Denkt man an Nürnberg, kommen einem unweigerlich zahlreiche Topoi in den Sinn: die berühmten Lebkuchen in den mit Stadtansichten verzierten Blechdosen, Albrecht Dürer Superstar oder am Ende gar die Vereinnahmung Nürnbergs als „deutscher Stadt“ schlechthin durch die nationalsozialistische Propaganda. Die Überhöhung angeblich besonders wichtiger Personen und Zeiten prägt noch heute die (Landes-)Geschichtsschreibung deutschsprachiger Städte. In keiner anderen als Nürnberg wird der Akzent jedoch so sehr im Spätmittelalter gesetzt. Selbst in der Fachhistorie wird das Bild eines von wirtschaftlicher, verfassungsrechtlicher und mentalitätsgeschichtlicher Kontinuität geprägten städtehistorischen Vorbildes immer noch verhältnismäßig unkritisch weitergetragen.
Bei diesem Städtebild-Konstrukt setzt Carla Meyer mit der Hauptthese ihrer Heidelberger Dissertation „Die Stadt als Thema. Nürnbergs Entdeckung in Texten um 1500“ an: Weniger die faktische Bedeutung der Stadt zwischen 1450 und 1550 ist für das Nürnberg-Bild der folgenden Jahrhunderte verantwortlich, sondern der Umstand, dass Kunst und Wissenschaft – allen voran oberdeutsche und italienische Humanisten – die Stadt als Thema für sich entdeckten. Meyer stützt sich dabei vorwiegend auf die literarischen Zeugnisse, ganz im Sinne von Hartmut Boockmann, der ein verstärktes Interesse der Bewohner an ihrer Stadt um 1500 entdeckte, sowie von Frantisek Graus, der hinter diesem Bemühen die Bewusstseinsbildung größerer Gemeinschaften im beginnenden Nationendiskurs verortete.
Der Autorin geht es aber nicht um die diachrone Entwicklung, sondern um einen Längsschnitt durch das multimediale Schaffen in Nürnberg, das schließlich um 1500 zu einem einheitlichen „Image“ der Stadt verschmolz. Die Erkenntnisbasis bilden dabei rund 100 zwischen dem späten 14. und 16. Jahrhundert entstandene Handschriften und Frühdrucke, unter denen Textsorten wie das volkssprachliche Städtelob, die humanistische Städtechronistik, historiografische Werke, politische Ereignisdichtung sowie diverse weitere Text- und Bildsorten figurieren. Ein ambitioniertes Unterfangen, bedenkt man, dass Meyer sowohl die heterogenen Textarten, ihre Autoren, Multiplikatoren und Rezipienten behandelt und die unterschiedlichen Gattungen aus thematischer Perspektive analysiert, als auch Stereotypen, gemeinsame Sujets und genreübergreifende Trends untersucht. Die Studie, die methodisch zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft angesiedelt ist, ist daher in vier Themenbereiche gegliedert: die Stadtchronistik als Identitätserzählung, politische Dichtung und städtisches Image, Nürnberg in Städtelob und Städtebeschreibung sowie die Gegenüberstellung von Goldener Zeit und Krisenzeit.
Der Beginn der detailreichen Untersuchung ist der Begrifflichkeit gewidmet. Ganz in der Tradition Bernd Schneidmüllers und Jan Assmanns versteht Carla Meyer „Identität“ als Produkt zeitgebundener sozialer und politischer Prozesse, die nur aus ihrem Kontext zu deuten sind. Gleichzeitig sieht sie in der „Identität“ aber mehr als ein Abstraktum, denn auch imaginierte Identität hat reale Wirkmacht, was sie anschließend an der Rezeption zeigt, unter anderem als Kritik an den Nürnberger Chronik-Editionen des 19. Jahrhunderts. Gerade diese wurden nämlich als „Identitätserzählung“ kompiliert, damit sie das angeblich stete Ringen der Stadt um Erinnerungshoheit dokumentierten. Dass daraus die falsche Vorstellung entsteht, die gesteigerte Kunst- und Wissenschaftsproduktion um 1500 sei Ausdruck eines besonderen kollektiven Stolzes auf Nürnberg, mag nicht verwundern. Die sozial abgeschlossene Nürnberger Oberschicht hatte schon länger Interesse an der Propagierung eines bestimmten Geschichtsbildes. Anschließend zeigt die Autorin, wie auch das Interesse der Produzenten, die mit den führenden Familien sozial verbunden waren, dieses Geschichtsbild prägt. Zahlreiche der frühen Chronisten waren Losunger, Angehörige der obersten Finanzverwaltung, die den besten Einblick in die pekuniären und rechtlichen Verhältnisse der Einwohnerschaft hatten. Als solche konnten sie gezielt Informationskontrolle betreiben und Identitäten schaffen. In ihren Werken verschmelzen private Historiografie der führenden Familien Nürnbergs und Episoden aus den halböffentlichen Verwaltungsakten. Die Beiläufigkeit des Erzählens über die Stadt wurde erst durch die Humanisten aufgebrochen, so etwa von Sigmund Meisterlin, der in seiner Chronik von 1488 erstmals jene Motive erwähnt, die fortan die hiesige Geschichtsschreibung prägen werden: die Rückführung der Stadtgründung auf Tiberius Nero, die Abwertung der feindlichen Zollern-Dynastie als homines novi sowie die Gleichstellung des hiesigen Patriziats mit dem übrigen Ritteradel.
Der gezielte Anspruch, sich als autonome Reichsstadt in einem feindlich gesinnten, adeligen Umfeld zu positionieren, wird auch aus den folgenden Kapiteln deutlich, welche Carla Meyer den Nürnberg-Bildern in der politischen Ereignisdichtung des 15. und frühen 16. Jahrhunderts widmet, die im Gegensatz zu den verhältnismäßig exklusiven Chroniken als beliebtestes Tagesmedium breiter Bevölkerungssichten galten. Nach einem etwas kurz geratenen Einstieg zur öffentlichen Funktion von Liedern und Reimdichtung geht Meyer auf den Gegensatz Adel – Stadt ein, der hier besonders scharf hervortritt: Während die pro-städtische Dichtung ein überzeichnetes Wir-Gefühl inszeniert, um die eigene Verteidigungshaltung gegenüber dem angeblich unrechtmäßigen Verhalten des lokalen Ritteradels zu rechtfertigen, stellt die adelige, anti-städtische Position diese als gerechtfertigte Selbsthilfe dar. Meyer zeigt aber auch auf, dass diese Positionen vor allem in Konfliktzeiten zutage traten, während im Frieden sogar Loblieder auf den Adel auftauchten. Doch selbst positive Darstellungen wurden nicht immer goutiert, was dem nur schwer kontrollierbaren Medium zuzuschreiben ist.
Im anschließenden, auf Motive fokussierenden Abschnitt widmet sich Meyer der Problematik des Städtelobes als Gesamtdarstellung der Stadt – die in den zeitgenössischen Werken stets eine Gratwanderung zwischen topischem Anspruch und realer Augenzeugenschaft waren. Auch wenn älteste Überlegungen zu Nürnberg als verfassungsrechtliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Vorbildstadt von auswärtigen Verfassern stammen, ist hier offensichtlich erst die Verschmelzung der volkssprachlichen Rezeption – allen voran der Werke Hans Rosenplüts – mit humanistischen Vorstellungen in den 1480er-Jahren für die Entstehung des städtischen Images ausschlaggebend. Hierbei fallen nicht nur Namen wie etwa Conrad Celtis oder Hartmann Schedel, sondern auch jener Enea Silvio Piccolominis. Alle setzten erstmals Stadtbeschreibung und Stadtgeschichte in Bezug zu gegenwärtigen Ereignissen. Herauszuheben sind Motive wie etwa die Beschreibung Nürnbergs durch den Charakter seiner Bewohner, die Celtis als „charmante Schlawiner“ bezeichnet. Oder die Betonung der Stadt als geografisch-politisches Zentrum des Reiches, ganz in Analogie zu Rom. Eobanus Hessus fügt in den 1530er-Jahren noch die ästhetische Erscheinung gewisser städtischer Bauwerke an: Dies ist nicht verwunderlich, kann man doch bereits zu Beginn des 16. Jahrhunderts den Reiseberichten diverser italienischer Gesandter entnehmen, dass ein frühtouristischer Kursus an Sehenswürdigkeiten bestand, den die Nürnberger Obrigkeit ihren Gästen zukommen ließ.
Angesichts der vorherrschenden Forschungsmeinung, dass solche Kodifizierungen vor allem der Herrschaftssicherung und Herrschaftsvergewisserung dienten, widmet Carla Meyer den abschließenden Teil ihrer Arbeit der Frage, ob die Entstehung der Nürnberger Identität in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhundert als Produkt struktureller Krisen angesehen werden kann. Im Falle Nürnbergs trifft dies nur bedingt zu, da gerade das Städtelob eine „Erfolgsstory“ dokumentiert. So evozierte Nürnbergs neutrale Stellung im oberdeutschen Städtekrieg verstärkt die Identitätsbildung von außen, die gleichzeitig auch das Bild der Einheit von Stadt und Reich hervorbrachte – unabhängig vom Umstand, dass das Interesse der Kaiser und Könige an der Stadt seit Ludwig dem Bayern stetig abgenommen hatte. Weder die Reichskleinodien, die Kaiser Sigmund 1424 der Stadt zur Aufbewahrung zurückgegeben hatte, noch die hier abgehaltenen Reichstage hatten allerdings auf die Identitätsbilder Einfluss.
Gleiches galt offensichtlich auch für innere Konfliktherde: Weder die durch eine straffe Handels- und Gewerbeverfassung sowie Strafgerichtsbarkeit disziplinierte Stadtbevölkerung konnte das Regiment gefährden, noch die sozialen Emporkömmlinge aus der Kaufmannschaft, sondern einzig und allein der Umstand, dass alteingesessene Familien sich die Rechte und Gebiete des umliegenden Niederadels einverleibten und dadurch die Zerschlagung alter Solidaritäten in Kauf nahmen.
Angesichts der Fülle an Detailbetrachtungen und Ergebnissen, die Carla Meyer auf über 480 Seiten eloquent präsentiert, kann die vorliegende knappe Darstellung nur den Grundzügen gerecht werden. Gleichwohl wird man beim Lesen den Eindruck nicht los, dass die wirklich innovativen Leistungen der Autorin in dieser Materialfülle nicht die Wirkung entfalten können, die ihnen zustehen. Andererseits sind es gerade diese Eigenschaften – im Haupttext wie im akribischen Anmerkungsapparat –, die das Werk weit über den Status einer Regionalstudie erheben. Insofern ist es Landesgeschichte im besten Sinne.