gehlers Sammelband – wie viele andere Arbeiten zur europäischen Integration – recht voluminös ausfällt, ist vor allem auf die Anforderungen an eine gewisse Perspektivbreite zurückzuführen. Drei Dimensionen sind sowohl im vorliegenden Fall als auch grundsätzlich von besonderer Bedeutung.

1) Es stellt mittlerweile bereits einen Gemeinplatz dar, dass die Geschichte der europäischen Integration aus der Perspektive eines einzelnen Staates kaum überzeugend erfasst werden kann. Diese Sichtweise macht sich auch Gehlers Sammelband zu eigen, der die Römischen Verträge nicht nur von deutscher Warte aus eingehend erörtert (mit Beiträgen von Jürgen Elvert, Wilfried Loth und Wolf D. Gruner), sondern auch die Sicht der weiteren Mitgliedstaaten der Gründungsgemeinschaft berücksichtigt (Yves Carl zu den Benelux-Staaten, Gérard Bossuat und Laurent Warlouzet zu Frankreich, Federico Scarano zu Italien). Die Vielzahl von Länderbeiträgen legt dabei die Vermutung nahe, Geschichte und Wirkung der Römischen Verträge seien primär als Resultat diplomatischer Aushandlungsprozesse darzustellen. Diese Sicht dominiert im vorliegenden Band zwar, wird indes durch die weiteren Zugänge auch wieder relativiert und erhebt keinen Ausschließlichkeitsanspruch. Weit untypischer für die Integrationsforschung als die Konzentration auf die Gründerstaaten ist die vor allem im zweiten und vierten Hauptteil vorgenommene Ausweitung des Länderspektrums: So werden etwa sehr differenziert die EFTA-Staaten behandelt – mit Beiträgen über die skandinavischen Länder (Johnny Laursen) und Großbritannien (Wolfram Kaiser) – sowie die Neutralen mit besonderem Akzent auf Österreich (Thomas Ratka) und auf Irland (Brian Girvin). Berücksichtigt werden darüber hinaus die DDR (Andreas Pudlat) sowie die USA, die von Klaus Larres im Vorfeld der Römischen Verträge auf dem Kulminationspunkt der Unterstützung des westeuropäischen Integrationsprojektes gesehen werden. Demgegenüber lehnte die Sowjetunion, wie Wolfgang Mueller zeigt, die EWG grundsätzlich ab. Sie suchte jedoch immer wieder die Annäherung und ließ sich bei der Gestaltung der RGW-Politik durchaus vom Stand der EWG-Integration beeinflussen. Schließlich enthält die Publikation sogar einen Aufsatz über die asiatische Perzeption der europäischen Integration (Hungdah Su).

2) Die Perspektivbreite von Gehlers Sammelband spiegelt sich auch im Zusammenspiel von institutionellen, akteurszentrierten und politikfeldspezifischen Zugängen wider. Wenn Kiran Patel und Markus F. Hofreither die Agrarpolitik, Sigfrido M. Ramirez Pérez die französische Automobilindustrie oder Philip Bajon die „Krise des leeren Stuhls“ von 1965/66 beleuchten, zeigt sich, dass einzelne Politikfelder spezifischen Mechanismen und „Pfadabhängigkeiten“ folgten. Zugleich wird aber auch deutlich, wie eng die einzelnen Problemkreise miteinander verzahnt sind. Verknüpfungen werden zudem durch die Nutzung kollektivbiografischer und netzwerkorientierter Ansätze sichtbar. Während Brigitte Leucht in ihrem Beitrag transatlantische Netzwerke der Jahre bis 1957 behandelt, die für die Ausarbeitung der Römischen Verträge jedoch eher von nachrangiger Bedeutung waren, zeigt Katja Seidel in ihrer kollektivbiografischen Untersuchung, wie stark die Beamten der EWG-Kommission von der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs geprägt waren.

3) Eine weitere Facette der Integrationsforschung, die in diesem Band besonders stark akzentuiert wird, ist der interdisziplinäre Zugang. So wird neben klassischen Ansätzen internationaler Beziehungen in der Politikwissenschaft (Gustav Schmidt) auch auf wirtschaftshistorische Aspekte rekurriert, namentlich im Beitrag von Gerold Ambrosius zur Zollunion von 1968 und zum Binnenmarktprojekt von 1993. Gabriele Clemens’ Beitrag über die Öffentlichkeitsarbeit in Form von „Europafilmen“ verschreibt sich einem kommunikationswissenschaftlichen Ansatz, während Holm Arno Leonhardt die staatsrechtlichen Konstruktionsprozesse europäischer Integration erörtert.

Was den Band von anderen, im Zuschnitt ähnlichen Publikationen abhebt, ist die Qualität der Einzelstudien, wenn auch nicht alle Beiträge das gleiche hohe Niveau erreichen. Gehler ist es gelungen, neben ambitionierten Doktoranden auch zahlreiche erfahrene Experten der Integrationswissenschaft zu gewinnen, die anregende Studien erstellt haben oder aber auf eigene ausführlichere Forschungsarbeiten zurückgreifen. Letztere werden in zahlreichen Fällen zudem neu gelesen und teilweise auch neu interpretiert (Hanns Jürgen Küsters, Gunther Hauser).

Dass der Band mehr als eine beeindruckende Summe von Einzelbeiträgen darstellt, ist neben Gehlers konziser Einleitung auch dem Fazit Mark Gilberts zu verdanken, der die Römischen Verträge im Hinblick auf gängige „Narrative“ europäischer Integration auslotet. Ob die Römischen Verträge nun als Meilenstein europäischer Konstitutionalisierung, als Zerrbild radikal föderalistischer Europaleitbilder, als Spaltpilz der westeuropäischen Kooperation, als Plan zur Zurückdrängung Großbritanniens oder als Verhandlungspaket europäischer Nationalstaaten interpretiert werden − alle diese Deutungsangebote sind relevant und bedenkenswert. Zugleich leiten sie fast durchweg zu allgemeinen zeitgeschichtlichen Fragen über – wie etwa der Bedeutung des Kalten Kriegs, den Folgen der Dekolonisation, demografischen Veränderungsprozessen oder der Rolle wirtschaftlicher und politischer Eliten. In diesem Sinne spricht einiges dafür, die Ergebnisse von historischer Integrationsforschung und allgemeiner zeitgeschichtlicher Forschung künftig stärker aufeinander zu beziehen, als dies bisher der Fall war. Michael Gehlers instruktiver Sammelband liefert dafür eine hervorragende Grundlage.

Anmerkung:
1 Vgl. etwa Wilfried Loth (Hrsg.), Experiencing Europe. 50 Years of European Construction 1957–2007, Baden-Baden 2009; und Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte/Economic History Yearbook 2008/2, Wirtschaftliche Integrationsprozesse in West- und Osteuropa/Economics and Integration in Western and Eastern Europe after the Second World War (Abstracts unter <http://wigesch.uni-koeln.de/fileadmin/Material/Jahrbuch_fuer_Wirtschaftsgeschichte/JWG-Hefte/JWG_2008-2.pdf>, (26.5.2009).

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