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Title
Zwischen Formstrenge und Billigkeit. Forschungen zum vormodernen Zivilprozeß


Editor(s)
Oestmann, Peter
Series
Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 56
Published
Köln 2009: Böhlau Verlag
Extent
342 S.
Price
€ 42,90
Reviewed for H-Soz-Kult by
Inken Schmidt-Voges, Historisches Seminar, Universität Osnabrück

Mit dem vorliegenden Sammelband rückt Peter Oestmann ein Thema ins Zentrum, das nicht nur für die Rechtsgeschichte, sondern auch für die allgemeine Geschichte von großer Bedeutung ist: das rechtliche Verfahren im Zivilprozess. Konkreter geht es in den Beiträgen, die einen Großteil der Vorträge einer Tagung der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung von 2007 versammeln, um die Frage nach den Handlungsspielräumen der verschiedenen an den Zivilprozessen am Reichskammergericht und am Reichshofrat beteiligten Akteure. Ausgangspunkt dieser übergeordneten Fragestellung ist die Wahrnehmung der höchstgerichtlichen Prozesse als extrem, bis ins letzte Detail formalisiert. Augenfälligstes Merkmal dieses Formalismus ist die eingeforderte Schriftlichkeit des so genannten Kameralprozesses, so dass alle Aussagen und Vorgänge in genau festgelegten Schriftstücken und Aktenvermerken festgehalten werden mussten. Blieb bei so viel Formalismus überhaupt noch Raum für situativ angemessenes Verhalten, für Entscheidungen der Billigkeit? Entsprach dem normativen Formalismus auch eine Formenstrenge, also die Überwachung und Einforderung der Einhaltung der festlegten Formen? Gab es Formalismus und Formenstrenge jenseits der Schriftkultur? Diesen Fragen widmen sich die Beiträger aus sehr verschiedenen Richtungen.

Einleitend entfaltet der Herausgeber auf gut 50 Seiten die bisherigen Annäherungen, Positionen und Periodisierungen in diesem Forschungsfeld. Zeiten besonderer Formenstrenge gegenüber Zeiten des Wandels und stärkerer Einbeziehung mündlicher Aspekte, die Frage des Einflusses des römischen Verfahrens werden in sehr luzider und erhellender Weise präsentiert. Ausgehend von einem Zitat des Rechtswissenschaftlers Rudolf von Jhering, die Form sei die Zwillingsschwester der Freiheit, werden hier die Bedeutung und Funktion von formalen Vorgaben und Regeln im Recht diskutiert und deren Bandbreite von Berechenbarkeit der Chancen und des Verhaltens bis hin zu Einschränkung und Kontradiktion von rechtlichen Inhalten aufgezeigt.

Im Anschluss daran entwickelt Joachim Münch anhand einer Analyse der aktuell geltenden Verfahrensvorschriften die Handlungsspielräume von Richtern im Prozess, wobei er die Aktualität und Anschlussfähigkeit des historisch angelegten Themas sehr deutlich hervorhebt. Der Großteil der Beiträge – sieben von elf – ist allerdings konkreten Aspekten des frühneuzeitlichen Zivilprozesses gewidmet. Bernhard Diestelkamp zeigt an vielen Beispielen auf, dass trotz des hohen Stellenwertes der Schriftlichkeit im Kameralprozess doch ein beträchtlicher Anteil mündlicher Kommunikation die Verfahren prägte. In seiner Lektüre der Verordnungen zum Verfahren kann Diestelkamp deutlich machen, dass der mündliche Vortrag der Schriftstücke eine erhebliche Bedeutung im Verfahrensgang besaß. Die Ermahnungen an die Akteure, sich ungeziemlicher Gebärden und Redensarten zu enthalten, verweisen abermals auf Handlungsebenen, die jenseits der schriftlichen Akten lagen und dort erst als Protokoll ihren Eingang fanden.

Im Gegensatz zum Reichskammergericht agierte der Reichshofrat als zweites Gremium der Höchstgerichtsbarkeit wesentlich formloser, wie Eva Ortlieb in ihrer Analyse der Verfahrensverläufe in der Formierungsphase zeigt. Die weniger strengen Formvorgaben beinhalteten aber auch eine gewisse Unberechenbarkeit des Ergebnisses, wie sie anhand einiger Proteste aufzeigen kann. Diese Unterschiede zum Kameralprozess sieht Ortlieb vor allem in der etwas anders gelagerten Funktion des Reichshofrates, die „in erster Linie nicht in der Durchführung von Prozessen, sondern in der Wahrnehmung derjenigen Aufgaben des Kaisers bei der Wahrung des Rechtsfriedens, die nicht mit dem Amt als oberster Richter zusammenfielen“ (S. 134), bestand. Langwierige Verfahren und Abwägungen seien hier eher abträglich, auch die Handlungsspielräume für eine Billigkeitsjustiz wesentlich größer und zudem erwünschter für die innere Friedewahrung im Reichsverband gewesen.

Steffen Schlinker kann in einer Analyse der Entwicklung der Litiskontestation die Modifikationen und Anpassungen herausarbeiten, die auch auf Spielräume und Entwicklungspotenziale innerhalb des Schriftlichkeitsprinzips hinweisen. Aber auch hier wird die Bedeutung der nichtschriftlichen Elemente deutlich, gerade was die Anwesenheit der Prozessparteien an dieser für das Verfahren kritischen Stelle anbelangt.

Einen weiteren kritischen Abschnitt im Prozessverfahren, der ganz erhebliche Gestaltungs-, Interpretations- und Auslegungsspielräume bot, waren die Aktenrelationen, die zur Entscheidungsfindung herangezogen wurden. Dass gerade dieser sensible Bereich einer ganz besonders intensiven Gestaltung durch formale Vorgaben bedurfte, zeigt Filippo Ranieri anhand der theoretischen und didaktischen Literatur für die angehenden Assessoren. Die genauen Vorschriften über Art und Weise der Aktenzusammenfassung sollten die Auslegungsspielräume so präzise und berechenbar wie möglich machen. Diese waren aber nicht nur von dem gelehrten Recht bestimmt, sondern griffen in ihren Begründungen immer wieder auf frühere Entscheidungen des Reichskammergerichts zurück – womit man, so Ranieris These, eine sehr viel größere Bedeutung der Präjudizwirkung reichskammergerichtlicher Rechtsprechung annehmen müsse als bisher.

Welche Bedeutung der Formenstrenge jenseits von Schriftlichkeit und Mündlichkeit in beiden Höchstgerichten zukam, untersucht Barbara Stollberg-Rilinger anhand eines Vergleichs von deren bildlichen Repräsentationen und zeremoniellen Rahmenbedingungen. Während sie für das Reichskammergericht als einer eigenen politischen Reichsinstitution eine unmittelbare Anknüpfung an die Ikonographie der Weltengerichte nachweisen kann, präsentierte sich der Reichshofrat in den Abbildungen eher weniger formal als arbeitendes Kolleg, dafür aber „kaiserunmittelbarer“. Genau umgekehrt stellt sich der Befund im Hinblick auf Zeremoniell und Standesrepräsentation dar, wo die Reichshofräte sehr viel mehr Gestaltungsspielräume im Hinblick auf das höfische Zeremoniell besaßen und damit eine Nähe zum Kaiser ausdrücken konnten, was den Kammerrichtern versagt blieb. Gerade dieses Manko in der Standesrepräsentation sei aber für das Ansehen und letztlich die Akzeptanz des Reichskammergerichts eine starke Belastung gewesen in einer Zeit, in der Politik und Recht wesentlich durch den „äußerlichen Schein“ des Standes bestimmt waren.

Die Frage nach der Gültigkeit, Anerkennung und Funktion von Formvorschriften beantwortet Steffen Wunderlich mit der Analyse dreier Konfliktfälle, die im Kontext habsburgischer Exemtionsansprüche angesiedelt waren. Sehr anschaulich vermag er zu zeigen, dass das völlige Ignorieren von formalrechtlichen Vorschriften durch die habsburgischen Herrscher zu einer Kommunikationsblockade zwischen den Konfliktparteien Habsburg und Reichskammergericht führte. Durch das Nicht-Einhalten von Formregeln, das gerade Ausdruck der ablehnenden Haltung und damit Streitgegenstand war, konnte das Gericht keine adäquaten Mittel zur Reaktion finden, ohne seinen Standpunkt aufzugeben.

Im letzten Beitrag des frühneuzeitlichen Teils stellt Ignacio Czeguhn den Zivilprozess im spanischen Recht vor. Gerade die Frühe Neuzeit sei hier von einer Vielzahl von Bestrebungen geprägt gewesen, den Zivilprozess zu vereinheitlichen. Dass dies aber erst 1855 gelang, war der doppelten Unvereinbarkeit von königlichen und untergerichtlichen Prozessverfahren einerseits und sich widersprechenden Vorschlägen von Praktikern und Wissenschaftlern andererseits geschuldet. Mit der Einbeziehung der untergerichtlichen Prozesse im Vergleich zu den königlichen eröffnet Czeguhn eine Perspektive, die auch für die Erforschung des Zivilprozesses im Reich von Bedeutung wäre – die Frage nach dem Einfluss des Kameralprozesses auf die untergerichtlichen Prozesse in den Territorien bzw. nach Abweichungen und größeren Spielräumen für Billigkeitsentscheidungen.

Den Band beschließen zwei Beiträge, die den Wirkungen von Formen auf die Gestaltung des Zivilprozesses im 19. Jahrhundert nachgehen. Alain Wijffels diskutiert den Einfluss des Code Napoleon und seiner formalen Vorschriften, die in einem Klima verstärkten Bedürfnisses nach Form- und Regelhaftigkeit entstanden. Auch hier liefen die Debatten im Kern um die Frage, inwiefern die Formen im prozeduralen Verfahren der Rechtsfindung dienlich waren oder als eine Art l’art pour l’art eher als hinderlich anzusehen waren. Hans Peter Haferkamp konstatiert in rezeptionsgeschichtlicher Perspektive die ablehnende Meinung der Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts zum Gemeinen Prozess, wobei er gerade die Disparitäten und Heterogenitäten der Diskussion hervorhebt. Unter dem Einfluss der Reichsgesetzgebung konnte sich eine wohlwollendere Haltung gegenüber dem Gemeinen Prozess kaum durchsetzen.

Die Beiträge führen jeder für sich sehr strukturiert und gut zu lesen in die jeweiligen Spezialthemen ein und bieten auch dem inhaltlich weniger ausgewiesenen Leser viele Informationen und Hinführungen. Zugleich beantworten sie aber auch die eingangs aufgeführten Fragen aus verschiedenen, sich ergänzenden und befruchtenden Perspektiven. Insofern mag der in der Einleitung geäußerte Zweifel des Herausgebers beschwichtigt werden, dem Thema könne man im Format Sammelband kaum gerecht werden. Ein derart konsistenter Band kann ein Thema platzieren und die Bedeutung seiner weiteren Erforschung und der Förderung solcher Forschungen unterstreichen. So mag man den dahingehenden Appell des Herausgebers unterstützen und hinzufügen, dass der frühneuzeitliche Zivilprozess nicht nur in den Höchstgerichten zu untersuchen wäre, sondern auch in seinen vielen territorialen Gestalten der Hof-, Go- und Stadtgerichte oder der Konsistorien. Die Aufmerksamkeit für die Bedeutung der Justiznutzung zur alltäglichen Organisation der Kernressourcen des Lebens von sozialem Ansehen und Eigentum ist in den letzten Jahren immens gestiegen, ohne dass jedoch die Verfahrensgrundlagen im Zivilprozess annähernd systematisch erforscht wären.

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