Cover
Title
Cheap Street. London's Street Markets and the Cultures of Informality, c.1850–1939


Author(s)
Kelley, Victoria
Published
Extent
XIII, 205 S.
Price
£ 85.00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Ole Münch, Deutsches Historisches Institut London

Auf den ersten Blick könnte man meinen, „Cheap Street“ sei allein für einen Zirkel ausgewiesener Spezialist:innen geschrieben, die sich für Londoner Stadtgeschichte interessieren. Das Buch handelt von der Entwicklung des informellen Straßenhandels in der Metropole im Zeitraum von 1850 bis 1939. Doch schon in ihren ersten Absätzen macht die Autorin Viktoria Kelley deutlich, dass sie „größere“ Themen im Blick hat – solche, die auch jenseits Londons und des englischen Sprachraums auf Interesse stoßen dürften. Ein Grund liegt darin, dass ihre Geschichte gängigen Meistererzählungen über die wirtschaftliche Entwicklung des 19. Jahrhunderts auf interessante Weise zuwiderläuft.

Eigentlich befand sich der informelle Straßenhandel während dieser Epoche nämlich im Niedergang, so das Narrativ. Doch ausgerechnet London, in vieler Hinsicht die Avantgarde der modernen Konsumkultur, bildete eine Ausnahme. Hier expandierte der Straßenhandel – sogar stärker als man angesichts des Bevölkerungswachstums erwarten könnte. Kelley beleuchtet dieses eigenartige Phänomen, das die Londoner Stadtkultur bis heute prägt, in seiner historischen Entwicklung und geht dabei insbesondere auf seine kulturellen Konsequenzen ein. Was genau bedeutete es für die Londoner – für ihre „materielle Kultur“ –, dass sie umgeben von „informellen“ Straßenmärkten lebten? Wie prägten diese Märkte ihr Selbstverständnis als Londoner?

Kelley, ihres Zeichens Designhistorikerin, zieht Theorien aus unterschiedlichen Disziplinen heran, was das Buch anschlussfähig u.a. an die Wirtschaftsanthropologie, die Gouvernmentalitätsforschung, die Architektur- und Literaturtheorie macht. Bei einer theoretisch so avancierten und durchdachten Studie habe ich allerdings auch Interpretamente vermisst, z.B. die „Ökonomie des Notbehelfs“ (Olwen Hufton). Ein Wirtschaftshistoriker mag beim Stichwort „Informalität“ außerdem an die Institutionenökonomik (Douglass North) denken und sich fragen, wie auf den Londoner Straßen eigentlich „Marktvertrauen“ entstehen konnte – ohne staatliches Zutun.1 Der Begriff kommt bei Kelley nicht vor; es wäre allerdings eine Herausforderung gewesen, ihren Quellen etwas zum Thema abzugewinnen.

Kelley stützt sich als Quellen primär auf eine Reihe einschlägiger proto-sozialwissenschaftlicher Werke und Erhebungen – von Henry Mayhew, Charles Booth sowie dem London County Council und der London School of Economics. Hinzu kommen kleinere Zeitungsartikel und Reportagen, größtenteils von Vertretern der Bourgeoisie, die das Straßentreiben in bunten Farben schildern. Diese Quellen beschreiben ihren Gegenstand freilich von „außen“ und „oben“, tauchen ihn in ein bestimmtes Licht, wie die Autorin einräumt (S. 110). Die Marktbesucher:innen selbst kommen bei Kelley nur in wenigen Passagen zu Wort. Hier hätte man zum Beispiel auf die digitalisierten Gerichtsprotokolle des Old Bailey zurückgreifen können.2 Allerdings geht es Kelley auch nicht (primär) um eine Geschichte „von unten“, sondern aus vielen verschiedenen Blickrichtungen. Bei der Analyse kann sie zumindest passagenweise auf Vorarbeiten zurückgreifen – auf Kulturhistriker:innen wie Judith Walkowitz, Peter Jones und Stephen Jankiewicz, die den Londoner Straßenhandel in den letzten Jahren als Forschungsfeld entdeckt haben.3 Doch insbesondere dort, wo Kelley Architektur- und Literaturtheoretiker heranzieht, betrachtet sie den Gegenstand auf originelle, ganz eigene Weise und gewinnt eine Reihe interessanter Thesen.

In ihrem ersten, einleitenden Kapitel schildert die Autorin zunächst die juristischen und lokalpolitischen Rahmenbedingungen, mit denen sich Straßenhändler in der Metropole konfrontiert sahen. Das Recht, im Londoner Großraum einen Markt zu eröffnen, gehörte seit 1327 allein der City of London Corporation. Im Laufe des 19. Jahrhunderts reformierte und reglementierte die Korporation ihre Märkte allerdings und verlegte sie in großzügige Hallen – ähnlich wie es zur selben Zeit andernorts geschah. In dem Maße, in dem die Metropole wuchs, wurden diese etablierten Markthallen nur noch von Groß- und Zwischenhändlern genutzt. Die Korporation hatte offenbar kein Interesse daran, neue Räume für die einfachen Verbraucher und Einzelhändler zu schaffen und bereitete damit den Boden für Londons Sonderweg; leider erfahren die Leser:innen nicht, welches Kalkül dahinterstand.

Fest steht, dass sich die Londoner Straßenhändler irgendwann über das Marktmonopol der City hinwegsetzten und sich einfach an dieser oder jener Straßenecke trafen – bis die improvisierten Arrangements zur Gewohnheit wurden. Diese neuen Handelsplätze am Rande der Legalität waren darauf angewiesen, dass die Polizei sie duldete. Erst 1927 änderten sich die juristischen Rahmenbedingungen für Straßenhändler grundsätzlich. Seither können sie Lizenzen erwerben und sich offiziell autorisieren. Bis dahin arbeiteten sie weitgehend „informell“ und organisierten sich auf ihren Märkten ohne „von oben“ oktroyierte Regeln.

In diesem Sinne sich selbst überlassen, nisteten sich die Straßenhändler häufig in der Nähe gut besuchter Läden ein, wie Kelley im zweiten Kapitel „Things“ schreibt. Die Geschäfte und die Markstände – die moderne und die althergebrachte Konsumkultur – spielten sich sozusagen gegenseitig Kunden zu (S. 53). Kelley schildert in diesem Kapitel all die Artikel, die man auf Straßenmärkten erwerben konnte. Viele von ihnen wurden in der Metropole selbst hergestellt, erläutert sie, in jenen kleinen Werkstätten und „Sweatshops“, die in den ärmeren Londoner Straßen zu dieser Zeit typisch waren. Die Handwerker konnten ihre Waren auf den informellen Märkten vor ihrer Haustür kostengünstig absetzen. Und vielleicht ist dies einer der Gründe, so Kelley, weshalb sich die Londoner Kleinstbetriebe trotz der Konkurrenz der nordenglischen Fabrikindustrie bis weit ins 20. Jahrhundert wirtschaftlich behaupten konnten (S. 64).

Im Anschluss folgt ein besonders anschauliches Kapitel namens „Streets“, in dem die Autorin ihren Leser:innen die äußere Form Londoner Straßenmärkte vor Augen führt: als Ensemble von Farben und Formen, die im Rhythmus der Großstadt entstehen und vergehen. Man muss die Karren und Klappstände der Straßenhändler als Bestandteile einer „fragilen“ oder „flüchtigen“ Architektur betrachten, argumentiert sie im Anschluss an Juhani Pallasmaa. Der Architekturtheoretiker ist bekannt für eine Position, der zufolge man bei der Analyse von Architektur weniger von einem bewussten Design ausgehen und stattdessen stärker darauf achten sollte, wie der Raum von seinen Benutzer:innen – zum Beispiel Straßenhändler:innen – gelebt und erfahren wird (S. 98).

Diese Straßenhändler:innen stehen dann im nächsten Kapitel im Mittelpunkt, in dem Kelley zunächst schildert, wie sehr sie sich in ihrem sozialen Status voneinander unterschieden. Außerdem arbeitet die Autorin einige informelle Konventionen heraus, die das soziale Leben von Straßenhändler:innen prägten – die Art, wie sie sich gegenseitig halfen und sich einigten. Anschließend reflektiert Kelley, dass ihre Quellen über das Leben der Straßenhändler:innen „gefärbt“ sind.

Aber die Autorin bleibt bei diesem Allgemeinplatz nicht stehen. Stattdessen wendet sie sich im letzten Teil ihres Buches einem Mythos zu, der sich um die informellen Londoner Straßenmärkte entwickelte und die Quellen prägt. Für diesen Mythos spielt der „Costermonger“ eine zentrale Rolle, der als stilisierte Figur etwa seit den 1860er-Jahren in den Quellen greifbar wird. Dabei handelt es sich um einen traditionsbewussten Ostlondoner Obst- und Gemüsehändler, der mit seinem derben, gutmütigen Humor die Grenze zwischen den sozialen Klassen überwindet. Als prägnantes Beispiel nennt Kelley das Musical „Me and My Girl“, das von einem Gemüsehändler aus Lambeth handelt, der unverhofft einen Landsitz erbt, sich in elitären Kreisen wiederfindet und aufgrund seiner Herkunft „aneckt“. Bezeichnend ist, dass alle Akteure am Ende des Singstückes ihre Klassenzugehörigkeit transzendieren und gemeinsam den „Lambeth Walk“ tanzen.

In der Forschung wird oft betont, dass es sich bei Darstellungen wie dieser um stilisierte Repräsentationen handelt. Kelley argumentiert hingegen, dass die fiktiven Charaktere vom realen Markttreiben zumindest inspiriert seien (S. 139, 165). Sie versucht die Geschichte der Märkte selbst und ihrer Repräsentation aufeinander zu beziehen, indem sie den Begriff „karnevalesk“ ins Feld führt. Damit lehnt sich die Autorin an eine einschlägige Studie von Allon White und Peter Stallybrass an (S. 153–159)4, die sich unter anderem mit Marktplätzen in der frühen Neuzeit beschäftigt und sie als „karnevaleske“ (Bakhtin) Orte beschrieben haben, wo die etablierte Ordnung im vulgären Vergnügen und in satirischen Possen untergeht. Die Hierarchien hätten sich dort verkehrt, soziale Kategorien vermischt und eingeebnet.

Kelley argumentiert, die informellen Londoner Straßenmärkte hätten mit ihrer spezifischen Geräuschkulisse, ihrer flüchtigen Architektur und ihrem bunten Durcheinander, diese althergebrachte „transgressive“ Tradition aus der Vormoderne fortgeführt (S. 165). An dieser Stelle drängt sich ein Einwand auf. Es ist richtig – und passt zu meinen eigenen Beobachtungen –, dass die gesellschaftliche Ordnung, wie zeitgenössische Sozialreformer sie sich vorstellten, auf den Londoner Straßenmärkten instabil wurde. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich die Marktbesucher:innen nun in einem „karnevalesken“ Raum jenseits jeglicher Ordnung befanden. Stattdessen muss man Straßenmärkte als soziale Entitäten betrachten, die eigene Kategorien hervorbrachten, sich nach eigenen Regeln organisierten. Auf dem von mir untersuchten Rag Fair jedenfalls entwickelten sich Klientelnetzwerke und politische Assoziationen; außerdem gab es Familienbande, die das Geschehen bestimmten.5 Der Begriff des „Karnevals“ erhellt die literarische und künstlerische Funktion der Londoner Straßenmärkte, doch er verschleiert die soziale Dynamik, die auf den Märkten herrschte.

Trotz dieses einen Vorbehalts ist Kelleys Buch allen zu empfehlen, die sich für die Wechselwirkung zwischen Wirtschafts- und Kulturgeschichte interessieren. Die Autorin beschreibt die Genese einer populärkulturellen Fantasie, der zufolge informeller Straßenhandel in karnevalesker Manier die Grenzen zwischen den Klassen überbrückt und London in eine „imaginierte Gemeinschaft“ verwandelt – eine Vorstellung, die insbesondere zu Zeiten des Bombenkriegs wichtig wurde.

Darüber hinaus belegt Kelley in ihrem Buch, dass informeller Straßenhandel und moderne Konsumkultur durchaus vereinbar waren – zumindest in London. Bleibt die Frage, was genau diese Erkenntnis für die eingangs erwähnte Meistererzählung bedeutet. Haben informelle Straßenmärkte nun doch einen Platz in der Moderne? Oder nur unter bestimmten Umständen? Was erfahren wir am Beispiel London über die sozialen Mechanismen, die die wirtschaftliche Modernisierung vorantrieben? Es wäre interessant, hierzu einen Vertreter der Wirtschaftsgeschichte zu hören.

Anmerkungen:
1 Siehe hierzu Hartmut Berghoff, Die Zähmung des entfesselten Prometheus? Die Generierung von Vertrauenskapital und die Konstruktion des Marktes im Industrialisierungs- und Globalisierungsprozess, in: ders. / Jacob Vogel (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt am Main 2004, S 143–168.
2 Siehe URL: <https://www.oldbaileyonline.org> (23.09.2022).
3 Siehe den Überblick bei Peter Jones, Redressing Reform Narratives, in: The London Journal 41 (2016) H. 1, S. 60–81, hier S. 61.
4 Allon White / Peter Stallybrass, The Politics and Poetics of Transgression, New York 1986, Kap. 1.
5 Vgl. Ole Münch, Cutler Street Market. Interkultureller Austausch im Londoner East End, Göttingen 2022.

Editors Information
Published on
Author(s)
Contributor
Edited by
Classification
Regional Classification
Book Services
Contents and Reviews
Availability
Additional Informations
Language of publication
Language of review