Er gehört zu den großen Unbekannten der Zwischenkriegszeit: Der Jurist und Bankier Carl Melchior (1871–1933), Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei und Teilhaber der Hamburger Warburg-Bank, war von den Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen nach dem Ersten Weltkrieg bis zum Ende der Reparationen 1932/1933 fast ununterbrochen als Deutschlands führender Finanzdiplomat im Dienst der Weimarer Republik tätig. Keine Darstellung zum Versailler Frieden sowie zur Außen- und Wirtschaftspolitik von 1918 bis 1933 kommt ohne den Bezug auf Carl Melchior aus.
Nachdem er während des Ersten Weltkriegs durch den Abschluss großer Getreidedeals mit Rumänien die Lebensmittelversorgung der blockadegebeutelten Mittelmächte erheblich verbessert hatte, wurde Melchior 1918 Vorsitzender der Finanz-, Ernährungs- und Schifffahrtskommission der deutschen Waffenstillstandsdelegation. Anschließend hatte er als stellvertretender Chef der deutschen Hauptdelegation und gleichzeitiger Leiter der Finanzdelegation eine Schlüsselposition bei den Versailler Friedensverhandlungen inne. Den Versailler Vertrag lehnte er als inakzeptabel ab und nutzte hernach auf den Konferenzen von Spa (1920) bis Lausanne (1932) sein großes internationales Ansehen für Deutschlands weltwirtschaftliche Reintegration. Auch als Mitgründer und Mentor des Hamburger Instituts für Auswärtige Politik und der Zeitschrift „Europäische Gespräche“ setzte sein friedlicher Revisionismus auf Verständigung.
Im In- und Ausland wurde das Ende der Reparationen 1932 weithin als Melchiors Verdienst gesehen. 1929 wurde er zum Vorsitzenden des Finanzkomitees des Völkerbunds und 1932 zum Vizepräsidenten der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel gewählt. Die lagerübergreifende Wertschätzung machte den bescheiden auftretenden Mann als Sachverständigen und Unterhändler Deutschlands zu einem seltenen Beispiel für Kontinuität in der politischen Erdbebenlandschaft der Weimarer Republik.
Pläne für eine Biografie Melchiors gab es bereits nach seinem frühen Tod am 30. Dezember 1933; während der NS-Zeit konnten sie jedoch nicht realisiert werden.1 Nach 1945 ist eine eingehende Würdigung Melchiors dann vielfach, aber erfolglos angemahnt worden – unter anderem von Knut Borchardt, Werner Mosse und Robert Skidelsky. Ein 1967 veröffentlichtes Gedenkbuch ehemaliger Weggefährten von John Maynard Keynes bis Hans Schäffer ist zwar als Freundschaftsbeweis bemerkenswert, hat jedoch ein Klischee vom selbstlosen Finanzgenie etabliert.2 Typisch blieb die Stiftung des Carl-Melchior-Gedächtnis-Lehrstuhls für Internationale Wirtschaftspolitik (1998–2012 Melchior Minerva Center for Economic Growth) durch die Bundesregierung 1984 in Jerusalem: In der Dokumentation zum Festakt mit Bundeskanzler Helmut Kohl an der Hebräischen Universität ist nahezu kein Lebensdatum Melchiors – geschweige denn seine Tätigkeit – korrekt wiedergegeben.3 Erst 2019 hat eine Kabinettausstellung im Jüdischen Museum Berlin verlässliche Basisdaten und Bruchstücke einer Biografie geliefert.4
Folglich ist es zu begrüßen, dass die von Hermann Simon herausgegebene und erfreulich diverse Reihe „Jüdische Miniaturen“ sich in Band 303 jetzt Carl Melchior widmet. Die Autorin Ina Lorenz, ehemals stellvertretende Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg, ist mit grundlegenden Monografien und Editionen zur Geschichte der Hamburger Juden hervorgetreten und hat zu der Reihe „Jüdische Miniaturen“ bereits vier Biografien beigetragen.
Angesichts des schönen Formats und der großen Verdienste der Autorin sagt man es besonders ungern: Dieses Buch ist weitgehend misslungen. Auf der Basis eines überholten Forschungsstands und fehlenden Quellenstudiums wird eine verklärende Skizze geboten, in der man über Carl Melchior wenig erfährt. Eine „Miniatur“ kann zweifellos keine umfassende Biographie ersetzen, aber die Lücken, die dieses kleine Büchlein aufweist, sind gravierend.
Gleich eingangs setzt das chronologisch gegliederte Buch einen pathetischen Ton mit Zitaten aus dem Gedenkbuch von 1967: „unendliche Geduld und Selbstbeherrschung“, „unerschütterliche Rechtschaffenheit“, „oft in tiefer Resignation“ (S. 7). Obwohl Albert Einstein und andere Melchiors trockenen Humor rühmten, wird das überkommene Bild einer asketischen Heiligenfigur fortgeschrieben.
Nach der Skizze des Familienhintergrunds folgt eine kursorische Behandlung seiner kriegswichtigen Tätigkeit als Vorstand der Zentralen Einkaufsgesellschaft, die Melchior nach Fronteinsatz und Verwundung 1915 antrat. Wesentliche Aspekte fehlen aber, zumal solche, die einer kritischen Würdigung bedurft hätten: Dazu gehört Melchiors Rolle als deutscher Wirtschaftsvertreter in Bukarest 1915/1916, als Finanzreferent des Grafen Mirbach im bolschewistischen Russland und beim Frieden von Brest-Litovsk 1917/1918 sowie als Berater des von Deutschland eingesetzten Hetman Skoropads’kyj in der Ukraine 1918.
Über sechzig Seiten wird statt einer Biografie Melchiors eher eine Chronik der Friedens- und Reparationskonferenzen seit 1919 geboten, die sich zudem weitgehend auf die Darstellung des während der NS-Zeit exponierten Staatsrechtlers Ernst Rudolf Huber verlässt. Hingegen bleibt die langjährige Verbindung mit John Maynard Keynes unausgeleuchtet; und sogar die Berliner Geheimklausur mit Melchior, Reichskanzler Cuno und Außenminister von Rosenberg, während der Keynes eigenhändig die deutsche Reparationsnote vom 8. Juni 1923 umschrieb, wird nicht erwähnt.5
Im Kapitel „Antisemitische Anfeindungen“ hätte der Verleumdungsprozess, den Melchior und sein Kompagnon Max Warburg über drei Instanzen gegen den Berufsantisemiten und NSDAP-Reichstagsabgeordneten Theodor Fritsch anstrengten, eine ausführlichere Darstellung verdient. Ausgespart werden auch die vielen Angriffe, denen Melchior aus der rechtsextremen Presse ausgesetzt war.
Dürftig fällt der Abschnitt zur Melchiors Profession als Bankier und Manager aus, der bloß seine Aufsichtsratsmandate auflistet. Und auch das Kapitel zur jüdischen Selbsthilfe gegen das NS-Regime, der sich Melchior zum Ende seines Lebens mit der Gründung des Zentralausschusses der deutschen Juden für Hilfe und Aufbau zuwandte, enttäuscht mit seiner Kargheit. Gegen Deutschlands „inneres Versailles“ (Thomas Mann) schrieb er im Mai 1933 an Reichspräsident von Hindenburg: „Ich spüre aus tiefster Überzeugung, dass die Welt nicht gewillt sein wird, Deutschland Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wenn es nicht selbst Gerechtigkeit übt“.6
So sehr zu begrüßen ist, dass Carl Melchior wieder Aufmerksamkeit geschenkt wird, so wird doch eine Biografie, die diesem wichtigen jüdischen Akteur gerecht wird, eine noch zu leistende Aufgabe für künftige Forscher:innen bleiben.
Anmerkungen:
1 Im Gespräch waren der leitende Ministerialbeamte und Manager Hans Schäffer, der spätere Frankfurter Wirtschafts- und Sozialhistoriker Ernst Fraenkel, der amerikanische Historiker James T. Shotwell sowie der Lektor und Literat Efraim Frisch.
2 Verein für Hamburgische Geschichte (Hrsg.), Carl Melchior – Ein Buch des Gedenkens und der Freundschaft, Tübingen 1967.
3 Shalom Philipson, Von Versailles nach Jerusalem. Dr. Carl Melchior und sein Werk, Jerusalem 1984.
4 Dorothea Hauser / Christoph Kreutzmüller, Carl Melchior. Jüdischer Vorkämpfer eines europäischen Friedens. Katalog zur Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin 17.01.– 30.05.2019, Hamburg 2019.
5 Robert Skidelsky, John Maynard Keynes, Vol. 2, London 1992, S. 116–129.
6 BArch, R43 II/600, Bl. 156–158; Stiftung Warburg Archiv, G-10101k.