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Titel
Das Fleisch der Republik. Ein Lebensmittel und die Entstehung der modernen Landwirtschaft in Westdeutschland 1950–1990


Autor(en)
Führer, Karl Christian
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte
Erschienen
Anzahl Seiten
521 S.
Preis
€ 74,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Laura-Elena Keck, Research Centre Global Dynamics / Leipzig Lab Global Health, Universität Leipzig

Von der BSE-Krise der 1990er-Jahre über Corona-Ausbrüche in den Tönnies-Fleischfabriken 2020 bis zum jüngsten Westfleisch-Skandal 2022 ist das Thema Massentierhaltung in Deutschland medial und politisch immer wieder präsent gewesen. Ihre Geschichte und die Bedingungen, unter denen sich diese Form der Fleischproduktion durchsetzen konnte, bleiben dabei aber meist im Dunkeln. Umso begrüßenswerter ist es, dass sich in jüngster Zeit zunehmend auch Historiker:innen diesem Thema widmen und der Diskussion dadurch mehr Tiefenschärfe verleihen.1 Karl Christian Führer reiht sich mit seiner Untersuchung zur Geschichte des bundesdeutschen Vermarktungssystems für Vieh und Fleisch in diesen Trend ein.

Sein Hauptinteresse gilt den Entstehungsbedingungen des „heute vielfach so heftig als ökologisch zerstörerisch und inhuman kritisierten Produktionssystem[s]“ (S. 1). Dem Bereich der Landwirtschaft und den massiven Veränderungen in der Tierhaltung wendet er sich jedoch erst ganz am Ende seiner Untersuchung zu: Er nähert sich dem Hauptthema quasi „von hinten“, von der anderen Seite des Marktes her. Am Anfang steht – nach einem kurzen Kapitel zur Vorgeschichte, in dem die (neue) „Ordnung des deutschen Fleischmarktes“ um 1900 beschrieben wird – die Ebene des Konsums. Von dort ausgehend, verfolgt er den Weg des Produkts Fleisch in drei weiteren Kapiteln über Supermärkte und Schlachthöfe zurück bis in den Stall, an seinen Ausgangspunkt. Dabei stützt er sich auf Quellen aus staatlichen Archiven, vor allem aber auf die umfangreiche Fachpublizistik der jeweiligen Branchen.

Diese Gliederung verdeutlicht sowohl das Konzept als auch eine zentrale These des Buches: Führer möchte die Landwirtschaft nicht als isolierten Teil des Fleischmarktes untersuchen, sondern gerade die Verwobenheit aller Marktsegmente in den Blick nehmen. Dabei kommt er zu der Erkenntnis, dass diese Segmente keineswegs (mehr oder weniger) gleichberechtigt miteinander interagierten, sondern dass vielmehr ein deutliches Ungleichgewicht herrschte: Der bundesdeutsche Fleischmarkt zwischen 1950 und 1990 war, so resümiert er an mehreren Stellen, ein „reiner Käufermarkt“ (S. 288). Der Konsumsektor steht dementsprechend nicht nur am Beginn der Gliederung. Er wird in den folgenden Kapiteln auch als der Ort sichtbar gemacht, von dem aus sich in den Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg ein starker Preis- und Konkurrenzdruck in die übrigen Marktsegmente ausbreitete, der im Verbund mit technischen und wissenschaftlichen Innovationen für eine grundlegende Umgestaltung von Tierhaltung, Fleischproduktion und -vertrieb sorgte.

Der durchschnittliche Pro-Kopf-Fleischkonsum in der Bundesrepublik stieg bis 1980, allen Prognosen von Expert:innen aus Wirtschaft und Politik zum Trotz, immer weiter an. Fleisch wurde für die meisten Konsument:innen, anders als vor 1950, ein zentraler Bestandteil der Alltagsernährung, der einen beträchtlichen Teil des Lebensmittelbudgets verschlang und mehrmals pro Woche gekauft wurde. Diese Besonderheiten machten sich, wie Führer in Kapitel III zeigt, die neu entstehenden Supermärkte rasch zunutze: Sie investierten, trotz erhöhter Personalkosten und aufwendiger hygienischer Vorschriften, in die Einrichtung von „Frischetheken“, die mit einem umfangreichen Fleischangebot und regelmäßigen Sonderangeboten Kund:innen in den Laden locken sollten. Parallel und in enger Wechselwirkung damit veränderten sich auch die vorgeschalteten Produktionsebenen (Kapitel IV und V): Die öffentlichen Schlachthöfe und Viehmärkte, die sich um 1900 als Rückgrat eines neuen, zentralisierten Fleischmarktsystems herausgebildet hatten, wurden zunehmend durch weitgehend automatisierte und hocheffiziente „Versandschlachthöfe“ ersetzt. Geschlachtet wurde nun nicht mehr in den Städten, sondern in der Nähe der landwirtschaftlichen Betriebe. Statt lebende Tiere zu verkaufen, wurden die Landwirt:innen zunehmend im Rahmen der „Totvermarktung“ entlohnt (und dadurch viel unmittelbarer mit den Wünschen der Konsument:innen konfrontiert). In den Ställen selbst wuchs neben der Anzahl der (zunehmend auf die Bedürfnisse des Marktes hingezüchteten) Tiere auch der Katalog der Rationalisierungsmaßnahmen, mit denen Kosten und vor allem Arbeitskräfte eingespart werden sollten.

Führer beschreibt anschaulich und überzeugend, wie diese Entwicklungen in den unterschiedlichen Marktsegmenten ineinandergriffen und einander bedingten. Auf allen Ebenen fanden Konzentrations- und teilweise auch vertikale Integrationsprozesse statt, mit denen insbesondere die neu entstehenden Versandschlachthöfe weit über ihr ursprüngliches Betätigungsfeld hinaus expandierten und sich von Zuchtprogrammen über die Fleischverarbeitung in beinahe allen Marktsegmenten etablierten. Gleichzeitig hatten aber auch die größten Betriebe mit den geringen Gewinnmargen zu kämpfen, die einer Reihe von Besonderheiten des Fleischmarktes geschuldet waren. Die Supermärkte und Discounter, die sich gegenseitig mit Billigpreisen unterboten, gaben den Preisdruck entlang der Produktionskette weiter. Versuche, Qualitätsfleisch als (teureres) Markenprodukt zu etablieren, scheiterten am Kaufverhalten der Konsument:innen, für die der Preis – trotz mehrerer Fleischskandale seit den 1970er-Jahren (Kap. II.4.) – das wichtigste Kriterium blieb.

Daraus ergaben sich zwangsläufig Konsequenzen für die landwirtschaftliche Produktion. Die radikalen Veränderungen in der Tierhaltung waren, so Führer, weder das Ergebnis einer Eigendynamik des technischen Fortschritts noch die Folge übermäßigen Profitstrebens, sondern vielmehr eine betriebswirtschaftliche Notwendigkeit für Landwirt:innen, die auf diesem schwierigen Markt bestehen wollten: „Die Einbindung der Landwirtschaft in den Lebensmittelmarkt der modernen Konsumgesellschaft hatte diesen Wandel erzwungen.“ (S. 477) Das galt für kleine und mittelgroße Höfe ebenso wie für die vielfach als „Agrarfabriken“ geschmähten Großmastbetriebe. Eine trennscharfe Abgrenzung war – den idealisierten Vorstellungen von „traditionellen“ Bauernhöfen zum Trotz – kaum noch möglich. Die agrarpolitisch motivierten Interventionen gegen die Massentierhaltung, denen Führer sich im abschließenden Kapitel VI kurz widmet, hatten auch deshalb keinen Erfolg, weil sie die enge Vernetzung der unterschiedlichen Marktsegmente unterschätzten: Eine „Agrarpolitik, die sich nur mit den Bauern beschäftigte, [musste] notwendigerweise scheitern“ (S. 487).

Führer legt eine sehr detailreiche, klar strukturierte Studie vor, die einen ausgezeichneten Überblick zu den zentralen Entwicklungen und Besonderheiten des westdeutschen Fleischmarktes seit den 1950er-Jahren gibt. Dabei gelingt es ihm, nicht nur große Linien herauszuarbeiten, sondern gleichzeitig auch den Blick für heterogene Prozesse zu schärfen. So zeigt er etwa, dass die Modernisierung der Schweine- und Hühnerhaltung in der Bundesrepublik sehr unterschiedlich verlief und es somit keinen einheitlichen Weg hin zu einer „Agrarindustrie“ gab. Erhellend ist auch sein differenzierter Blick auf die unterschiedlichen Einstellungen der Landwirt:innen zu den neuen Haltungsformen, die er nicht einfach als Beharren auf Traditionen abtut, sondern als Ausdruck einer eigenen, betriebswirtschaftlichen Logik gelten lässt, die sich aus den Grenzen der Rationalisierbarkeit lebender Objekte ergibt.

Wünschenswert wäre eine etwas stärker inter- und transnational orientierte Perspektive gewesen. Zwar wird der Agrarpolitik der EG als übergeordnetem Rahmen recht viel Raum gegeben, besonders im Kapitel zur Rinderhaltung. Verweise auf die Entwicklungen in anderen Ländern und auf Austauschprozesse über nationale Grenzen hinweg sind – mit Ausnahme des Kapitels zur Hühnerhaltung (V.1.), in dem ausführlich auf die Abhängigkeit von Wissens- und Technologietransfers besonders aus den USA eingegangen wird – hingegen eher rar gesät. Auch die DDR spielt so gut wie keine Rolle. Das ist angesichts des begrenzten Raumes zwar legitim und verständlich. Dennoch wäre zumindest eine kurze Positionierung zu der vorhandenen (und in der Einleitung durchaus erwähnten) Literatur zur Geschichte der landwirtschaftlichen Tierhaltung in der DDR hilfreich gewesen – gerade vor dem Hintergrund der kürzlich geäußerten These, dass trotz der jahrzehntelangen Systemkonkurrenz um 1990 die Ähnlichkeiten in ost- und westdeutschen Ställen dominierten.2 Dieser Befund legt die Vermutung nahe, dass neben dem spezifischen Marktsystem in der Bundesrepublik noch andere Faktoren bei der Transformation der landwirtschaftlichen Tierhaltung eine Rolle spielten.

Seine durch Aufbau und Inhalt der Arbeit dokumentierte Hauptthese bringt Führer in der Schlussbetrachtung noch einmal prägnant auf den Punkt: „Auf diesem Markt herrschten die Konsumenten. Sie setzten und hielten ihn in Bewegung – und sie bekamen, was sie wollten.“ (S. 488) Trotz dieser zentralen Stellung, die der Autor den Konsument:innen zubilligt, bleiben diese in der Analyse allerdings eher blass. Die Fragen, warum Fleisch überhaupt so einen zentralen Stellenwert hatte (und behielt), warum sich bestimmte Geschmackspräferenzen entwickelten oder warum der Preis – trotz steigender Kaufkraft – für viele Konsument:innen das entscheidende Kriterium bei der Fleischauswahl blieb, werden kaum beantwortet oder werden mit eher allgemeinen Verweisen auf Schönheitsideale oder Geschlechterverhältnisse abgehandelt. Das ist der Anlage und dem Interesse des Buches geschuldet: Es handelt sich im Kern um eine wirtschaftshistorische Studie, die die Effekte von Marktlogiken in den Vordergrund stellt, weniger die Gründe. Dennoch wäre eine stärkere Einbeziehung der inzwischen zahlreichen kulturhistorischen Beiträge zu Ernährung und Fleischkonsum hilfreich gewesen, um weitere Akteur:innen des Fleischmarktes – etwa Ernährungswissenschaftler:innen und Mediziner:innen, die Werbewirtschaft oder die Tierschutz- und Ökologiebewegungen – in den Blick zu nehmen und die Funktionslogiken dieses Marktes noch besser zu verstehen. Die Konsument:innen verfüg(t)en zweifelsfrei über viel Einfluss – doch ein bloßer Appell an ihre Verantwortung greift womöglich zu kurz, wenn es darum geht, „die Weichen für die Zukunft neu zu stellen“ (S. 12).

Anmerkungen:
1 Vgl. zuletzt v.a. Veronika Settele, Revolution im Stall. Landwirtschaftliche Tierhaltung in Deutschland 1945–1990, Göttingen 2020; für ein breiteres Publikum auch dies., Deutsche Fleischarbeit. Geschichte der Massentierhaltung von den Anfängen bis heute, München 2022; sowie zur Frühphase Christian Kassung, Fleisch. Die Geschichte einer Industrialisierung, Paderborn 2021.
2 Vgl. Settele, Revolution im Stall, S. 14. Zur Geschichte der Fleischproduktion in der DDR vgl. außerdem Thomas Fleischman, Communist Pigs. An Animal History of East Germany’s Rise and Fall, Seattle 2020, sowie Patrice G. Poutrus, Die Erfindung des Goldbroilers. Über den Zusammenhang zwischen Herrschaftssicherung und Konsumentwicklung in der DDR, Köln 2002, https://doi.org/10.14765/zzf.dok.1.100.v1 (19.04.2023).

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