Cover
Titel
Digital History. Konzepte, Methoden und Kritiken Digitaler Geschichtswissenschaft


Herausgeber
Döring, Karoline; Haas, Stefan; König, Mareike; Wettlaufer, Jörg
Reihe
Studies in Digital History and Hermeneutics
Erschienen
Anzahl Seiten
VII, 361 S.
Preis
€ 49,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Torsten Kahlert, Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel

Dieser Tage wird gern mal eine Konferenz mit einer KI-generierten Rede eröffnet, bisweilen zum Erstaunen des Publikums, wenn die „Autorschaft“ am Ende preisgegeben wird. Warum nicht auch eine Rezension? Und dann sogar passend zum Thema. Es wäre ein Leichtes gewesen, die Besprechung des Sammelbandes über „Konzepte, Methoden und Kritiken Digitaler Geschichtswissenschaft“ von einer solchen programmierten Intelligenz schreiben zu lassen – ich habe es probiert. Einigermaßen beeindruckt über die Fähigkeit der KI, grundsätzlich sinnvolle Sätze zu bilden, war ich aber zu ernüchtert ob der fehlenden Tiefe und der Floskelhaftigkeit, um dem Experiment einer KI-generierten Rezension hier Raum zu geben. Da das Buch im Open Access erschienen ist, können Interessierte es gern selbst einmal auf den Versuch ankommen lassen.

Die auf digitale Methoden gestützten Geisteswissenschaften haben sich in den letzten Jahren immer weiter ausdifferenziert, gerade auch in der historischen Forschung. Die Gründung von neuen Zeitschriften wie dem Journal of Digital History oder von wissenschaftlichen Reihen wie den Studies in Digital History and Hermeneutics sind sichtbare Zeichen dafür.1 Der vorliegende Sammelband aus dieser Reihe geht auf eine Tagung zurück, die inmitten der Pandemie 2021 online stattfinden musste.2 Er vereint in vier Abschnitten insgesamt 17 Beiträge und legt damit eine aktuelle Standortbestimmung digitaler Geschichtswissenschaft vor. Statt hier alle und letztlich keinen Beitrag zu besprechen, werde ich ein paar wiederkehrende Motive und Schwerpunkte der Publikation aufgreifen.

Der Band beansprucht Bilanz zu ziehen, wie die Digitalisierung die historische Forschung und Lehre verändert hat. Digital History, so die Herausgeber:innen in der etwas knapp geratenen Einleitung, hat die ältere „Historische Fachinformatik“ abgelöst oder sie nach dem Aufkommen der Digital Humanities vielmehr erneuert.3 Der Selbstfindungsprozess sei weiter im Fluss und deshalb auch die Frage noch offen, „wie Geschichtsforschung durchgeführt und kommuniziert wird“. Klarheit herrscht hingegen bei der Definition, was die Digital History zusammenhält: Sie sei „eine Community of Practice“ (S. 7).

Die Aufsatzsammlung bietet einen offenen, kritischen Dialog innerhalb der zuweilen mit harten Bandagen geführten Diskussion um Potenziale der Digital History gegenüber dem Einwand, nicht oder zu wenig geliefert zu haben und nur ein „ewiges Versprechen“ zu sein (S. 7). Dieser Dialog, das sei vorweggeschickt, ist den Autor:innen durchaus gelungen. Anders als noch in früheren Beiträgen fällt eine gute Balance ins Auge, die kritische Selbstreflexion und Entwicklungsmöglichkeiten austariert. Im Mittelpunkt steht eine weitgehend unideologische, sachliche Sicht auf den Stand der Dinge. Die Einleitung hätte nach meinem Eindruck trotzdem etwas ausführlicher das Feld, die Debatten, den Stand der Digital History einordnen können.

Mehrere wiederkehrende Motive durchziehen den Band. Einer dieser Stränge ist die methodische Reflexion über Zeit und Raum und deren Wahrnehmung in der Folge der Digitalisierung. Ein weiterer ist das intensive Nachdenken über digitale Quellen- und Methodenkritik, inklusive einer kritischen Betrachtung der angewandten Tools und ihrer Funktionsweise, verbunden mit der Frage nach epistemologischen Implikationen der Digitalisierung bzw. Digitalität der historischen Forschung. Schließlich taucht in mehreren Beiträgen das heuristische Potenzial der digitalen Methoden auf.

In Torsten Hiltmanns Text, der den Vergleich der gegenwärtigen Digitalisierung mit früheren medialen Umbrüchen sucht, wird einmal mehr deutlich, wie grundlegend der Schritt vom Analogen zum Digitalen war und ist und wie viel länger der Umwälzungsprozess uns vermutlich noch begleiten wird. In der geschichtswissenschaftlichen Praxis sieht Hiltmann die Historiker:innen zwar mit digitalen oder digitalisierten Beständen, aber insgesamt noch kaum im engeren Sinne digital arbeiten, sprich auf Datenebene mit digitalen Methoden.

Andreas Fickers interessiert in seinem (deutschsprachigen) Beitrag, „[w]hat the D does to history“. Er reflektiert über Vorstellungen von Zeit, historischer Imagination und Erfahrung und fragt danach, ob „wir es beim Zeitalter der Digitalität mit einem neuen Zeitregime zu tun“ haben (S. 50). Er greift dabei auf den auch von anderen Forscher:innen konstatierten „Präsentismus“ zurück (S. 51, dort mit der Fehlschreibung „Päsentismus“). Fickers geht davon aus, dass die eher positivistisch orientierte Herangehensweise des Suchens nach Mustern und Trends in digitalen Quellenbeständen erst dann „neue Impulse zur Theoriebildung komplexer historischer Prozesse beitragen“ werde, „wenn die auf Mustererkennung und Häufigkeitsverteilungen spezialisierten Algorithmen zu dynamischen Simulationen historischen Wandels weiterentwickelt werden können“ (S. 58). Daran knüpft Leif Scheuermanns Beitrag an. Er zeigt, wie mit Simulationen und Modellrechnungen gearbeitet werden kann, wie mit ihnen beispielsweise Widersprüche in historischen Quellen aufgedeckt werden können, was dann wiederum neue Fragen an bekannte Quellen eröffne. Auch Silke Schwandt sieht „Zeit und Wandel“ als Konzepte, „die im Zeitalter der Digitalisierung neu diskutiert werden müssen“ (S. 192). Am Beispiel unterschiedlicher Modellierungen und Visualisierungen von Geschichte in Linien oder konzentrischen Kreisen geht sie der Frage nach dem (Mehr-)Wert von Visualisierungen historischer Prozesse für die Geschichtsforschung nach, verliert dabei aber auch die Grenzen und Herausforderungen nicht aus dem Blick, beispielsweise des Verständnisses darüber, wie die Algorithmen genau arbeiten, die solche Visualisierungen erzeugen. Die Möglichkeit des vergleichenden Betrachtens und das interaktive Benutzen von Visualisierungen erlaube es, mit „verschiedenen Ansichten von Zeit und Geschichte zu spielen“ (S. 209).

Neben der Frage nach der veränderten Wahrnehmung von Zeit und Geschichte im Digitalen sehen mehrere Beiträge insbesondere heuristisches Potenzial in digitalen Analysen. Diese Art der Nutzung ist nicht unbedingt neu. Dennoch ist sie sehr hilfreich, um große Quellenbestände zu überblicken und zu explorieren. Der Beitrag von Florian Windhager, Eva Mayr, Matthias Schlögl und Maximilian Kaiser setzt sich mit der visuellen Analyse von verknüpften biographischen Datenbanken auseinander. Der Beitrag von Stefan Haas und Christian Wachter fokussiert auf Visual Heuristics. Auch Topic-Modellierung sieht Melanie Althage in ihrem Aufsatz insbesondere für heuristische Zwecke als gut geeignet an. Es ist oft nicht damit getan, ein funktionierendes Tool mit Daten zu füttern und das Ergebnis zu interpretieren. Sie verbindet ihren Beitrag über „Potenziale und Grenzen der Topic-Modellierung mit Latent Dirichlet Allocation (LDA) für die Digital History“ mit dem Plädoyer für mehr Studien, die sich „mit den methodologisch-epistemologischen Auswirkungen“ der Nutzung von derartigen Werkzeugen auseinandersetzen (S. 257). Zugleich empfiehlt sie, über LDA als weit verbreitete Methode hinauszugehen und auch andere Modelle zu verwenden, beispielsweise Dynamic Topic Modeling.

Einen wissenschaftshistorisch spannenden Beitrag liefert Moritz Feichtinger: Er umreißt, wie die US-Armee schon während des Vietnamkrieges versuchte, mittels elektronischer Datenverarbeitung soziale Dynamiken zu beobachten und sich die Ergebnisse für die Kriegsführung nutzbar zu machen. Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind drei Paradoxien digitaler Quellen. Sie sind erstens im Überfluss vorhanden – und dennoch scheint Mangel zu herrschen, oder die Befürchtung eines digitalen, dunklen Zeitalters. Zweitens seien digital-born-Quellen flüchtig und persistent zugleich. Die dritte paradoxe Eigenschaft digitaler Quellen sei schließlich ihre Abstraktheit als digitale Repräsentation von Informationen bei gleichzeitiger materieller Gebundenheit an spezifische Hard- und Software, die sowohl für Archive als auch für die Erforschung erhebliche Schwierigkeiten mit sich bringe. Feichtinger rät der Digital History, sich mit der experimentellen Medienarchäologie auszutauschen, um die „Kernkompetenz, die Kritik und Kontextualisierung von historischen Quellen, auch im digitalen Zeitalter nutzbar zu machen“ (S. 249).

Die Beiträge bieten insgesamt einen guten Überblick zum expandierenden Feld der Digital History. Es finden sich noch weitere Texte etwa zum digitalen Edieren, zur digitalen Lehre sowie zur Wissenschaftskommunikation und Public History, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann. Da das Buch hybrid erschienen ist, sowohl im Print als auch im Open Access, lassen sich alle Beiträge bequem online einsehen.

Ganz weg ist die Rede vom Potenzial und dem Versprechen, was mit digitalen Methoden alles möglich sei, noch nicht. Und auch nicht alle Beiträge halten die gleiche analytische Flughöhe. Der Band zeigt aber, dass die digitale Geschichtswissenschaft insgesamt mehr Bodenhaftung bekommen hat und gerade dadurch in der Lage ist, abstraktere Dimensionen und größere Zeiträume zu reflektieren. Besonders im Bereich der Methoden- und Quellenkritik, aber auch im Bereich der (digitalen) Hermeneutik gibt es viel zu tun. Gleichsam als Motto eignet sich, was Tobias Hodel am Schluss seines Aufsatzes „Die Maschine und die Geschichtswissenschaft“ festhält: „Der machine learning turn führt nicht zu einer Abkehr von der historischen Methode, sondern vielmehr zu einer neuen Art der Beschäftigung mit Quellen, die nicht nur den Aussagewert beurteilt, sondern gleichzeitig auch die (automatisierte) Beschäftigung damit berücksichtigt.“ (S. 77)

Anmerkungen:
1 Sowohl die Zeitschrift als auch die Reihe (beide erscheinen seit 2021) basieren auf der Zusammenarbeit des Centre for Contemporary and Digital History (C2DH) in Luxemburg mit dem Verlag De Gruyter. Andere Verlage entwickeln aber ebenfalls Angebote zu diesem Themenfeld. Genannt sei etwa die Reihe „Geschichte des digitalen Zeitalters“ bei Springer: https://www.springer.com/series/15763 (28.04.2023).
2 Siehe den Bericht von Fabian Dombrowski und Sarah Wolff, in: H-Soz-Kult, 21.09.2021, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-127605 (28.04.2023).
3 Dazu ausführlicher: Mareike König, Die digitale Transformation als reflexiver turn. Einführende Literatur zur digitalen Geschichte im Überblick, in: Neue Politische Literatur 66 (2021), S. 37–60, https://doi.org/10.1007/s42520-020-00322-2 (28.04.2023).

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